16.04.2025
„Cancel Culture ist eine kulturelle Praxis“
Interview mit Julian Nida-Rümelin
Für den Philosophieprofessor und früheren Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin (SPD) bedroht Cancel Culture das System der Demokratie, das auf gegenseitigem Respekt basiert.
Christian Zeller: In Ihrem Buch „Cancel Culture. Ende der Aufklärung? Ein Plädoyer für politische Urteilskraft“ loten Sie die philosophische und philosophiegeschichtliche Tiefendimension von Cancel Culture aus. Zunächst: Was ist Cancel Culture?
Julian Nida-Rümelin: Es ist wichtig, dass man eine klare Begrifflichkeit zugrunde legt. Den Ausdruck „Cancel Culture“ gibt es erst seit 2018, in Europa erst seit 2019, wenn die Linguisten recht haben. Ohne präzise Begriffe ist das ein Spielball für ideologische Scharmützel. Diese haben wir auch in den letzten Jahren erlebt. Deswegen habe ich auch das Buch „Cancel Culture“ geschrieben, um etwas mehr „Klarheit in die Köpfe zu bringen“, um Ludwig Wittgenstein zu zitieren, und habe erst mal mit einer Definition begonnen. Cancel Culture ist nicht ein spezifisches Phänomen von Linken in bestimmten Milieus, die De-Platforming betreiben. Sondern Cancel Culture ist eine kulturelle Praxis, keine staatliche. Viele sagen, es gibt doch keine Cancel Culture, denn es wird ja nicht zensiert. Das ist ein Denkfehler. Zensur ist eine staatliche Praxis, keine kulturelle.
Ich unterscheide bei diesem kulturellen Phänomen verschiedene Eskalationsstufen. Erstens unliebsame Meinungen zu unterdrücken. Also Meinungen, mit denen man nicht einverstanden ist, die man vielleicht schrecklich findet oder die auch vielleicht tatsächlich abwegig sind. Da gibt es verschiedene Methoden. Auf Social Media vielleicht in anderer Weise als in einer Gesprächsrunde. In einer Gesprächsrunde kann man zum Beispiel jemanden, der solche Meinungen äußert, anschreien oder ihn einschüchtern. Die Publizistin Svenja Flaßpöhler hat vor kurzem mit dem damaligen Hart aber Fair-Moderator Frank Plasberg noch mal über ihren Auftritt während der Corona-Pandemie im Jahr 2021 gesprochen. Und interessanterweise hat sich der Moderator für den Ablauf bei ihr entschuldigt. Flaßpöhler hatte den Eindruck, sie verliere ihren Subjektstatus.
Oder ein anderes Beispiel im Kontext des Ukraine-Krieges: Ulrike Guérot in der Talkshow von Markus Lanz. Sie hatte in diesem Gespräch zunächst eine langatmige Ausführung gemacht. Und dann galt: „Feuer frei“. Drei Personen und der Moderator haben auf sie eingehackt und sie kam gar nicht mehr zu Wort. Das ist eine noch relativ weiche Form von Cancel Culture. Härter wird es – und dies ist die zweite Stufe –, wenn Personen aufgrund ihrer geäußerten Meinung diffamiert werden. Die allerhärteste Form dieser Stufe ist die berufliche Vernichtung. Dass der Beruf nicht mehr ausgeübt werden kann, zum Beispiel Professorinnen und Professoren an Universitäten entlassen werden oder nicht mehr zu Vorträgen eingeladen werden, von denen sie aber vielleicht leben. Die dritte Stufe passiert in westlichen Demokratien Gott sei Dank nicht: die physische Vernichtung. In Regimen wie Russland geschieht dies. Hier werden Regimekritiker sogar im Ausland getötet. Ähnliches passiert in China und in vielen anderen Staaten der Welt.
Historisch gesehen ist Cancel Culture der Normalfall. Das reicht zurück bis in die Antike. Demokratie ist aber nicht der Normalfall, sondern eine Sonderform von staatlicher, gesellschaftlicher und kultureller Praxis. Die Demokratie beruht auf den Prinzipien der Aufklärung, deren Grundidee lautet: Wir profitieren vom freien Meinungsaustausch. Wir profitieren davon, uns wechselseitig zuzuhören. Wir alle haben davon etwas, selbst wenn wir im Einzelfall anderer Meinung sind. Das ganze System der Demokratie beruht auf einer kulturellen Praxis des wechselseitigen Respekts, der wechselseitigen Anerkennung. Und diese Praxis wird durch Cancel Culture konterkariert.
