17.12.2021
Gefährliche Proteste?
Von Bernd Schoepe
Auf der Corona-Demonstration in Hamburg am vergangenen Samstag waren besorgte Rufe aus der ausgeschlossenen Mitte der Gesellschaft zu hören, die man nicht dämonisieren sollte.
Erstaunlicherweise ist die Freie und Hansestadt Hamburg zum Zentrum der Proteste gegen die Coronapolitik und die angekündigte Impfpflicht geworden. Die seit dem Frühherbst in Hamburg regelmäßig stattfindenden Demonstrationen, die ihren Ausgangspunkt an der Kunsthalle nahmen, fingen klein an: Noch im November demonstrierten lediglich rund 300 Personen in der Hansestadt gegen die Maßnahmen. Bei den Demonstrationen am 4. und jetzt am 11.12. sind Tausende friedlich durch die Innenstadtbereiche vom Hauptbahnhof über den Gänsemarkt, einen Teil des Jungfernstieges und den Ballindamm gezogen. Die Polizei spricht von 8000, die Veranstalter von 13.000 Teilnehmern.
Dies mag damit zu tun haben, dass andere Städte bzw. Bundesländer einen weitaus rigideren Kurs gegenüber Demonstrationen von Coronamaßnahmen-Kritikern fahren. So verbietet Berlin regelmäßig nahezu alle angemeldeten Demonstrationen, in Sachsen sind nur ortsfeste Kundgebungen mit höchstens zehn Teilnehmern erlaubt. Die Versammlungsfreiheit, ein hohes Gut in der Demokratie, wird aus Gründen des Infektionsschutzes ausgesetzt, Kritiker behaupten: ausgehebelt. Die Begründungen für die Verbote sind immer die gleichen: Da sich die Demonstranten, die in den Mainstream-Medien fast immer als „Querdenker“ bezeichnet werden, „mit großer Wahrscheinlichkeit“ nicht an die Hygiene-und Schutzmaßnahmen – vor allem an das Abstandsgebot – halten würden, müssten aus Gründen des Gesundheitsschutzes und der öffentlichen Sicherheit solche Demonstrationen untersagt werden.
Nachdem ich von dem deutlich gestiegenen Zuspruch der Demonstrationen in den letzten Wochen gehört hatte, habe ich mich als Bürger, der keiner politischen Partei und politischen Bewegung angehört, der aber seit seinen Berufsanfängen Mitglied der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) ist und für seine Gewerkschaft zeitweilig der Hamburger Lehrerkammer angehörte, am Samstag aufgemacht, um mir ein eigenes Bild von den Protesten zu machen.
Probleme werden ignoriert
Im Frühjahr schrieb ich mit meinem Kollegen Finn Jagow zusammen zwei Artikel auf der Basis einer kleinen Untersuchung, die wir an unseren Schulen zu den Auswirkungen der Corona-Lockdowns auf die Lebens- und Lernsituationen unserer Schülerinnen und Schüler durchgeführt hatten. Die uns erschütternden Ergebnisse (90 Prozent unserer Schülerinnen und Schüler gaben an, von der Situation monatelang geschlossener Schulen und dem Homeschooling belastet oder sehr belastet zu sein) sind u.a. in der Hamburger Lehrer-Zeitung (hlz) veröffentlicht worden.
Obwohl wir nach der Veröffentlichung unserer Untersuchung und Texte sowohl zu den Gewerkschaften als auch den Parteien in Hamburg selbst Kontakt gesucht hatten, sind sie von gewerkschaftlicher wie politischer Seite völlig unbeachtet geblieben. Wenn ich daran denke, wie sehr sich seitdem das Wissen um die katastrophalen Folgen der beiden Schul-Lockdowns und den weiteren Einschränkungen des normalen Schullebens für die junge Generation verdichtet und erhärtet hat – was sich alles, wie man heute sagen muss, auch schon in den Befunden unserer Studie stichprobenartig abzeichnete – komme ich nicht umhin, diese Ignoranz und dieses Wegsehen als beschämend zu empfinden.
