06.08.2021
Sind Ungeimpfte unsolidarisch?
Von Klaus Alfs
Selbst wenn Covid-Impfungen wirksam und sicher wären, woran es berechtigte Zweifel gibt, entbehren alle Argumente, Ungeimpfte seien verantwortungslos oder gar unsolidarisch, jeder rationalen Grundlage.
Menschen haben die Fähigkeit, über ihre Belange selbst zu bestimmen. Genau darin besteht die Menschenwürde.1 Dies ist auch die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts. In einer Presseerklärung zu einem Entscheid vom Februar 20202 heißt es:
„Die Achtung und der Schutz der Menschenwürde und der Freiheit sind grundlegende Prinzipien der Verfassungsordnung, die den Menschen als eine zu Selbstbestimmung und Eigenverantwortung fähige Person begreift. Von der Vorstellung ausgehend, dass der Mensch in Freiheit sich selbst bestimmt und entfaltet, umfasst die Garantie der Menschenwürde insbesondere die Wahrung personaler Individualität, Identität und Integrität. Die unverlierbare Würde des Menschen als Person besteht hiernach darin, dass er stets als selbstverantwortliche Persönlichkeit anerkannt bleibt.“
Die Menschenwürde bildet die Basis der Menschenrechte, die wiederum als Grundrechte in Verfassungen festgeschrieben sind. Sie bieten dem Individuum einen Schutzraum. Das mündige Subjekt allein bestimmt, wen es in diesen Schutzraum auf welche Weise hineinlässt, und zwar ganz unabhängig davon, was aus Perspektive anderer das Beste wäre. Laut Robert Nozick (1938–2002) ist das Individuum ausschließlicher und rechtmäßiger Eigentümer seines Körpers.3 Ein körperlicher Eingriff darf Letzterem von niemandem aufgezwungen werden – auch nicht im Hinblick auf vermeintlich gute kollektive Ziele. Das Bundesverfassungsgericht stellt in oben zitierter Presseerklärung klar:
„Ein gegen die Autonomie gerichteter Lebensschutz widerspricht dem Selbstverständnis einer Gemeinschaft, in der die Würde des Menschen im Mittelpunkt der Werteordnung steht, und die sich damit zur Achtung und zum Schutz der freien menschlichen Persönlichkeit als oberstem Wert ihrer Verfassung verpflichtet.“
Auf die Impfungen bezogen bedeutet dies, dass die Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen, geachtet werden muss, selbst wenn die betroffene Person diesen Entschluss eines Tages mit dem Leben bezahlt. Sie darf unter keinen Umständen dazu führen, dass Ungeimpften lebensnotwendige medizinische Maßnahmen verwehrt oder sie in Triage-Situationen nachrangig behandelt werden. Für eine Triage darf nur das Maß der akuten Lebensbedrohung ausschlaggebend sein. Nichts anderes – weder Alter noch Geschlecht noch ethnische Zugehörigkeit noch Religion noch politische Überzeugung noch Impfstatus.
„Die Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen, muss geachtet werden, selbst wenn die betroffene Person diesen Entschluss eines Tages mit dem Leben bezahlt.“
Die UNESCO-Erklärung über Bioethik und Menschenrechte wurde auf der 33. Generalkonferenz der UNESCO in Paris am 19. Oktober 2005 einstimmig – also auch von der Bundesrepublik – angenommen. Dort heißt es unter anderem:
Artikel 3
1. Die Menschenwürde, die Menschenrechte und die Grundfreiheiten sind in vollem Umfang zu achten.
2. Die Interessen und das Wohl des Einzelnen sollen Vorrang vor dem alleinigen Interesse der Wissenschaft oder der Gesellschaft haben.
Artikel 5
Die Freiheit einer Person, selbständig eine Entscheidung zu treffen, für die sie die Verantwortung trägt und bei der sie die Entscheidungsfreiheit anderer achtet, ist zu achten.