„Historisch gesehen ist Cancel Culture der Normalfall.“
Wenn Cancel Culture gegenwärtig nun wieder zunimmt, was sagt das über unsere aufgeklärte Gesellschaft aus?
Da ist etwas eingetreten, vor dem ich in meinem Buch gewarnt habe, nämlich dass da etwas von links begonnen wird, oft mit humanistischen Motiven und dann rechts in brutalerer Form fortgeführt wird. Man will zum Beispiel keine rassistischen Äußerungen oder Äußerungen, von denen sich Transgender-Personen diskriminiert fühlen. Oder man will keinen Rückfall in traditionelle Geschlechterstereotypen und ähnliches. Alles Motive, die man ja sehr gut nachvollziehen kann, die es aber nicht rechtfertigen mit Cancel-Culture-Methoden vorzugehen. Wer behauptet, es gäbe nur zwei biologische Geschlechter, der darf dann nicht mehr auftreten an Universitäten etc. Und das, was so begonnen wird, dies war meine Prognose vor zwei Jahren, wird dann von rechts erst recht praktiziert. Das ist ja eine uralte Geschichte.
Um ein extremes Beispiel zu nennen: Die nationalsozialistische Bewegung hatte Erfolg dadurch, dass sie Methoden übernommen hat, die die Linke ursprünglich erfunden hat. Mit Propaganda, mit Agitation, mit Massenaufmärschen und Emotionalisierung. Dies hat dann diese neue Rechte erst als Jugendbewegung etabliert. Ich vergleiche dabei nichts Unvergleichbares: Der Rechtspopulismus ist nicht die NS-Bewegung. Das ist etwas ganz anderes. Aber dieses Phänomen wiederholt sich gegenwärtig. Das kann man jetzt beobachten nach der erneuten Wahl von Donald Trump. Jetzt wird auf einmal massiv gecancelt. Zum Beispiel Forschungsprojekte, die sich mit unbequemen Themen beschäftigen: Diskriminierung zum Beispiel aufgrund des Geschlechts oder der „ethnischen Herkunft“, auf Englisch „race“. In Deutschland darf man ja „Rasse“ nicht sagen. Auch das ist so ein Phänomen. In den USA gibt es die drei Kategorien Gender, Class, Race. Das sind die drei Kategorien, nach denen untersucht wird, ob es Diskriminierung gibt oder nicht. Bei uns hingegen ist der Ausdruck diskriminiert.
Dieser Trend zur rechten Cancel Culture zeigt sich jetzt ganz deutlich, und das hat es auch damals schon gegeben, als ich 2023 „Cancel Culture“ geschrieben habe. Zum Beispiel bei dem Gouverneur Ron DeSantis in Florida, der durchsetzen wollte, dass in Schulen keine Transgenderpersonen mehr auftreten. Jetzt könnte man einwenden, dass es sich hier um staatliche Zensur und nicht um Cancel Culture handelt. Aber das ist nicht ganz korrekt. Denn die Verbote und die „Bereinigung“ von Schulbibliotheken von bestimmter Literatur, die Homosexualität, Transgender oder die Critical Race Theory thematisieren, finden ja aufgrund von vorauslaufenden kulturellen Praktiken statt. Das heißt, die Eltern der Schüler gehen zur Lehrkraft und sagen, dass sie das nicht wollen. Und dadurch gibt es dann Proteste und dadurch traut sich die Schulleitung nicht mehr. Also ist das nicht unbedingt staatliche Zensur, sondern das ist dann schon eine kulturelle Praxis und die läuft jetzt auf breiter Front. Deswegen ist es so paradox oder absurd geradezu, wenn US-Vizepräsident J. D. Vance zu Recht sagt, dass Europa seine demokratische Kultur gefährde, wenn es hier die Meinungsfreiheit einschränkt. Gemeint ist aber dann die Meinungsfreiheit in dem Sinne, dass Inhalte auf Social-Media-Plattformen – in der Regel US-amerikanische Unternehmen – keiner redaktionellen Kontrolle unterworfen werden. Und dieselbe Regierung, der Vance angehört, praktiziert massiv Cancel Culture, indem zum Beispiel Forschungsprojekte gestoppt werden, die ihr nicht passen.
Gleichzeitig führt ein inflationär verwendeter Rassismus- oder Sexismus-Vorwurf leicht dazu, dass legitime Äußerungen aus dem Diskurs verbannt werden.