„Die Haltung der Politik und der Mainstream-Medien, differenziertere Einschätzungen über die Gefahren des Sars-Cov-2-Virus, die nicht in deren eigenes eindimensionales Narrativ passen, zu ignorieren und abzuwerten erachte ich in einer offenen, pluralistisch-demokratischen Gesellschaft sowohl für unangemessen wie für dysfunktional.“
Die Haltung der Politik und der Mainstream-Medien, differenziertere Einschätzungen über die Gefahren des Sars-Cov-2-Virus, die nicht in deren eigenes eindimensionales Narrativ passen, zu ignorieren und abzuwerten und die zumindest teilweise berechtigte Kritik an Maßnahmen gegen die Covid-19-Pandemie mit der Diskreditierung und Diffamierung jener Wissenschaftler, Ärzte, Publizisten und Bürger die sie äußern, zu beantworten, erachte ich in einer offenen, pluralistisch-demokratischen Gesellschaft sowohl für unangemessen wie für dysfunktional. Jedenfalls dürfte sie dann dysfunktional, ja kontraproduktiv zu nennen sein, wenn es wirklich um die Entwicklung lösungsorientierter Ansätze für die Pandemie und ihrer keineswegs nur medizinischen Folgen gehen sollte. Übrigens ist diese offene, demokratisch-pluralistische Gesellschaft – und das sollte nicht vergessen werden – ja auch jene Gesellschaft, für die ich meine Schüler bilden und erziehen soll!
Da ich also aus eigenem Erleben weiß, wie schwer es ist, mit rational-abwägenden Argumenten innerhalb dieses aufgeheizten gesellschaftlichen Ausnahmezustandes durchzudringen, hat es mich durchaus interessiert und gereizt, mir einen eigenen Eindruck von den Demonstranten und ihrem Auftreten sowie den Botschaften, die an diesem Nachmittag von Hamburg ausgehen, zu machen.
Vorab: Dass trotz der zunehmenden pauschalen Verunglimpfungen, denen Menschen, die um ihre Freiheiten und die Gesundheit und Zukunft ihrer Kinder besorgt sind, in den öffentlich-rechtlichen Medien (für die diese Menschen auch ihre Beiträge leisten) ausgesetzt sind, sich so viele dennoch nicht davon abhalten ließen, für ihre Meinung auf die Straße zu gehen, finde ich schon bemerkenswert.
Die intellektuelle Redlichkeit gebietet es, dass natürlich jeder sich – und damit auch ich mich – grundsätzlich immer wieder selbst prüfen sollte, ob seine Urteile der Realität standhalten oder nicht vielmehr im Lichte gesellschaftlicher Empirie falsifiziert werden. Vielleicht irre ich mich ja in meiner Einschätzung und die Demonstrationen gegen die Coronapolitik der alten und neuen Bundesregierung sind wirklich ein Sammelbecken von Rechtsextremen, Verschwörungsideologen, Reichsbürgern, Identitären, Antisemiten und Linksesoterikern – so jedenfalls der Befund einer Sendung der Deutschen Welle mit dem Titel: „Wie rechtsextrem ist die Szene der Coronaleugner und Querdenker?“
Die Demo zieht los
Vor diesem Hintergrund hier nun das Protokoll meiner Eindrücke von der Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen am 11. Dezember 2021 in Hamburg:
14.20 Uhr: Nach Ankunft auf dem Sammlungsplatz für die Demonstration, bin ich überrascht, wie wenig Menschen sich dort bislang eingefunden haben. Erst kurz vor dem offiziellen Beginn des Protestzuges um 15.00 Uhr füllt sich der Platz vor der Hamburger Kunsthalle. Überrascht werde ich auch durch die sehr kurzen Reden, die sich weitgehend auf Organisatorisches beschränken. Inhaltlich fallen mir zwei Akzente auf:
- Es wird von dem Redner auf die gute Zusammenarbeit mit der Hamburger Polizei verwiesen und die Demonstrierenden nachdrücklich darum gebeten, den Anweisungen der Polizei Folge zu leisten und jede Provokation gegenüber Andersdenkenden zu unterlassen. Auch später während der Demo wird über Megafon noch einmal der Polizei gedankt dafür, „dass sie uns so gut beschützt“. Ich empfinde das als ein sehr positives Signal, das die Veranstalter damit gegen eine weitere Spaltung der Gesellschaft durch die Coronapolitik setzen.