Artikel 6
Jede präventive, diagnostische und therapeutische medizinische Intervention hat nur mit vorheriger, freier und nach Aufklärung erteilter Einwilligung der betroffenen Person auf der Grundlage angemessener Informationen zu erfolgen. Die Einwilligung soll, wenn es sachgerecht ist, ausdrücklich erfolgen und kann durch die betroffene Person jederzeit und aus jedem Grund widerrufen werden, ohne dass die betroffene Person einen Nachteil oder Schaden erleiden darf.
Artikel 27
Diese Erklärung darf nicht so ausgelegt werden, als stelle sie für einen Staat, eine Gruppe oder eine Person eine Berufungsgrundlage dar, um sich an einer Tätigkeit zu beteiligen oder eine Handlung auszuführen, die im Widerspruch zu den Menschenrechten, den Grundfreiheiten und der Menschenwürde steht.
„Die Eigenschaften des Masernvirus und der Masernimpfung bieten immerhin eine faktische Grundlage, denjenigen Verantwortungslosigkeit vorzuwerfen, die ihre Kinder nicht gegen Masern impfen lassen.“
Im internationalen Standardwerk zur Bioethik4 finden sich vier Grundprinzipien des ärztlichen Handelns:
1. Selbstbestimmungsrecht des Patienten (respect for autonomy)
2. Schadensvermeidung (non-maleficence)
3. Patientenwohl (beneficence)
4. Soziale Gerechtigkeit (justice)
Man sieht, wie weit sich die herrschende Praxis seit Beginn der staatlichen Corona-Maßnahmen von diesen Prinzipien entfernt hat. Als Rechtfertigung dient die immergleiche Behauptung, es handele sich bei SARS-CoV-2 um ein hypergefährliches Virus, das nicht wirkungsvoll bekämpft werden könne, wenn jene Regeln und Gesetze weiter uneingeschränkte Beachtung fänden. Doch das erscheint mehr als fraglich.
Masern und Covid
Vor der Einführung eines Impfstoffs starben im Jahr etwa 2,6 Millionen Menschen an den Masern. Die Impfung verhinderte seit dem Jahr 2000 schätzungsweise 21 Millionen Maserntote. Der Impfstoff senkt zudem die Gesamtsterblichkeit viel stärker, als aufgrund der spezifischen Wirkung zu erwarten wäre5, ist lang erprobt und sicher. Das Masernvirus besitzt eine hohe Ansteckungsfähigkeit von etwa 95 Prozent. Es ist nur von Mensch zu Mensch übertragbar und kann im Prinzip ausgerottet werden. Das Ziel, die Masern auszurotten, ist nicht von vornherein unsinnig. Covid-19 ist im Gegensatz dazu eine Zoonose, kann also vom Tier auf den Menschen übertragen und deshalb auch nicht ausgerottet werden. „Zero Covid“ taugt nicht als rationaler Zweck der Impfung.
Am wichtigsten für die hier vorgetragene Argumentation ist aber Folgendes: Die Opfer sind in der überwiegenden Mehrzahl Kinder. Masern ist eine Kinderkrankheit. Im Hinblick darauf, wer am schwersten von der Krankheit betroffen ist, könnten die Unterschiede zwischen Masern und Covid nicht größer sein. Das Medianalter der Verstorbenen liegt bei Covid über der Lebenserwartung – und das, obwohl die meisten Todesopfer Männer sind, die bekanntlich eine geringere Lebenserwartung als Frauen haben. Kinder und Jugendliche sind so gut wie überhaupt nicht betroffen.
„Eine Impfung ist in erster Linie eine Präventionsmaßnahme, die dem Selbstschutz dient.“
Die Eigenschaften des Masernvirus und der Masernimpfung bieten immerhin eine faktische Grundlage, denjenigen Verantwortungslosigkeit vorzuwerfen, die ihre Kinder nicht gegen Masern impfen lassen. Kinder können nicht hinreichend qualifiziert urteilen, deshalb müssen andere, zuerst ihre Eltern, die Verantwortung für sie übernehmen. Kinder sind zudem die Hauptopfer der Krankheit, während ihr Risiko, an Covid schwer zu erkranken und zu sterben, praktisch null ist. Was mündige Erwachsene bezüglich der Impfung tun, ist allein deren Sache. Bei der Covid-Impfung fehlt bereits die faktische Voraussetzung, um den Vorwurf der Verantwortungslosigkeit überhaupt sinnvoll anbringen zu können.
