21.03.2025
Netto-Null: Ein Ziel für das Jahr 2162?
Von Thilo Spahl
Wie lange dauert es bis zur Klimaneutralität? Der neue Energie-Jahresbericht der Bank J.P. Morgan gibt Aufschluss über das tatsächliche Tempo der globalen Energiewende.
Wie geht es weiter in der deutschen Energiepolitik? Union und SPD wollen die Strompreise um mindestens fünf Cent pro Kilowattstunde senken. Dazu sollen die Stromsteuer auf den in der EU erlaubten Mindestwert reduziert und die Übertragungsnetzentgelte halbiert und dauerhaft gedeckelt werden. Für die energieintensive Industrie wird ein wettbewerbsfähiger Industriestrompreis angestrebt. Um die Nachfrage nach Elektroautos anzukurbeln, soll ein neuer „Kaufanreiz" geschaffen werden. Es gibt ein Bekenntnis zum entschlossenen Ausbau von Solar- und Windenergie.
Die Energiepolitik der kommenden Regierung besteht also darin, die Strompreise zu senken, nicht aber die Kosten. Vielmehr sollen diese durch das Festhalten an der grünen Dystopie, die Energieversorgung komplett auf Sonne und Wind umzustellen, weiter in die Höhe getrieben werden. Bezahlt wird wahlweise mit Steuern oder Schulden, also den Steuern von morgen.
Um besser einschätzen zu können, was wir hier tun, hilft ein Blick auf das große Ganze. Den bietet das von Michael Cembalest verfasste J.P. Morgan Energy Paper, dessen 2025er Ausgabe gerade erschienen ist. Er beginnt mit den Worten: „Die Solarkapazität boomt weltweit, sowohl im Versorgungsbereich als auch bei privaten Anwendungen, und wird oft von Energiespeichern begleitet, deren Kosten ebenfalls sinken. Trotz der 9 Billionen Dollar, die in den letzten zehn Jahren weltweit in Windkraft, Solarenergie, Elektrofahrzeuge, Energiespeicherung, elektrifizierte Wärme- und Stromnetze investiert wurden, verläuft der Übergang zu erneuerbaren Energien immer noch linear; der Anteil der erneuerbaren Energien am Endenergieverbrauch steigt langsam um 0,3 % bis 0,6 % pro Jahr.“
„Die Energiepolitik der kommenden Regierung besteht darin, die Strompreise zu senken, nicht aber die Kosten."
Was bedeutet das für das berühmte Netto-Null-Ziel? Da der Anteil fossiler Energieträger an der Energieerzeugung heute bei 82 Prozent liegt, werden wir, falls wir das Tempo der letzten 12 Jahre halten können, irgendwann im Zeitraum zwischen dem Jahr 2162 und dem Jahr 2299 bei null sein. Mit „wir“ ist hier die Welt gemeint. Wenn wir dagegen die Ziele Deutschlands – oder sagen wir: die Ziele der Bundesregierung – betrachten, dann ist es bekanntlich das Jahr 2045. Wir dürfen uns nur nicht beirren lassen.
Zum Beispiel dürfen wir uns nicht vom neuen US-Energieminister Chris Wright beirren lassen. Der hat kürzlich gesagt, was unsere vorbildliche Klimapolitik seiner Meinung nach bedeutet: „Wir haben viel zu viel Produktion ausgelagert, und unsere Verbündeten in Europa sind in dieser zerstörerischen Richtung noch viel weiter gegangen. Ich finde es traurig und ein wenig ironisch, dass die einst mächtige Stahl- und petrochemische Industrie Großbritanniens nach Asien verlagert wurde, wo die gleichen Produkte mit höheren Treibhausgasemissionen hergestellt und dann auf einem dieselbetriebenen Schiff zurück nach Großbritannien verschifft werden. Das Endergebnis sind höhere Preise und weniger Arbeitsplätze für die Bürger des Vereinigten Königreichs, höhere globale Treibhausgasemissionen – und all das wird als Klimapolitik bezeichnet.“
Die neue US-Regierung setze auf Reindustrialisierung statt Deindustrialisierung, auf den Ausbau der Infrastruktur, auf den Ausbau der Energieversorgung auf Basis fossiler Energieträger, aber auch auf eine „lang ersehnte amerikanische Renaissance der Kernenergie, sowohl der Kernspaltung als auch der Kernfusion“. Und auf Geothermie.