Das Interessante ist, welche Äußerungen als rassistisch gebrandmarkt und dann aus dem Diskurs ausgeschlossen werden. Vor einigen Jahren gab es beispielsweise eine Debatte darüber, in der es darum ging, dass fast nur noch Schwarze die Endläufe von Leichtathletikmeisterschaften bestimmen. Und dann gab es einen Trainer, der sagte: „Na ja, das sind die genetischen Vorteile, die diese Menschen haben.“ Dies wurde ihm als rassistisch ausgelegt. Das ist offenkundiger Unfug. Denn der Genpool aus Westafrika, ob das nun in Jamaika oder USA oder Kanada oder Afrika oder Frankreich ist, beherrscht zweifellos die Kurzstreckenläufe ganz massiv. Und bei den Langstreckenläufen ist es eher der Genpool aus Ostafrika. Das ist nicht rassistisch, sondern das ist einfach eine Körperkonstitution, die dort weiterverbreitet und günstiger für diese Sportarten ist. Das hat mit Rassismus überhaupt nichts zu tun, gilt aber als rassistisch und wird massiv gecancelt. Oder wenn man sagt, dass es Begabungsunterschiede zwischen Jungen und Mädchen gibt. Jungen stottern häufiger und lernen im Durchschnitt später die Muttersprache. Das ist mit vielen Studien belegt. Das ist keine Frauen- oder Männerdiskriminierung. Das sind einfach interessante empirische Befunde, über die man sprechen können muss.
Oder ich bringe noch ein drittes Beispiel, um mich besonders unbeliebt zu machen. Da ist etwa die Rede von den „alten, weißen Männern“, und ich sage das jetzt nicht, weil ich vielleicht selber davon betroffen bin. Das ist eine Altersdiskriminierung und eine rassistische Diskriminierung, völlig klar. Das darf aber als solche nicht bezeichnet werden, weil man Weiße angeblich nicht diskriminieren kann, da sie ja mächtig sind. Das ist Unfug, denn es geht um Diffamierung, Herabsetzung, Entwürdigung aufgrund von äußeren Merkmalen. Das ist rassistisch und insofern sind natürlich die herablassenden Sprüche von den „alten weißen Männern“ auch rassistisch. Man stelle sich mal vor, man würde alte, schwarze Frauen in dieser Weise abwerten. Da würde jeder sagen, dass das rassistisch ist. Man muss schon unabhängig von der jeweiligen politischen Präferenz klare Kategorien anlegen und dann kann man genau definieren, um welche Sachverhalte es sich handelt.
„Ich plädiere sehr dafür, die Rechtsdurchsetzung nicht zu delegieren an alle möglichen Instanzen bis hin zu Faktencheckern oft dubioser Interessenlagen.“
Der Diskurs um Meinungsfreiheit und Cancel Culture wirkt teilweise verfahren: Linke beklagen unter anderem „Hass und Hetze“ und sehen darin eine Einschränkung der gelebten Meinungsfreiheit, insbesondere für marginalisierte Gruppen. Konservativere oder gar „rechte“ Zeitgenossen sehen sich genau durch diesen Diskurs um Diskriminierung und Rassismus gecancelt. Wie kommt man aus dieser Situation wieder heraus?
Ich gebe gerne zu, dass da eine Gratwanderung erforderlich ist. Ein wichtiger Aspekt sind dabei unterschiedliche Rechtskulturen zwischen den USA und Europa. In den USA gibt es nicht den Straftatbestand der Beleidigung. Dies führt dazu, dass Menschen, die sich sensibel gegenüber Diskriminierung zeigen wollen, andere Formen der Sanktionen brauchen. Bei uns in Deutschland gibt es hingegen klare rechtliche Regelungen, z. B. Volksverhetzung, üble Nachrede, Beleidigung. Das sind Straftatbestände. Und deswegen können wir anders als in den USA auf weitere kulturelle Sanktionen leichter verzichten. Und ich würde das sehr empfehlen. Auch, was die Kuratierung und Moderierung von Social Media-Plattformen angeht. Im Kontext des europäischen Digital Services Act und anderer deutsche und EU-Bestimmungen ist dies relevant. Wenn die Meinungsfreiheit genutzt wird, um beispielsweise gegen Juden oder gegen Muslime zu hetzen, so ist das Volksverhetzung und stellt eine Straftat dar. Und das muss dann sanktioniert werden. Damit es sanktioniert werden kann, muss die Person, die diese Äußerung tätigt, auch identifizierbar sein. Das wäre eigentlich die Aufgabe einer solchen Gesetzgebung, dass diese anonymen Äußerungen auf Social Media so nicht mehr möglich sind und notfalls von den Plattformen offengelegt werden müssen. Ich plädiere sehr dafür, die geltende Rechtsordnung zugrunde zu legen und die Rechtsdurchsetzung nicht zu delegieren an alle möglichen Instanzen bis hin zu Faktencheckern oft dubioser Interessenlagen. Diese erringen dann auf diese Weise eine Meinungskontrollmacht, die ihnen nicht zusteht.