Als Ausnahme können außer Kindern nur unmündige Erwachsene gelten sowie Menschen, die gegen den betreffenden Impfstoff allergisch sind und sich deshalb nicht impfen lassen. Diesen gegenüber mag das Verantwortungs- und Solidaritätsargument eine gewisse Berechtigung haben. Allerdings ist es ethisch höchst fragwürdig, Eingriffe in den menschlichen Körper zur moralischen oder gar rechtlichen Pflicht zu erklären, wenn diese Eingriffe nur mit dem abstrakten Nutzen für andere oder gar für „die Gemeinschaft“ begründet werden (siehe dazu weiter unten). Eine Impfung ist in erster Linie eine Präventionsmaßnahme, die dem Selbstschutz dient.
Gänzlich inakzeptabel ist es, Kinder und Jugendliche gegen Covid zu impfen, obwohl diese von der Impfung in keiner Weise gesundheitlich profitieren. Selbst eine ordnungsgemäß geprüfte, lange bewährte und hochwirksame Covid-Impfung brächte ihnen nicht den geringsten Nutzen, wäre also nicht indiziert. Der Vorwurf grober Verantwortungslosigkeit trifft hier nicht die „Impfverweigerer“, sondern Eltern, die ihre Kinder gegen Covid impfen lassen.
„Gänzlich inakzeptabel ist es, Kinder und Jugendliche gegen Covid zu impfen, obwohl diese von der Impfung in keiner Weise gesundheitlich profitieren.“
Die Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Alena Buyx, würde sogar ihre kleinen Kinder impfen lassen, obwohl die Ständige Impfkommission (STIKO) keine Empfehlung ausspricht und deren Vorsitzender seine Enkel nicht impfen lassen würde. Sie begründet dies mit der Auffassung einer Virologin, die meint, dass „moderne Impfstoffe“ kaum Probleme bereiten, und wenn doch, diese Probleme schnell bemerkt würden. Buyx scheint sich da sehr sicher zu sein – sicherer als der Vorsitzende der STIKO, der offenbar kalte Füße hat. Es gilt aber Folgendes: „Je weniger dringlich und notwendig der Eingriff, desto höher und strenger sind die Anforderungen der Rechtsprechung in puncto Aufklärung.“ So steht es in einem juristischen Beitrag zum Thema Aufklärungspflicht. Bei Kindern gibt es indes gar keine Indikation für eine Covid-Impfung. Die Aufklärung des betreffenden Arztes müsste daher zwingend darin münden, Frau Buyx dringend von der Impfung ihrer Kleinen abzuraten. Da eine medial hofierte Vorsitzende des Deutschen Ethikrates sich davon nicht wird beeindrucken lassen, muss der Arzt selbstverständlich die Impfung verweigern.
Verantwortungslos?
Gehen wir davon aus, dass die Covid-Impfung gegen schwere Verläufe und Tod zu hundert Prozent schützt. Dann stellt sich die Frage, worin das Problem mit den Ungeimpften bestehen soll. Das Schlimmste, was sie den Geimpften antun könnten, wäre ja, sie mit Husten oder Schnupfen anzustecken. Dieses Risiko war bis Corona für niemanden ein Problem. Wenn mich ein gegen Covid Geimpfter mit Rhinoviren ansteckt, fordere ich nicht, dass man ihm die Grundrechte entzieht und ihn wie Abschaum behandelt. Rhinoviren sind für alte Menschen mit geschwächtem Immunsystem mindestens so tödlich wie Influenzaviren. Wer als Geimpfter einen ebenfalls gegen Covid geimpften alten, kränkelnden Verwandten knuddelt, schickt diesen womöglich per Rhinoviren ins Jenseits. Jemand, der andere mit Rhinoviren ansteckt, ist aber bisher noch nicht als Mörder der Alten und Schwachen an den Pranger gestellt worden. Bisher gehörten solche Ansteckungsrisiken in den Bereich der allgemeinen Lebensrisiken, die in Kauf zu nehmen sind, wenn ein gedeihliches Miteinander möglich sein soll.