- Der Redner sagt ausdrücklich: „Wer es immer noch nicht weiß: Wir sind keine Nazis!“ und zählt unter dem Jubel und Beifall der Menge Teilnehmer aus vielerlei Nationen auf, die sich an dieser Demo beteiligen und die auch mit ihren Landesfahnen (die ich gar nicht alle kenne!) dabei sind.
„Mein soziologischer Blick sagt mir: Dies ist ein Protest aus der Mitte der Gesellschaft.“
Mein erster Eindruck von den Leuten, die sich hier zusammengefunden haben, bevor es auch schon kurz nach 15 Uhr losgeht: Ein bunter Haufen ‚normaler Mitbürger‘, ein Querschnitt der Bevölkerung, wie man ihn in öffentlichen Verkehrsmitteln, in Hotels oder Fußgängerzonen antrifft – ein paar exzentrische Typen oder Käuze sind da immer mit eingeschlossen! Mein soziologischer Blick sagt mir: Dies ist ein Protest aus der Mitte der Gesellschaft. Aber warten wir einmal ab, ob unter dieser Oberfläche bei näherem Hinsehen die Signalements und Symboliken der „rechten Wutbürger“ und „gefährlichen Verschwörungsschwurbler“ nicht noch sichtbar werden.
Überwiegend ein Publikum im Alter von 30+, eigentlich fehlen nur Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 12 und 25 Jahren (allerdings sehe ich später, zum Ende der Demo hin, einen ganzen Block an Jüngeren, die mit lauter, gut tanzbarer Musik ansteckende Partystimmung verbreiten).
Auffällig das Fehlen von Parteiemblemen – mit Ausnahme der „Basis“, die allerdings recht stark vertreten scheint. Auch während des Demozuges bekomme ich kein einziges Plakat der AfD oder Plakate mit völkisch-nationalen Inhalten zu Gesicht. Herr Gates scheint keine größere Rolle für die Protestierenden zu spielen. „Great Reset stoppen!“ lese ich einmal. Da ich schon des Öfteren auf Demonstrationen gewesen bin, kann ich vergleichen: Frappierend für mich ist, dass es – außer von der „Basis“ – fast gar keine Meinungsbekundungen offizieller Organisationen (oder deren Untergruppen) gibt, stattdessen viele selbstgebastelte Schilder, oft mit originellen („Hier ist Deine rote Linie, Olaf Scholz!“) – Aufschriften. Ich lese wenig „Geschwurbel“, sondern eher Zitate, die zum Nachdenken anregen sollen, wie diese: „Ich fürchte mich nicht vor der Wiederkehr der Faschisten in der Maske der Faschisten, sondern in der Maske der Demokraten“ (Theodor W. Adorno) oder: „Wer bereit ist, die Freiheit für die Sicherheit zu opfern, wird am Ende beides verlieren“ (Benjamin Franklin). Oder der wohl irrig Sophie Scholl zugeschriebenen Satz: „Der größte Schaden entsteht durch die schweigende Mehrheit, die nur überleben will, sich fügt und alles mitmacht.“
Querdenker und Covidioten?
Mit meinem Demo-Begleiter diskutiere ich über die Beobachtung, warum so wenige Deutschland-Fahnen zu sehen sind. Ich dachte, die „Querdenker“ bewegten sich in einem deutsch-nationalen Milieu? Eher sehe ich hier noch Jesus angerufen. Aber vielleicht sind es ja gar keine „Querdenker“, die sich hier zuhauf auf den Weg durch die weihnachtlich geschmückte Innenstadt gemacht haben. Wir ventilieren ein, zwei Momente lang den Gedanken, dass die „Querdenker-Bewegung“ vielleicht doch eher ein massenmediales Produkt ist, dem nun jede kritische Stimme gegen die „alternativlos“ auftretende Coronapolitik reflexartig-stereotyp zugeordnet wird. Persönlich habe ich übrigens gar nichts dagegen, als Querdenker bezeichnet oder charakterisiert, wohl aber hätte ich etwas dagegen als „Querdenker“ beschimpft und kriminalisiert zu werden.
