09.12.2021

Der Tod des liberalen Europas

Von Brendan O’Neill

Titelbild

Foto: Ivan Radic via Flickr / CC BY 2.0

Mit der Corona-Impflicht wird die liberale Epoche der europäischen Geschichte gewaltsam beendet und eine neue, zutiefst autoritäre Ära eingeläutet.

Europa steht am Abgrund. Der Kontinent marschiert blindlings auf etwas zu, das einer Tyrannei sehr nahe kommt. Österreich wird in Kürze diejenigen kriminalisieren, die den Covid-Impfstoff verweigern. Deutschland wird wohl folgen. Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission, denkt laut darüber nach, ob nicht alle Mitgliedstaaten das Gleiche tun und diejenigen zu Straftätern erklären sollten, die diese Art von Medikamenten ablehnen. In Italien wird man eher seiner Existenzgrundlage als seiner Freiheit beraubt, wenn man sich der Impfung verweigert: Wer nicht geimpft ist, darf nicht arbeiten. Überall. In Griechenland muss jeder, der über 60 Jahre alt ist, für jeden Monat, in dem er nicht geimpft ist, 100 Euro an den Staat zahlen. Als ob die griechische Regierung, die mit ihren Herren in Brüssel unter einer Decke steckt, die griechischen Rentner nicht schon genug in den Ruin getrieben hätte.

In Rotterdam eröffnete die Polizei das Feuer auf Menschen, die gegen Covid-Beschränkungen protestierten. Drei Personen wurden dabei schwer verletzt. Die österreichische Polizei ging mit Schlagstöcken gegen Tausende von Menschen vor, die in Wien gegen die Impfpflicht protestierten. In Brüssel, dem dunklen, bürokratischen Herzen des EU-Projekts, wurden Wasserwerfer und Tränengas auf Bürger losgelassen, die sich gegen sogenannte Grüne Pässe wehrten. Die Ironie ist kaum zu fassen: Im europäischen Viertel von Brüssel, dem Teil Europas, in dem das moderne europäische Gewissen von Politikern, Experten und Technokraten geschmiedet wurde, setzen sich einfache Menschen für die Freiheit ein und werden von den Kräften dieses angeblich liberalen neuen Kontinents niedergeschlagen. Selten wurde das Geschwätz des zeitgenössischen Europas von „Menschenrechten“ und „Respekt“ so schonungslos entlarvt.

„Wir erleben eine beängstigende Neugestaltung des gesamten Verhältnisses zwischen Staat und Individuum.“

Was derzeit in Europa geschieht, ist zutiefst erschreckend: Wir sind nicht nur Zeugen einer weiteren Runde von Covid-Beschränkungen. Es handelt sich nicht allein um die Einführung einer weiteren Reihe von Notfallmaßnahmen, die einige Leute für notwendig halten, um die jüngste Covid-Welle und die am Horizont lauernde Omicron-Bedrohung abzuwehren. Nein, wir erleben eine beängstigende Neugestaltung des gesamten Verhältnisses zwischen Staat und Individuum – wobei der Staat in einem höchst außergewöhnlichen Maße ermächtigt wird. Fortan kann er seinen Bürgern vorschreiben, was sie sich injizieren sollen. Das Individuum wird politisch so ausgezehrt und seiner Rechte beraubt, dass es nicht einmal mehr die Souveränität über sich selbst genießt, über den winzigen Teil der Welt, der sein eigener Körper und Geist ist. Wir sind Zeugen des gewaltsamen Todes des europäischen Liberalismus und der Geburtswehen einer neuen und zutiefst autoritären Ära.