Covid-Impfungen bewirken keine sterile Immunität. Eine geimpfte Person kann durchaus mehr Menschen anstecken als eine ungeimpfte, da für Geimpfte die Kontaktbeschränkungen geringer sind oder ganz wegfallen. Kürzlich soll ein Geimpfter auf einer Party 83 Menschen angesteckt haben. Auf einem Festival in Utrecht, an dem nur Geimpfte, Genesene und negativ Getestete teilnehmen durften, sollen sich tausend Menschen infiziert haben. Kontaktarme Ungeimpfte kommen kaum als „Spreader“ infrage, während gesellige Geimpfte selbst dann „Superspreader“ sein können, wenn sie sich nur unter ihresgleichen bewegen. Doch auch das wäre, glaubt man an die Wirksamkeit der Impfung, kein Problem, da sich die Beteiligten schlimmstenfalls leichte Symptome „einfangen“.
„Ungeimpfte können nach bisheriger Analyse gar kein Problem für Geimpfte sein, wenn die Impfung so wirkt, wie das offizielle Narrativ suggeriert.“
Ungeimpfte können nach bisheriger Analyse also gar kein Problem für Geimpfte sein, wenn die Impfung so wirkt, wie das offizielle Narrativ suggeriert. Mündige Ungeimpfte nehmen das Risiko, sich anzustecken und ggf. schwer zu erkranken, bewusst in Kauf. Diese Entscheidung ist zu achten. Selbstverständlich darf eine solche Entscheidung – siehe oben – nicht dazu führen, Ungeimpften notwendige medizinische Behandlungen zu verweigern. Dann könnte man zum Beispiel auch Rauchern lebenserhaltende Behandlungen gegen Lungenkrebs vorenthalten. Oder man spielt die Motorradfahrer gegen die Autofahrer, diese gegen die Fahrradfahrer und letztere gegen die Fußgänger aus. Ginge man nach dem Risiko, das die Verkehrsteilnehmer für sich selbst und andere darstellen, würden Fußgänger in der Notaufnahme bei Unfällen gegenüber den anderen bevorzugt, dann die Radfahrer gegenüber den Auto- und Motorradfahrern sowie die Autofahrer gegenüber den Motorradfahrern – und das unabhängig von der Schwere ihrer Verletzungen. Die Absurdität solcher Gedanken hält leider viele nicht davon ab, sie ernsthaft zu vertreten. Eines ist aber klar: Ein auf diese Weise organisiertes System wäre ein totalitäres. Und ein solches kann man zum Beispiel in China beobachten.
Solidarität in einem Rechtsstaat
Glaubt man der Mehrzahl der veröffentlichten Meinungen, bedeutet „Solidarität“, dass alle an einem Strang ziehen und niemand aus der Reihe tanzt („Gemeinsam gegen Corona!“). Doch in einem Rechtsstaat ist das Gegenteil der Fall. Die Grundrechte sollen das Individuum genau vor solchem Zugriff schützen – vor allem dann, wenn es sich in der Minderheit befindet. Solidarität besteht in einem Rechtsstaat darin, dass Bürger die Rechte anderer Bürger achten, und nicht darin, dass eine Gruppe Wahrheits- und Moralbesitzer bestimmt, was getan werden muss, um alle, die sich dem nicht fügen, zu ihrem „Glück“ zu zwingen. Diese von Rousseau stammende Vorstellung eines Gemeinwillens, der mehr als die Summe aller Einzelwillen und daher mit „Vernunft“ identisch sei, hat sich in der Geschichte verheerend ausgewirkt. Er wurde sowohl von rechten als auch von linken Totalitaristen zur Rechtfertigung ihrer Gräueltaten genutzt. Frau Merkel hat also nicht die Verantwortung für meine persönlichen Lebensentscheidungen zu übernehmen, sondern lediglich dafür zu sorgen, dass ich sie frei treffen kann, ohne damit rechnen zu müssen, meiner Grundrechte beraubt zu werden, weil irgendwer meint, es besser zu wissen als ich, und die Macht hat, mich zu drangsalieren.