Ich frage mich ohnehin, wie der Ausdruck, der vor Beginn der Coronazeit ja noch positiv konnotiert war, mittels welcher Propaganda eigentlich so schnell einen solch negativen Bedeutungswandel durchgemacht hat? Jedenfalls höre ich aus den Gesprächen, die ich unterwegs mit verschiedenen Teilnehmern führen kann, sehr wohl unterschiedliche Beweggründe für den Protest heraus und mir begegnen durchaus breit gestreute politische Denkweisen und Statements, die sich nicht einfach so über einen groben Leisten schlagen lassen. Das hier Artikulierte erscheint mir jedenfalls facettenreicher zu sein als das, was ich von den hundertprozentigen Vertretern und Verteidigern der Regierungslinie in puncto Corona zu hören gewohnt bin.
„Während des Protestzuges, fällt mir dann immer wieder die rücksichtsvolle Art des Umgangs untereinander und die freundliche, ja gelöste Atmosphäre auf.“
Viele hier glauben aber dem staatlich angeordneten Narrativ nicht mehr, und auf diese Gemeinsamkeit und ihre Gründe wird am Ende meines Berichtes noch einmal zurückzukommen sein. Doch reicht dies alleine aus, um sie als „Covidioten“ und „Verschwörungsideologen“ abzustempeln?
Während des Protestzuges, bei dem sich die Polizei angenehm zurückhält, fällt mir dann immer wieder die rücksichtsvolle Art des Umgangs untereinander und die freundliche, ja gelöste Atmosphäre auf. Und das, obwohl viele Nicht-Geimpfte ja derzeit mit einem ungeheuren Druck aus der Mehrheitsgesellschaft konfrontiert sind, der laut der Vorsitzenden der Ethik-Kommission zum Dienste der Volksgesundheit ja noch weiter „hocheskaliert“ werden soll. Abgesehen davon, laufen keineswegs nur Nicht-Geimpfte mit. So sehe ich ein Plakat: „Nur zwei Mal impfen… – So sind wir belogen worden!“ und „Solidarität mit den Nicht-Geimpften“. Immer mal wieder wird „Frieden, Freiheit, Selbstbestimmung“ gerufen. Überhaupt bekomme ich den Eindruck, dass der Frieden und die Friedfertigkeit vielen ein besonders wichtiges Anliegen ist, denn die Chöre bekommen nie die akustische Militanz wie sie verbohrten ideologischen Parteigängern eigen wären, wenn sie Losungen skandieren würden. Vielleicht vermissen sie genau dieses in dem heutigen gesellschaftlichen Klima, das heißt, eigentlich fehlt es uns allen ja besonders in diesen Tagen an Frieden und Friedfertigkeit, aber viele von denen, die bei Temperaturen knapp über 0 Grad heute hier in zweieinhalb Stunden die Alster umrunden, spüren es offenbar auf eine Weise, die sie nicht mehr still zu Hause sitzen lässt, sondern zur Aktion drängt.
Nur an einer Stelle findet eine Trübung des fast schon zu harmonischen Bildes statt, das diese Protestaktion bietet. An der Ecke Stephansplatz steht eine Gruppe von ca. 40-60 Gegenprotestlern, leicht zu erkennen an ihrer aggressiven, Angriff simulierenden Imponierhaltung und ihrem paramilitärisch-martialischem Outfit. Sie erinnern mich eher an den „Schwarzen Block“ früherer Demonstrationserlebnisse. Sie wirken mit dieser aufgesetzten, etwas dick aufgetragenen Choreographie aus Gewalt und ihrer spätpubertären Verherrlichung noch seltsamer und deplatzierter angesichts dieses bürgerlichen Demonstrationszuges, den ich persönlich eher mit Mahatma Gandhis Friedensmärschen assoziieren würde als mit dem, was das ZDF erst kürzlich als „gefährliche Radikalisierung der Maßnahmen-und Impfgegner“ bezeichnet hat.