Man muss einiges aushalten, wenn man Meinungsfreiheit, Pluralität, Diversität ernst nimmt. Das gilt eben auch für das Spektrum von zulässigen Äußerungen. Diversitätsforderung heißt: Wir lassen Vielfalt, unterschiedliche Lebensformen, unterschiedliche Weltanschauungen zu, auch sehr divergierende Auffassungen von richtig und falsch. Welche Kleidung ist angemessen, welche nicht? Gerade was Frauen angeht, ist das ja ein Kampffeld der kulturellen Auseinandersetzung in multikulturellen Gesellschaften geworden. Das gilt aber eben auch für die Meinungsvielfalt. Die Diversität auszuhalten, gehört zu einer offenen, pluralistischen, von der Idee der Aufklärung – das heißt: der Vernunftfähigkeit aller Menschen – geprägten Gesellschaft.
Im Oktober 2024 wurde mit „Respect!“ von der Bundesnetzagentur der erste „Trusted Flagger“ zugelassen, eine NGO also, die im staatlichen Auftrag Meldungen von Social Media-Nutzern entgegennimmt und eine Vorprüfung zur Strafbarkeit von Äußerungen vornimmt und diese dann gegebenenfalls an die Strafverfolgungsbehörden weiterleitet. Wie blicken Sie auf diese Entwicklungen?
Wenn es hilft, die Hilflosigkeit von Nutzern, die diffamiert wurden, zu überwinden, dann ist das eine sinnvolle Sache. Wenn es allerdings zu einer Art Meinungskontrollinstanz wird, dann würde ich sagen: Vorsicht! Ein anderer Aspekt ist die Delegation der Plattform-Regulierung an sog. Community Notes…
Community Notes sind ein System auf Social-Media-Plattformen, auf dem man korrigierende Äußerungen zu Nutzerbeiträgen hinzufügen kann. Sie stellen quasi eine Art dezentralen Faktencheck dar.
Meta versucht beispielsweise die Auflagen der Europäischen Union durch derartige Community Notes zu erfüllen. Meta behauptet nun, dass man damit ja so moderieren und kuratieren würde, wie die EU es vorschreibt. Ich halte das für überhaupt keine Lösung. Community Notes bedeutet ja, dass die Community auf der jeweiligen Plattform bestimmt, welche Regeln nun gelten sollen. Und zwar auf Plattformen, die, wie Facebook, X, Tiktok oder Instagram, de facto die Infrastrukturen der digitalen Kommunikation darstellen. Die Regeln, die dort gelten, sollten vom staatlichen Rechtsrahmen und dem Strafrecht bestimmt werden und nicht durch besonders stark sich artikulierende Meinungen der Nutzer oder persönlichen Präferenzen des Eigentümers. Bei X ist es ja schon so, dass bestimmte linke und liberale Positionen von Musk persönlich gecancelt werden. Dann ist die öffentliche Kommunikation auf den digitalen Medien im Grunde formatiert und man hat keine Meinungsfreiheit mehr.
„Man braucht ja Leute, die vielleicht mal etwas Unbequemes sagen und die nicht dauernd mit Vorhaltungen belästigt werden.“
Mir scheint die Idee der Community Notes durchaus sinnvoll zu sein. Damit sollen ja die sich bisweilen offiziös gerierenden Faktenchecks durch Beiträge von Nutzern ersetzt werden, die die Wahrheit oder Falschheit einer Äußerung kommentieren und einordnen.
Die offiziös sich gebenden Instanzen finde ich ja auch problematisch. Aber wenn wir eine Meldestelle haben, bei der es darum geht, ob die Diffamierung einer Person, ob Beleidigung oder Verleumdung beziehungsweise üble Nachrede und damit Rufschädigung vorliegt, finde ich das gut. Sich permanent dem Mainstream der jeweiligen Nutzergemeinschaft auszusetzen, ist dafür keine Alternative. Der Ausdruck „Querdenker“ ist ja leider diskreditiert, aber man braucht ja Leute, die vielleicht mal etwas Unbequemes sagen und die nicht dauernd mit Vorhaltungen belästigt werden.