Kommen wir nun zu dem Argument, man solle sich aus Solidarität mit den Allergikern gegen Covid impfen lassen. Um es zu entkräften, braucht man nur darauf zu schauen, wie es allen ergeht, die aversiv auf die Mund-Nase-Bedeckungen reagieren und per Attest von der Maskenpflicht befreit sind. Die „Alltagsmaske“ aus Stoff war offiziell zum Fremdschutz gedacht. Sie sollte aus Solidarität mit denjenigen getragen werden, die eine solche Maske aus Gesundheitsgründen nicht tragen können. Doch wie sah die Wirklichkeit aus? Atteste wurden so gut wie nirgendwo anerkannt, Menschen mit ärztlicher Maskenbefreiung wie Dreck behandelt. Das mit dem „Fremdschutz“ hat man allenfalls so verstanden, dass man seine Mitarbeiter, seine Familie und dergleichen vor denjenigen schützen müsse, die keine Maske tragen können. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Und ebenso wenig nützt es, eine offizielle medizinische Kontraindikation gegen die Covid-Impfung zu haben. Wenn man sich nicht trotzdem impfen lässt, wird man wie ein Aussätziger behandelt. Als ob Corona-Alarmisten auch nur die geringste Rücksicht auf diejenigen nehmen würden, mit denen sie sich verbal solidarisch erklären! Im Gegenteil: Wer Adressat dieser Solidaritätsbekundungen ist – Alte, Schwache, Kinder, Behinderte – muss um Gesundheit und Leben fürchten.
„Solidarität besteht in einem Rechtsstaat darin, dass Bürger die Rechte anderer Bürger achten.“
Kollabierendes Gesundheitssystem?
Es wird von Impfbefürwortern gerne mit den „Varianten“ argumentiert, die uns „überrollen“ und unser Gesundheitssystem zum Kollabieren bringen werden. Damit, so das Argument, würden auch die Geimpften unter der mangelnden medizinischen Versorgung leiden. Nun gibt es inzwischen einen guten Vergleichszustand, der es erlaubt, die Triftigkeit dieses Arguments zu beurteilen. Im Jahr 2020 gab es bekanntlich noch keine Covid-Impfung. Vor den gefährlicheren Varianten wurde schon damals ständig gewarnt. Doch ist das Gesundheitssystem kollabiert? In einer Presserklärung des Bundesgesundheitsministeriums heißt es:
„Die Analyse der Leistungsdaten aller deutschen Krankenhäuser zeigt, dass trotz der Aufforderung der Bundesregierung im Frühjahr 2020, planbare Leistungen zu verschieben, die stationäre Versorgung in Deutschland im ersten Pandemiejahr 2020 flächendeckend gewährleistet werden konnte. Nach einem Rückgang der Krankenhausfälle im Frühjahr um ca. 30 Prozent, wurden auf Jahressicht im Bereich der allgemeinen Krankenhäuser 13 Prozent und im Bereich der psychiatrischen Kliniken 11 Prozent weniger Fälle als im Vorjahr versorgt. Im Jahresdurchschnitt waren vier Prozent aller Intensivbetten mit Corona-Patientinnen und -Patienten belegt [...] Die Mitglieder des Beirats betonten, dass die Pandemie zu keinem Zeitpunkt die stationäre Versorgung an ihre Grenzen gebracht hat.“
Insgesamt 13 Prozent weniger Krankenhauspatienten und nur vier Prozent Intensivpatienten mit der Diagnose „Covid“. So sah die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ 2020 aus. Auch ohne Impfung war eine Überlastung des Gesundheitssystems nicht einmal von Weitem in Sicht. Die Szenarien, in denen Ungeimpfte alle Kliniken derart vollstopfen, dass die gesamte „Solidargemeinschaft“ schwer leidet, entspringen wohl eher der düsteren Phantasie derjenigen, die sie entwerfen. Hierauf wird in der Regel erwidert, dass diese Zahlen nur deshalb so niedrig waren, weil der Lockdown gewirkt habe, der durch die Impfungen künftig vermieden werden solle. Doch dieses Argument hat trotz seiner Beliebtheit keinerlei Basis in den Daten (siehe zum Beispiel hier und hier). Impfgegner könnten zudem dagegen ins Feld führen, dass durch die immerwährende Panik, durch permanenten Distress aufgrund von ökonomischer Not, durch soziale Isolierung in Innenräumen, Bewegungsmangel und dergleichen das Immunsystem der Menschen nachweislich geschwächt wird und daher zu mehr Erkrankungen führen muss. Man könnte also auch behaupten, dass das Gesundheitssystem nicht wegen, sondern trotz der flächendeckenden gesundheitsschädlichen Corona-Maßnahmen insgesamt keinerlei Notstand zu verzeichnen hatte. Es dürfte auch kein Problem sein, so etwas zu modellieren.
„Insgesamt 13 Prozent weniger Krankenhauspatienten und nur vier Prozent Intensivpatien-ten mit der Diagnose ‚Covid‘. So sah die ‚epidemische Lage von nationaler Tragweite‘ 2020 aus.“
Zur Zeit (2. August 2021) sind übrigens etwa 1,45 Prozent der Intensivbetten mit Covid-Patienten belegt, und das, obwohl es starke finanzielle Anreize gibt, Patienten als Covid-Fälle zu deklarieren. Gehen wir also mit Recht davon aus, dass die neuen Varianten zwar ansteckender sein mögen, aber weniger gefährlich sind, gibt es nicht den geringsten Anlass zur Befürchtung, dass das Gesundheitssystem im nächsten Herbst und Winter kollabieren wird. Es sei denn, das Immunsystem der Geimpften spielt dann verrückt. Impfgegner könnten auch hier den Spieß umdrehen und diese Befürchtung nutzen, um Geimpfte als unsolidarisch zu verurteilen. Mit Befürchtungen kann jedoch keinerlei Grundrechtseinschränkung gerechtfertigt werden. Eine Notlage muss tatsächlich und akut vorliegen. Aus einer weit hergeholten bzw. mit unrealistischen Basisannahmen herbeimodellierten Befürchtung kann keine moralische Pflicht zur Covid-Impfung abgeleitet werden.
Fazit
Es wurde gezeigt, dass die Vorwürfe der Unsolidarität von Ungeimpften selbst dann keine rationale Grundlage hätten, wenn die Impfungen sicher und wirksam wären. Solidarität wird von aggressiven Impfbefürwortern missverstanden als Recht eines abstrakten Kollektivs gegenüber dem Individuum. Dabei schützen – umgekehrt – die Grundrechte per definitionem das Individuum vor übergriffigem Kollektivismus. Verantwortung für mündige Menschen kann von Dritten nur mit Einverständnis der Ersteren übernommen werden. Da es im Gegensatz zu Masern bei Covid wenig Betroffene gibt, die nicht für sich selbst entscheiden können, läuft das Argument der Verantwortungslosigkeit ins Leere. Es trifft vielmehr die Befürworter, wenn sie zum Beispiel ihre Kinder gegen Covid impfen lassen. Geimpfte sind durch Ungeimpfte in keiner Weise in der Wahrung ihrer Rechte beschränkt. Das Risiko, sich mit Schnupfen oder Husten anzustecken, gehört zu den allgemeinen Lebensrisiken. Das Szenario kollabierender Gesundheitssysteme aufgrund zu geringer Durchimpfung ist trotz medialer Dauerpräsenz sehr weit hergeholt. Mit unrealistischen Szenarien können indes auch Impfgegner operieren. Befürworter gewinnen mit derlei Szenarien argumentativ nichts. Auf die Frage, warum Ungeimpfte unsolidarisch oder verantwortungslos sein sollen, bieten sie nur ein wortreiches „Darum“.
Was also die Covid-Impfung angeht, gilt auch hier die Devise: „My body, my choice“.