Viele scheinen nicht zu realisieren, welch schwerwiegende Entwicklung die Impfpflicht darstellt. Selbst die Impfbefürworter unter uns, die zufrieden mit ihrer Entscheidung sind, gegen Covid-19 geimpft worden zu sein, sollten mit nichts weniger als Entsetzen auf den Vorschlag blicken, dass es eine Straftat werden soll, sich nicht impfen zu lassen; dass ein Bürger mit Tausenden von Euro bestraft werden kann, wenn er diese Behandlung verweigert. Eine der Ideen, die in Österreich im Vorfeld des im Februar in Kraft tretenden Impfgesetzes diskutiert wurde, sieht vor, dass Bürger, die die Impfung verweigern, vor ein Amtsgericht geladen werden. Wenn sie die Vorladung zweimal ignorieren, müssen sie mit einer Geldstrafe von 3600 Euro rechnen. Wenn sie die staatliche Forderung nach einer medizinischen Behandlung, die sie nicht wollen, weiterhin ignorieren, werden sie mit einer Geldstrafe von 7200 Euro belegt werden. Das sind lebensbedrohliche Geldstrafen. Von einer Inhaftierung von Impfverweigerern ist – noch – nicht die Rede, aber der österreichische Staat macht unmissverständlich klar, dass er seine Macht gerne dazu nutzen wird, Impfverweigerer in den finanziellen Ruin zu treiben.

Deutschland hat bereits einen Lockdown für Ungeimpfte durchgesetzt – das heißt, es hat die volle Kraft des Gesetzes eingesetzt, um die Bevölkerung in diejenigen zu spalten, die die „richtige“ medizinische Entscheidung getroffen haben – und daher ein paar Krümel Freiheit genießen dürfen – und in diejenigen, die dies nicht getan haben und daher nichts weniger als Hausarrest verdienen. Nun sagt die scheidende Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass die Impfpflicht wahrscheinlich Anfang nächsten Jahres eingeführt werden wird. Ursula von der Leyen scheint der Meinung zu sein, dass jeder EU-Mitgliedstaat seinen Bürgern die Impfung aufzwingen sollte. Wie sichergestellt werden kann, dass jeder geimpft wird, „muss diskutiert werden“, sagte sie kürzlich. Wir müssten „möglicherweise über eine Impfpflicht nachdenken“, fuhr sie fort. Die 500 Millionen Einwohner der Europäischen Union, dieser vermeintlichen Bastion der Menschenrechte, dieser politischen Union, von der uns gesagt wurde, sie sei notwendig, um die Würde und Freiheit des modernen Europäers zu bewahren, dürfen sich auf ein neo-imperiales Diktat freuen, das ihnen vorschreibt, sich auf eine bestimmte Weise medizinisch behandeln zu lassen. Wer sich nicht beugt, dem sollen schwerwiegende Konsequenzen drohen.

„Dies bedeutet das Ende der Freiheit, wie wir sie kennen.“

Wir unterschätzen auf eigene Gefahr, was für einen schwerwiegenden Angriff auf das Persönlichkeitsrecht die Impfpflicht darstellt. Meiner Meinung nach ist die Impfpflicht eine derartige Obszönität, dass selbst die Zusicherung des britischen Justizministers Dominic Raab, im Vereinigten Königreich werde es nicht dazu kommen, für meinen Geschmack viel zu lasch ist. Er glaube nicht, dass es in Großbritannien so etwas geben werde, sagte er. Raab hätte sagen sollen, dass so etwas nur über seine Leiche eingeführt werden könne. Er hätte sagen müssen, dass es diese Impfpflicht nicht geben wird, weil sie einen unerträglichen Angriff auf die von der Aufklärung abgeleiteten Freiheiten darstellen würde – Freiheiten, auf denen unsere Nation aufgebaut ist.

Viele Kommentatoren haben bemerkt, dass die Impfpflicht gegen den Nürnberger Kodex verstößt, der darauf besteht, dass medizinische Eingriffe nur mit freiwilliger Zustimmung erfolgen dürfen. Aber das Ideal der individuellen Selbstbestimmung geht noch viel weiter zurück. In seinem „Letter Concerning Toleration“ von 1689 versuchte der große Aufklärungsphilosoph John Locke, die Grenzen zwischen dem Einzelnen und der Obrigkeit zu klären. Er schrieb, dass selbst wenn ein Mensch die Pflege seiner Seele vernachlässige oder die Pflege seiner Gesundheit, die Obrigkeit kein Recht habe, sich in seine Souveränität einzumischen. Kein Mensch kann gezwungen werden, gesund zu sein, schrieb er.