Die fehlende Differenzierung, die schon bei der Sachdebatte um die gesamtgesellschaftliche Abwägung der Pandemiegefahren und den Kollateralschäden, die aus einer wenig sachgemäßen Behandlung dieser Gefahren erwachsen, zu konstatieren war, scheint sich im Umgang mit den Regierungskritikern zu wiederholen. Das Redaktionsnetzwerk Deutschland, dessen Texte in allen regionalen und überregionalen Tageszeitungen erscheinen bzw. übernommen werden, schreibt am 10. Dezember: „Die Proteste gegen die Maßnahmen und Impfungen werden immer aggressiver.“ Das RND berichtet dann am 12. Dezember auf über 200 Zeilen über die Corona-Proteste in Deutschland und ganz am Schluss von der Groß-Demo in Wien, ebenfalls am Samstag. Der mit Abstand größten und absolut friedlich verlaufende Demonstration in Hamburg war dem RND in dem Artikel ganze viereinhalb Zeilen wert.
Antifa-Farce
Zurück zur Szene, die mich dort an der Ecke Dammtordamm/Stephansplatz erwartet: Ein großes Aufgebot an Polizisten soll Anhänger des Gegenprotestes vor den Demonstranten – und umgekehrt – schützen. Im Vergleich zu Videoaufnahmen, die ich von anderen „einschlägigen“ Demonstrationen in jüngster Zeit gesehen habe, hält sich die für meine Erwartungen sehr kleine Gruppe überraschend zurück und wirkt auf mich irgendwie gehemmt. Außer den wohl üblichen unflätigen Handzeichen und schlecht lesbaren Plakaten mit den üblichen „Fck-Nazis“-Sprüchen – auch das ihre vorbildliche antifaschistische Gesinnung beweisende Schild „Wir impfen euch alle!“ darf nicht fehlen – kommt wenig herüber.
„Wir sehen vorne keinen Anfang mehr und hinten, auch nach ein paar Minuten Verweilzeit am Rand, ist das Ende noch nicht zu erkennen.“
Vielleicht ist sie ja selbst über die Anzahl der Demonstranten so erstaunt, dass ihnen dadurch etwas vom kämpferischen Elan abhandenkommt und ihre Posen nicht durchschlagen. Ich frage derweil meinen Begleiter, was gestandene Antifaschisten, die ihre Freiheit und ihr Leben eingesetzt haben, um der Gewalt und Willkür der autoritären Regime und totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts zu widerstehen, zu diesen ihren jungen, in paramilitärische Kluft gehüllten, vollmaskierten ‚Wiedergängern‘ sagen würden? Wie würden sie deren Mission kommentieren, Menschen niederzumachen, die für den Erhalt jener Rechte auf die Straße gehen (denn es ist ein Faktum, das – zuletzt im November 2021 – Grundrechte wie das Recht auf körperliche Unversehrtheit, der Freiheit der Person, der Versammlungsfreiheit, der Freizügigkeit und der Unverletzlichkeit der Wohnung durch die Coronapolitik eingeschränkt worden sind), für die sie selbst gekämpft und wofür Tausende ihrer Brüder und Schwestern ihr Leben geopfert haben? Mir selbst fällt die Eingangsbemerkung aus dem „achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte“ von Karl Marx dazu ein:
„Hegel bemerkt irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als große Tragödie, das andre Mal als lumpige Farce.“
Hundert Meter weiter treten wir zur Seite, wir wollen uns einen Überblick über die Länge des Zuges verschaffen: Wir sehen vorne keinen Anfang mehr und hinten, auch nach ein paar Minuten Verweilzeit am Rand, ist das Ende noch nicht zu erkennen. Es müssen sich seit Beginn des Protestmarsches noch viele weitere angeschlossen haben, vielleicht wird man durch veröffentlichte Luftaufnahmen später noch einmal besser sehen können, zu welcher Länge der Zug angewachsen ist.
Demokratiekrise
An der Ecke Jungfernstieg werde ich noch einmal überrascht und enttäuscht. Nachdem ich mir vor meiner teilnehmenden Beobachtung kurze Mitschnitte der Kundgebungsreden vom letzten Wochenende angeschaut hatte, war ich davon ausgegangen, dass wir jetzt dort noch eine oder mehrere Reden hören, um der Kritik und den Forderungen der Demonstranten öffentliches Gehör zu verschaffen. Doch der Zug passiert die Uferanlagen in Nähe des Café Alsterpavillon und biegt in den neuen Jungfernstieg ab. Es kann sein, dass aufgrund von Sicherheitsbedenken der Hamburger Polizei die Kundgebung kurzzeitig abgesagt werden musste, da die Initiatoren offenbar viel weniger Teilnehmer angemeldet hatten. Persönlich finde ich es sehr schade, weil ich so keine Gelegenheit bekomme, mir auch über die Reden und Redner eine Meinung bilden zu können.