Die Erfolge der deutschen Energiewende
Merz hat andere Pläne. Er setzt auf die Fortsetzung des rot-grünen Kurses. Denn unter dem scheidenden Klimaminister hat Deutschland bekanntlich große Erfolge gefeiert. Habeck sagte kürzlich, die vergangenen drei Jahre würden wohl als „Wendepunkt“ in der deutschen Klimapolitik wahrgenommen. Dies sei durch harte „Kärrnerarbeit" seines Ministeriums erreicht worden. Er verwies unter anderem auf große Fortschritte beim Ausbau der erneuerbaren Energien und eine „Trendwende“ im Gebäudesektor. ZDF heute schreibt: „Gute Nachrichten in Sachen Klimaschutz: Deutschland hat laut dem Umweltbundesamt 2024 sein Klimaziel erreicht.“ Mit anderen Worten: Deutschland ist in Sachen Deindustrialisierung auf einem sehr guten Weg.
„Die Deindustrialisierung Deutschlands ist noch nicht so weit fortgeschritten, wie manche befürchten. Aber die Weichen sind gestellt."
Schauen wir uns die Zahlen genauer an: Für 2024 liegt der Anteil der erneuerbaren Energien an der öffentlichen Nettostromerzeugung laut Fraunhofer ISE bei einem Rekordwert von 62,8 Prozent. Es entsteht der Eindruck, dass wir uns zügig auf eine vollständige Dekarbonisierung zubewegen. Schaut man sich allerdings den Endenergieverbrauch in Deutschland an, sieht die Sache etwas anders aus. Dieser verteilt sich auf den Stromsektor (inkl. Strom für Heizung und Elektroautos) mit 21 bis 22 Prozent, den Wärmesektor (inkl. Prozesswärme in der Industrie) mit 52 bis 54 Prozent und den Verkehrssektor mit rund 25 Prozent. Von den 22 Prozent entfallen 62 Prozent auf erneuerbaren Strom, also 13,6 Prozent. (Rechnet man Wasserkraft und Biomasse heraus, die kaum noch ausbaubar sind, verbleiben rund 11 Prozent aus Windkraftanlagen und Solarzellen.) Es liegen also noch rund 86 Prozent des Weges vor uns. (Oder, wenn man Holz und Biokraftstoffe als Erneuerbare zählt, obwohl bei deren Verbrennung viel CO2 ausgestoßen wird, noch gut 76 bis 77 Prozent.) Positiv gewendet: Die Deindustrialisierung Deutschlands ist noch nicht so weit fortgeschritten, wie manche befürchten. Aber die Weichen sind gestellt.
Diese Zahlen erklären, warum in den letzten Jahren Wärmepumpen, Elektroautos, grüner Stahl usw. gepusht werden. Es geht darum, den Stromsektor durch Elektrifizierung auszubauen und den Wärme- und Verkehrssektor, in dem Energie direkt durch Verbrennung erzeugt wird, zu reduzieren.
Die Sache mit der Elektrifizierung
Global gesehen ist der Weg zur Dekarbonisierung noch sehr viel länger. Zwar erleben wir derzeit einen rasanten Ausbau der Solarenergie, aber ihr Anteil am Weltenergieverbrauch beträgt bisher nur etwas mehr als 2 %.
Michael Cembalest schreibt: „[...] Wenn man alles zusammenzählt, macht die Solarenergie ~2 % des weltweiten Endenergieverbrauchs aus, eine Zahl, die bis 2027 voraussichtlich auf 4,5 % ansteigen wird. Selbst wenn sich diese Solartrends bis in die 2030er Jahre fortsetzen, wird der menschliche Wohlstand noch viele Jahre untrennbar mit erschwinglichem Erdgas und anderen fossilen Brennstoffen verbunden sein. Der Wohlstand der Menschen hängt in hohem Maße von Stahl, Zement, Ammoniak/Dünger, Kunststoffen, Glas, Chemikalien und anderen Industrieprodukten ab, deren Herstellung energieintensiv ist. Diese Produkte werden derzeit zu 80-85 % aus fossilen Brennstoffen hergestellt. Und vergessen wir nicht, dass Wohlstand selbst energieintensiv ist: Eine der engsten Beziehungen in der Wirtschaft ist die zwischen dem Pro-Kopf-BIP eines Landes und seinem Pro-Kopf-Energieverbrauch".