Für Locke wie auch für andere große europäische Denker, deren Ideen unseren aufgeklärten Kontinent geprägt haben, war der Wunsch, einen Menschen zu „retten“, kein ausreichender Grund, sich in seine Seele oder seinen Körper einzumischen. Gott selbst wird die Menschen nicht gegen ihren Willen retten, schrieb er. Doch wo Gott einst versagte, hofft nun die EU auf Erfolg! Wo selbst der Allmächtige einst vorsichtig trat, weil er durch die Kleinigkeit des menschlichen Willens, des Rechts des Menschen, über seine Seele und seinen Körper selbst zu bestimmen, zurückgehalten wurde, werden sich nun die Bürokratien des zeitgenössischen Europas hineindrängen. Sie werden die scheinbar unbedeutende Angelegenheit der körperlichen Autonomie beiseiteschieben, sie werden die über Generationen hinweg hart erkämpften Rechte der Selbstverwaltung über Bord werfen und die Menschen durch brutale Gesetze dazu bringen, sich medizinischen Eingriffen zu unterwerfen.

„Die Neudefinition von ‚Freiheit‘, die die Freiheit von der Unterwerfung unter die Medizin abhängig macht, wird die Rechte von uns allen beschneiden – Geimpfte und Ungeimpfte gleichermaßen.“

Dies bedeutet das Ende der Freiheit, wie wir sie kennen. Die körperliche Autonomie ist der Grundstein der Selbstbestimmung, und die Selbstbestimmung ist das, was der Freiheit einen Sinn gibt. Wenn wir keine Souveränität über unseren Geist und unser Fleisch haben, dann sind wir in keiner Weise wirklich frei. Und es wird nicht nur die Minderheit der Menschen sein, die sich gezwungen fühlen, sich impfen zu lassen, deren Freiheit unter diesem neuen Regime staatlicher Macht – Macht über die Blutströme, die Muskeln und das Fleisch der Menschen – leiden wird. Die Freiheit aller wird darunter leiden. Das staatliche Diktat, das festlegt, dass nur diejenigen, die einer bestimmten Form der medizinischen Behandlung einwilligen, in den Genuss der Freiheit kommen, wird die Freiheit prinzipiell davon abhängig machen, dass man das tut, was der Staat von einem verlangt.

Selbst die Geimpften werden in dieser Welt keine wirklich freien Menschen sein. Wir werden vielmehr nur die Empfänger staatlicher Gunst sein, die in den Genuss kleiner Privilegien kommen, wenn wir uns bereit erklären, eine Spritze zu erhalten. Wir werden eine Lizenz von oben haben, unser tägliches Leben führen zu dürfen. Und wir werden wissen, dass diese Lizenz schnell wieder entzogen werden kann, wenn wir in Zukunft eine medizinische Behandlung ablehnen. Die Neudefinition von „Freiheit“, die die Freiheit von der Unterwerfung unter die Medizin abhängig macht, wird die Rechte von uns allen beschneiden – Geimpfte wie Ungeimpfte gleichermaßen.

Auffallend ist, dass sich die so genannte Menschenrechtslobby kaum gegen das vorgeschlagene neue Regime der Zwangsmedikation wehrt. Europhile im Vereinigten Königreich und anderswo – die Art von Leuten, die uns ständig versichern, dass die EU in der heutigen Zeit der große Verteidiger der Würde des Individuums ist – sind mucksmäuschenstill angesichts dieser staatlichen Drohungen, die Bürger mit Gewalt zur medizinischen Gefügigkeit zu zwingen. Es hätte nicht so kommen sollen, sagen sie höchstens. Der Brexit, so hieß es, würde Großbritannien zur Brutstätte eines gefährlichen Autoritarismus machen, während die EU die modernen Prinzipien der Menschen- und Grundrechte hochhalten würde. Und jetzt, wo sich das Gegenteil bewahrheitet hat, schauen diese Leute weg oder nicken subtil ab, was auf eine Tyrannei des Staates hinausläuft. Der europäische Liberalismus liegt im Sterben, die EU entpuppt sich als Sitz eines extremen Autoritarismus, und die Zukunft dieses Kontinents ist in der Tat sehr ungewiss. Im Vergleich zu den langfristigen Auswirkungen dieser politischen und moralischen Krise des europäischen Kontinents wird die Coronazeit an sich klein aussehen.

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