Gegen 17.30 Uhr hat die Demospitze ihren Ausgangspunkt wieder erreicht. Inzwischen habe ich kalte Füße und bin vom Gehen etwas lahm. Mein Eindruck: Von den Bildern und Erzählungen der Massenmedien und der ‚amtlichen‘ Politik über die Maßnahmen- und Impfkritiker, ist mir hier heute so gut wie nichts begegnet. Ich sah Leute ‚wie du und ich‘ und konnte kaum ideologisch-politisch zugespitzte Positionen und deren Bannerträger unter der Menge ausmachen. Weder „Gefahr“ noch „Aggression“ vermochte ich zu lokalisieren, nicht einmal real in der Begegnung mit der „Antifa“. Mag natürlich sein, dass der Staatsschutz, der ja, wie ich heute las, seine Beobachtungen dieser „Szene“ nach diesem Wochenende „intensiviert“ hat, über andere Erkenntnisse verfügt.
„Ob es opportun ist, Kritiker im Namen des Infektionsschutzes mundtot zu machen? Klug scheint es mir nicht zu sein.“
Ich habe allerdings das ungute Gefühl, dass hier versucht wird, einen Protest aus der (enttäuschten? abgehängten? ausgeschlossenen?) Mitte der Gesellschaft, der von einer tiefen Entfremdung eines Teils der Bevölkerung (der meiner Ansicht nach weit über das heute sich hier Manifestierende hinaus geht) gegenüber der politischen Klasse zeugt, mit inadäquaten Mitteln ‚zur Raison‘ bringen zu wollen. Ob es opportun ist, Kritiker im Namen des Infektionsschutzes mundtot zu machen? Klug scheint es mir nicht zu sein. Dass für einen Teil der Bevölkerung, der keine quantité négligeable darstellt, das staatliche Handeln inzwischen ein großes Glaubwürdigkeits- und Legitimationsproblem hat, scheint mir unabweisbar. Das sollte alle beunruhigen. Dass die politischen Akteure durch ihr eigenes, fortgesetzt inkonsistentes und erkennbar wenig dem Gemeinwohl verpflichtetes Handeln (Stichworte: Nutzen der Masken und die Korruptionsfälle bei ihrer Beschaffung, unverantwortliche Angst- und Panikmache, Validität der Tests, Wirksamkeit von Lockdowns, Schutz der vulnerablen Gruppen, Impfwirksamkeit, Sicherheit der mRNA-Impfstoffe, Impfhaftung, Intensivbettenabbau, Pflegenotstand) dieses Legitimationsproblem erst geschaffen haben und weiter verschärfen, verschlimmert die Lage allgemein.
Wenn die Politik jetzt dazu übergehen sollte, den „gemeinen Mann“ und die „gemeine Frau“, die ihm aus Gründen dieses Staatsversagens kein Vertrauen mehr entgegenbringen und ein Ende dieser Politik fordern, gesellschaftlich ganz ausgrenzen und womöglich kriminalisieren zu wollen, ist sie alles andere als gut beraten. Dann läuft das Ganze (blinden oder sehenden Auges) auf eine Staats-und Demokratiekrise hinaus, von der wir uns so schnell nicht wieder erholen werden. Sie droht dann viele Menschen erst in die Arme der Demokratieverächter und Feinde der offenen Gesellschaft treiben.
Solange die Politik sich beharrlich weigert, selbstkritisch eigene Fehler im Krisenmanagement zuzugestehen und aufzuarbeiten und stattdessen einen Teil der Bevölkerung zum Sündenbock ihres Versagens macht und solange die Massenmedien ihrer Aufgabe nicht nachkommen, einen Dialog zu moderieren, um die sich verhärtenden Fronten endlich abzubauen und für verbale Abrüstung auf beiden Seiten zu sorgen, wird der Demokratie und der offenen Gesellschaft weiter ein denkbar schlechter Dienst geleistet.