„Warum kommt die Elektrifizierung nicht voran? Die Antwort lautet: Sie ist teuer."
Er weist in seinem Bericht darauf hin, dass zwar der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung steigt, der Anteil der elektrischen Energie am Endenergieverbrauch in vielen Ländern jedoch nicht. Die folgende Abbildung zeigt dies am Beispiel der USA. Dort liegt der Stromanteil mit rund 30 Prozent deutlich höher als in Deutschland. Das dürfte unter anderem daran liegen, dass Klimaanlagen viel stärker verbreitet sind als bei uns. Allerdings steigt der Anteil nicht, sondern ist im letzten Jahrzehnt sogar leicht gesunken.
Abb. 1 Endnenergieverbrauch und Anteil der erneuerbaren Energien, Quelle: Michael Cembalest: „15th Annual Energy Paper", J. P. Morgan, März 2025, S. 7.
Warum kommt die Elektrifizierung nicht voran? Die Antwort lautet: Sie ist teuer. Wenn man eine Wärmepumpe zum Heizen einsetzt, braucht sie zwar weniger Energie in Form von Strom, weil sie zusätzlich die Umgebungswärme nutzt. Da eine Kilowattstunde Strom aber viel teurer ist als eine Kilowattstunde Gas, wird das Heizen trotzdem teurer. Es ist natürlich wenig attraktiv, 30.000 Euro zu investieren, um den Gaskessel durch eine Wärmepumpe zu ersetzen, wenn man dann statt 20.000 vielleicht nur noch 10.000 kWh verbraucht, die Kilowattstunde Gas aber 8 Cent und die Kilowattstunde Strom 30 Cent kostet. Dasselbe gilt für Elektroautos.
Eine Frage des Preises
Die Kostenproblematik wäre noch deutlicher, wenn in Deutschland Benzin, Heizöl und Gas nicht durch hohe Steuern und Abgaben künstlich verteuert würden. Eine kaum thematisierte, aber erhebliche Subventionierung von Elektroautos besteht in den Mindereinnahmen des Staates bei der Energiesteuer, die bei Benzin wesentlich höher liegt als bei Strom. Würde Ladestrom wie Benzin besteuert, dürfte die Zahl der E-Auto-Käufer deutlich einbrechen und könnte leicht in den einstelligen Bereich zurückfallen; 2024 waren es immerhin 13,5 Prozent.
Ähnlich verhält es sich mit Wärmepumpen. Sie sind keine neue Erfindung. Warum werden sie kaum eingesetzt? Weil das Heizen mit Öl und Gas bis vor kurzem einfach viel billiger war, auch im Neubau. Das ändert sich erst allmählich. Ein Early Adopter berichtet in der F.A.Z. vom 14. März, dass er sich heute wieder für die Wärmepumpe entscheiden würde, fügt aber hinzu: „Dieses Komfortpaket muss man sich finanziell leisten können. Da beißt die Maus keinen Faden ab.“ Und er weiß von einem Bekannten, bei dem die Erdwärmepumpe nach 20 Jahren leider den Geist aufgegeben hat und für 50.000 Euro erneuert werden musste.
Was den Gaspreis betrifft, hat bekanntlich Putin unserem Klimaminister beim Heizungsgesetz (wenn auch unfreiwillig) argumentativ unter die Arme gegriffen. Der enorme Preisanstieg war aber nur vorübergehend. Deshalb setzt man vor allem auf die CO2-Abgabe, um den Preis in den nächsten Jahren sukzessive in die Höhe zu treiben und damit die Wärmepumpe attraktiver zu machen. Da auch dies für eine Umstellung im Bestand nicht ausreichen wird und inzwischen allgemein bekannt ist, was Friedrich Merz von seinen eigenen Wahlversprechen hält, können wir davon ausgehen, dass Habecks Wärmegesetz in Kraft bleibt und der Einbau von Öl- und Gasheizungen sukzessive verboten wird. So ist es zumindest in den Sondierungsgesprächen vereinbart worden.
Die folgende Grafik zeigt, was es für die Energiekosten bedeutet, von Gas auf Strom umzusteigen. Für die deutsche Industrie würde dies beinahe eine Verdreifachung bedeuten. In Texas, wo Gas besonders billig ist, sogar eine Verfünffachung. Auch das muss man sich „finanziell leisten können“.
Abb. 2 Kosten von Strom- statt Gasverbrauch, Quelle: Michael Cembalest: „15th Annual Energy Paper", J. P. Morgan, März 2025, S. 7.
Verlagerung ins Ausland
Ein wichtiger Faktor für die Wirtschaftlichkeit ist der Wert der Anlagen, die man durch neue, strombetriebene ersetzen möchte. Hier mag die Überalterung des Kapitalstocks der deutschen Industrie dazu führen, dass die Elektrifizierung etwas zunimmt. Wenn der Ersatz schon zu höheren Energiekosten führt, tauscht man doch lieber eine alte Anlage aus als eine neue.
Es kann aber auch sein, dass abgeschriebene Anlagen, die das Ende ihrer wirtschaftlichen Nutzung erreicht haben, gar nicht in Deutschland ersetzt werden, sondern die Produktion in ein anderes Land verlagert wird, in dem nicht nur die Energiekosten, sondern auch die Arbeits- und die Bürokratiekosten niedriger sind. So kommen wir unseren Klimazielen wieder ein Stück näher. Und genau das tun deutsche Unternehmen regelmäßig. Sie investieren dort, wo es sich lohnt.
Wer sehen will, wie man die Elektrifizierung zügig ausbaut, muss nach Frankreich schauen, wo der Stromanteil am Endenergieverbrauch dank günstigem und CO2-armem Strom aus Kernkraftwerken mehr als doppelt so hoch ist wie bei uns. Aber auch hierzulande lehrt ein Blick auf die Ergebnisse der Sondierungsgespräche: Auf die Revidierung des größten Fehlers der deutschen Energiepolitik können wir lange warten – keine KKWs für Deutschland.
Die Illusion wird platzen
Herr Habeck kann sich jetzt die Hände in Unschuld waschen. Er hat uns auf den richtigen Weg gebracht. Jetzt sind die anderen dran, alles wieder zu vermasseln. Dass ihn das nicht wundern wird, hat er bereits angekündigt. „Die große Koalition war Weltmeister im Herausposaunen von Zielen, aber Amateurliga in der Umsetzung“, tönte er bei der Vorstellung der Treibhausgaszahlen für 2024 am vergangenen Freitag.
„Merz könnte Kurs halten und weiter den großen deutschen Klimazielen nachjagen – koste es, was es wolle. Am Lauf der Dinge in der großen weiten Welt, wird das nichts ändern."
Es kann noch schlimmer kommen. Merz könnte Kurs halten und weiter den großen deutschen Klimazielen nachjagen – koste es, was es wolle. Am Lauf der Dinge in der großen weiten Welt, wird das nichts ändern. Dort steht „Netto-Null“ vielleicht irgendwann in 100 oder 200 Jahren an. Daran werden deutsche Steuern und Abgaben und Schulden und Subventionen und Offshoring nichts ändern. Daran ändern nur technologische Durchbrüche etwas.
Michael Cembalest schreibt: „Europa ist mit einem jährlichen Wachstum des Anteils erneuerbarer Energien von 0,6 % seit 2010 führend, gefolgt von China mit 0,4 % und den USA mit 0,3 %. Bei diesem Tempo wird Europa etwa 20 Jahre brauchen, um einen Anteil von 30 % erneuerbarer Energien zu erreichen. Die Politik sollte sich auf einen langen Weg einstellen, wenn sich die Erzeugung, der Transport und der Verbrauch von Energie nicht grundlegend ändern. Es gibt einen großen Unterschied zwischen High-Tech-Übergängen und S-Kurven mit beschleunigtem Wachstum und der Energiewende dieser Generation, die – zumindest bisher – viel linearer verläuft“.
Die Solarenergie mag eine große Zukunft haben, aber Öl, Gas und Kohle werden noch lange nicht Vergangenheit sein. Die drei Linien im folgenden Diagramm werden ganz bestimmt nicht abrupt nach unten abknicken und in 25 Jahren die X-Achse erreichen.
Abb. 3 Weltweiter Verbrauch an fossilen Energien, Quelle: Michael Cembalest: „15th Annual Energy Paper", J. P. Morgan, März 2025, S. 18.
Dieser Realität müssen wir uns stellen.