Aber kommen Community Notes nicht eigentlich der Idee des freien Diskurses entgegen? Eine Person äußert etwas und dann hat eine andere Person möglicherweise Erkenntnisse, die die Wahrheit oder Falschheit oder auch die normative Angemessenheit dieser Äußerung in Frage stellen.
Solange es ein Austausch von Argumenten ist, ist das ja in Ordnung. Aber Community Notes sollen ja die Moderierung und Kuratierung von Inhalten ersetzen – und damit die Freistellung von redaktioneller Verantwortung. Dies geht noch auf die Entscheidung von Bill Clinton zurück, die damals entstehenden Social Media-Plattformen von redaktioneller Verantwortung freizustellen. Social Media-Plattformen sollten nicht mit denselben Regeln wie Zeitungsredaktionen belegt werden. Statt einer redaktionellen Verantwortung sollen dubiose Praktiken wie die Community Notes einspringen.
Wie stehen Sie denn generell zur politischen Regulierung von sogenannten Fake News, seien es reale oder vermeintliche?
Real oder vermeintlich, das ist genau der Punkt. Um ein jüngst aufgeplopptes Beispiel zu nehmen: Die Hypothese, das Covid-19-Virus sei in einem Labor im chinesischen Wuhan entstanden, wurde auch von seriösen Wissenschaftlern, zu denen leider auch Christian Drosten und viele andere gehörten, als eine Verschwörungstheorie abgetan.
Mittlerweile spricht viel dafür, dass diese Hypothese richtig ist. Merkel und Scholz verzichteten allerdings darauf, die entsprechenden, bereits 2020 vorliegenden Erkenntnisse des Bundesnachrichtendienstes, der die Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit dieser Hypothese als sehr hoch einstufte, der Öffentlichkeit mitzuteilen. Der Hintergrund dessen sei, so hört man, die Rücksichtnahme auf China gewesen. Aber das ist eine Falschdarstellung. Es ging eher um Rücksichtnahme auf die USA, weil die USA in Wuhan entsprechende „Gain of function“-Research gefördert hat.
„Der Realismus, den ich vertrete, der bewährt sich gerade in einem aufgeklärten, kritischen Fallibilismus.“
„Gain of Function“ bedeutet, dass im Labor Mutationen eines Virus oder eines Bakteriums gezüchtet werden. Dadurch bekommt es zusätzlich Eigenschaften oder kann schneller übertragen werden, wodurch es für den Menschen gefährlicher werden kann…
Das war ein US-interner Streit zwischen Anthony Fauci – medizinischer Chefberater des Weißen Hauses während der Corona-Pandemie – und US-Präsident Trump. Aber lassen wir mal das auf sich beruhen. Das war der Hintergrund. Aber das war eine Hypothese, die nicht völlig absurd war, für die es wissenschaftliche Argumente gab, die aber in der medialen Öffentlichkeit monatelang als typische Verschwörungstheorie bezeichnet wurden, unterstützt von seriösen Wissenschaftlern. Unterdessen sieht es so danach aus, dass diese Hypothese richtig ist. Jedenfalls gibt es eine wachsende Anzahl von Wissenschaftlern, die sagen, dass diese Hypothese sehr plausibel ist. Da sieht man, wie gefährlich es ist – denn da geht es ja schließlich um sehr Wichtiges: Wie geht man um mit solchen Pandemien? –, wenn man unbequeme Aussagen, die einem politisch nicht in den Kram passen, unterdrückt. Das kann am Ende zu einem Realitätsverlust führen und Realitätsverlust führt zu Handlungsschwäche.
Wissenschaftsphilosophisch gesprochen: Wenn wir den Falsifikationismus, also die Auffassung, dass Erkenntnis stets vorläufig ist, zur Grundlage nehmen, ist doch die politische Regulierung von Behauptungen aller Art höchst problematisch. Denn das, was heute als unwahr gilt, kann sich eben morgen als wahr herausstellen.
Genau. Der Realismus, den ich vertrete, philosophisch und politisch, muss sich nicht daran bewähren, dass es eine Instanz gibt, die uns allen sagt, was richtig und falsch ist, zum Beispiel „die“ Wissenschaft. Sondern der Realismus, den ich vertrete, der bewährt sich gerade in einem aufgeklärten, kritischen Fallibilismus. Wir überprüfen, ob eine Vermutung zutrifft oder nicht zutrifft. Wir lassen ein breites Spektrum von Auffassungen zu, damit wir dahinterkommen, damit wir auch vielleicht zunächst abwegig erscheinende Erklärungen prüfen. Diese können sich unter Umständen als richtig herausstellen. Das hat die Wissenschaftsgeschichte oft genug gezeigt. Und das macht ja gerade die Substanz der Aufklärung aus. Die Wissenschaft ist nicht die letzte Instanz von Wahrheit und Falschheit. Die Wissenschaft trägt wesentlich dazu bei, dass wir bestimmte Sachverhalte aufklären können. Aber sie ist keine letzte Instanz, die sozusagen den Realismus erst rechtfertigt. Und für mich geht es ja noch weiter: Ich sage, der Realismus ist eigentlich in unserer Lebenswelt verankert. Dort funktioniert er sehr gut. Und umso weiter wir uns daraus entfernen, umso dubioser werden unsere bildlichen Vorstellungen der Realität. Man denke etwa an die Quantenphysik.
Das ist dann der „unaufgeregte Realismus“, von dem Sie an anderer Stelle sprechen.
Genau. Ich habe ein ganzes Büchlein darüber geschrieben.
„Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass es da in der Mitte so irgendwas Vages gibt, wo alle sich einig und alle vermeintlich vernünftig sind.“
Sprechen wir abschließend noch über Ihre eigenen Erfahrungen in der Politik. Sie waren ja neben Ihrem Dasein als Philosoph auch politisch tätig, als Kulturreferent der Stadt München 1998 bis 2001 sowie als Kulturstaatsminister unter der Regierung Schröder von 2001 bis 2002. Haben Sie unter dem Gesichtspunkt „Cancel Culture“ eine Veränderung des politischen Betriebs erlebt? Ist der Diskurs Ihrer Wahrnehmung nach enger geworden?
Also, da hat sich massiv etwas verändert. Ich würde mal sagen, es gab heftige Auseinandersetzungen. Nehmen wir nicht nur diese paar Jahre meiner politischen Tätigkeit in München und Berlin. Ich war ja auch vorher lange Jahre ehrenamtlich, politisch, engagiert. Seit meinem 19. Lebensjahr spätestens und vielleicht schon vorher als Schulsprecher. Ich habe mich immer als politischen Menschen, als political animal, homo politicus verstanden. Sozusagen zwischen den beiden Polen Wissenschaft und Politik hat sich mein Leben irgendwie organisiert. Da ich ja nicht mehr ganz jung bin, kann ich von daher ein bisschen zurückblicken. Und es gab natürlich heftige polemische, auch diffamierende Auseinandersetzungen. Auch im Deutschen Bundestag. Die Pole zwischen der Adenauer-CDU oder dann eben auch der CDU danach und der damals noch sehr fest im linken Spektrum verankerten Sozialdemokratie waren sehr viel heftiger, als sie heute sind. Auf der anderen Seite hat diese Polarität dazu geführt, dass die Meinungsvielfalt leichter zu realisieren war. In den öffentlich-rechtlichen Medien gab es eben die eher dem einen Pol und die dem anderen Pol zuneigenden Gesprächsformate. Und damit war eine gewisse Vielfalt garantiert.
Und wir haben jetzt in mehreren Krisen – sowohl in der Migrationskrise wie in der Covid-Krise, wie jetzt auch in der Situation mit dem Krieg in der Ukraine – doch eine gewisse Formatierung oder Mainstreamisierung der seriösen Medien, nicht nur der öffentlich-rechtlichen, sondern auch von Spiegel, Zeit, Süddeutsche, F.A.Z. und so weiter, erlebt. Und das wiederum macht diejenigen Menschen, die sich da nicht wiederfinden, wepsig. Sie suchen sich dann andere, alternative Medien. Unter Umständen driften sie in Verschwörungstheorien ab, wie in der Corona-Krise besonders deutlich wurde. Und andere, mit Verlaub, orientieren sich an einer Partei, die sich als „die“ Alternative darstellt. Und das ist hochgefährlich. Deswegen bin ich der Auffassung, es müssen im demokratischen Spektrum die Gegensätze deutlich sein. Die müssen auch klar positioniert und ausgetragen werden. Das kann auch polemisch geschehen. