04.04.2025
Das 1,5-Grad-Ziel ist erreicht. Die Luft ist raus
Von Thilo Spahl
Die Klimapolitik braucht ein neues Paradigma. Bei der Orientierung hilft ein Blick auf China und Indien.
Die internationale Klimapolitik feiert in diesem Jahr zwei Jubiläen. Im Oktober trifft sich die Gemeinde zur 30. Konferenz der Vertragsparteien, auch Klimagipfel genannt, kurz COP30. Diesmal ist mit Brasilien wieder eine touristisch durchaus attraktive Destination an der Reihe. Da will man doch dabei sein, irgendein Steuerzahler wird sich schon finden, der die Kompensationszahlungen für den CO2-Ausstoß der zur Weltrettung notwendigen Langstreckenflüge übernimmt. Die COPs sind bekanntlich eine große Erfolgsgeschichte: 1995 hatte die COP1 magere 3969 Teilnehmer, bis zur COP 28 in Dubai konnte die Zahl auf 85.000 gesteigert werden. Dass in 2024 nur noch 54.148 nach Baku flogen, mag an der geringen touristischen Attraktivität liegen, kann aber auch ein Zeichen sein, dass Peak COP überschritten ist. Vielleicht gibt es in Belém, der Stadt der Mangobäume, nochmal eine große Sause (zumal man dort die Konferenz zum Anlass genommen hat, eine schöne neue Autobahn durch den Urwald zu bauen), aber dann wird der Abstieg des Klimagipfels gewiss weitergehen.
Außerdem steht der zehnte Jahrestag des Pariser Abkommens vor der Tür. Bei der COP20 in Paris wurde beschlossen, den globalen Temperaturanstieg möglichst auf 1,5 Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter zu begrenzen. Anders als das 2020 auslaufende Kyoto-Protokoll, das nur einige Industriestaaten zu Emissionsreduktionen verpflichtete, bindet das Pariser Klimaabkommen alle Staaten der Erde ein. Sie haben sich völkerrechtlich verpflichtet, einen nationalen Klimabeitrag (englisch: Nationally Determined Contribution, NDC) und konkrete Schritte zu dessen Umsetzung zu erarbeiten.
10 Jahre nach Ausrufung des 1,5 Grad-Ziels ist es nun vollbracht. Aber anders als gedacht. Der Plan war es, bis zur Mitte des Jahrhunderts die Emissionen so zu verringern, dass wir die 1,5 Grad nicht überschreiten. Erreicht wurde, dass sie nach nur zehn Jahren nun schon überschritten sind. Im Jahr 2024 betrug der Anstieg der globalen Jahresmitteltemperatur erstmals 1,5 °C. Der Weltuntergang ist erstaunlicherweise ausgeblieben. Zum Glück. Niemand hat wirklich etwas gemerkt. Und die allermeisten haben noch nicht einmal mitbekommen, dass Wissenschaftler festgestellt haben, dass die 1,5 Grad nun geknackt sind.
Wenig Eifer bei den Reduktionsplänen
Auch der Enthusiasmus der Vertragsstaaten hält sich in Grenzen. Im Rahmen des Abkommens haben sich die Länder verpflichtet, alle fünf Jahre neue Pläne, die sogenannten NDCs, vorzulegen, in denen sie beschreiben, was sie zur Emissionsminderung und Anpassung an den Klimawandel tun werden, ihre Fortschritte bei der Erreichung der Pariser Ziele im Rahmen einer alle fünf Jahre stattfindenden „globalen Bestandsaufnahme" zu bewerten und ihre Anstrengungen entsprechend zu verstärken. Der so genannte „Ratchet-Mechanismus" sieht vor, dass jede Verpflichtungsrunde über die vorherige hinausgeht und das „höchstmögliche Ziel" der Länder darstellt.
„Im Jahr 2024 betrug der Anstieg der globalen Jahresmitteltemperatur erstmals 1,5 °C. Der Weltuntergang ist erstaunlicherweise ausgeblieben.“
Wie sieht es also mit den NDCs aus? Laut dem aktuellen UN Emissions Gap Report sind die Länder noch weit davon entfernt, die Ziele von Paris zu erreichen. Klar, sonst hätten wir die 1,5-Grad-Marke wohl kaum geknackt. Tatsächlich tun sie sich schwer, überhaupt Ziele aufzuschreiben: Nur 13 der 195 Unterzeichnerstaaten des Pariser Abkommens haben die UN-Frist vom 10. Februar für die Vorlage neuer Klimazusagen für 2035 eingehalten und ihre neuen Pläne zur Emissionsminderung veröffentlicht. Laut einer Analyse von Carbon Brief repräsentieren die Länder, die die Frist verpasst haben, 83 Prozent der globalen Emissionen und fast 80 Prozent der Weltwirtschaft. Die USA haben ihr NDC unter der vorherigen Biden-Administration eingereicht, aber inzwischen angekündigt, aus dem Pariser Abkommen auszusteigen. Zieht man sie ab, bleiben nur noch Ecuador, St. Lucia, Brasilien, Uruguay, die Schweiz, Andorra, Großbritannien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Simbabwe, Singapur, Neuseeland und die Marshallinseln. Zusammen sind sie für rund vier Prozent der Emissionen verantwortlich. Und was sie sich auf die Fahnen geschrieben haben, ist offenbar größtenteils wenig ambitioniert.
Nun, viele wollen ja noch nachreichen. Aber für das, was da noch an guten Vorsätzen aufgeschrieben wird, gilt wie bisher: Papier ist geduldig. Und vielleicht war 2024 ja nur ein Ausrutscher und wir rutschen nochmal ein paar Jahre runter auf 1,4 Grad. (Das Pariser Ziel wird als 20-Jahres-Durchschnitt gemessen – das heißt, 1,5 °C in einem Jahr zu überschreiten, heißt noch nicht, dass wir endgültig drüber sind.)
Die Entwicklung der ganz großen Länder
Und vielleicht steigt ja China bald aus der Kohle aus? Wohl eher nicht. Laut einem Bericht des Centre for Research on Energy and Clean Air erreicht der Bau von Kohlekraftwerken in China im Jahr 2024 ein neues Zehnjahreshoch. Es wurde mit dem Bau von 94,5 GW neuer Kohlekraftwerke begonnen. Laut der Studie ist dies ein Zeichen für die anhaltende Dynamik bei der Entwicklung neuer Kohleprojekte, trotz der Zusagen der Regierung, die Nutzung des fossilen Brennstoffs „streng" zu kontrollieren. Wer einen Eindruck davon bekommen will, wie China seine Klimaziele verfolgt, muss sich die beiden kleinen grauen Balken in der folgenden Grafik anschauen. Das sind die stillgelegten Kohlekraftwerke.
Abb. 1 Pläne für Kohlekraftwerke in China, Quelle: China Coal Biannual Review – H2 2024 („When coal won’t step aside. The challenge of scaling clean energy in China”), Centre for Research on Energy and Clean Air, 13. Februar 2025, S.12.
Die Chinesen bauen zwar auch sehr fleißig Wind- und Solarkraftwerke und auch Kernkraftwerke. Aber eben zusätzlich zu den Kohlemeilern.
Vergleicht man China mit Indien, so sieht man, dass sich zwar der Energieverbrauch in Indien in den letzten 25 Jahre verdoppelt hat, der Chinas aber heute pro Kopf fast dreimal so hoch ist wie in Indien. Das bevölkerungsreichste Land der Erde hat also noch großen Nachholbedarf. In China stehen rund 94 GJ pro Kopf und Jahr zur Verfügung, in Indien 34 GJ.
Es ist klar, dass Indien seinen wachsenden Energiebedarf nicht mit erneuerbaren Energien decken kann. Beim Treffen von Trump und Modi im Februar wurde vereinbart, die Öl- und Gaslieferungen aus den USA um zwei Drittel zu steigern und die entsprechenden Infrastrukturinvestitionen zu erhöhen. Bei der Stromversorgung wird Kohle weiterhin die zentrale Rolle spielen. Heute trägt sie zu 75 Prozent bei. Im Jahr 2025 werden voraussichtlich rund 1370 Millionen Tonnen verbrannt. In Deutschland sind es etwa 70 bis 80 Millionen Tonnen – das zeigt, wie irrelevant unser Kohleausstieg für das Weltklima ist. Die indischen Kohlevorkommen sind nach den USA und China die drittgrößten der Welt, Indien ist drittgrößter Kohleproduzent und achtgrößter Importeur, Kraftwerke mit einer Kapazität von 25 GW sind im Bau.
„Es ist ein Irrglaube, dass Klimawandel das große Problem der Menschheit ist. Das große Problem ist Energiearmut.“
Natürlich installiert auch Indien fleißig Solarzellen, und ab 2026 soll es sogar ein Verbot von Verbrennungsmotoren geben – allerdings nur für Zwei- und Dreiräder, also vor allem Mopeds. Und der Strom dafür kommt vor allem aus Kohlekraftwerken. Kohle wird noch jahrzehntelang die Energieversorgung dominieren. Wenn Indien die Wahl habe zwischen Armut und Klimawandel, so Modi schon 2015 bei der Verabschiedung des Pariser Abkommens, werde es sich für Letzteres entscheiden.
Die Welt braucht mehr Energie
Schaut man sich andere bevölkerungsreiche Länder an, sieht es mit der Energieversorgung nicht besser aus als in Indien. Indonesiens 275 Millionen Einwohner kommen auf einen Pro-Kopf-Verbrauch von 43 GJ, Pakistans 241 Millionen Einwohner sogar nur auf 15 GJ, also nicht einmal 5 Prozent der 319 GJ, die ein durchschnittlicher US-Amerikaner verbraucht. Nimmt man den im westlichen Vergleich moderaten Pro-Kopf-Verbrauch Deutschlands von 121 MJ als Maßstab, wird das Ausmaß der Energiearmut in weiten Teilen der Welt deutlich.
Es ist ein Irrglaube, dass der Klimawandel das große Problem der Menschheit sei. Energiearmut ist das große Problem. Deshalb ist es auch falsch, Energie künstlich zu verknappen und zu verteuern. Die wichtigste Herausforderung der Menschheit im 21. Jahrhundert ist es, die Energieversorgung massiv auszubauen.
Deutschland kann hier einen Beitrag leisten. Wir brauchen dafür eine Rückbesinnung auf einstige Stärken, namentlich die technologische Kompetenz. In der Kerntechnik, der Tiefengeothermie, der Batterietechnik, bei synthetischen Kraftstoffen, der CO2-Abscheidung und -Nutzung gibt es viel zu tun. Packen wir es an! Absurde Reduktionsziele – Netto-Null bis 2045 – die nur durch Deindustrialisierung erreicht werden können, müssen einer Aufbruchstimmung weichen, dem Willen, die Herausforderungen der Zukunft, auch den Klimawandel, mit Erfindergeist und technologischen Durchbrüchen zu meistern.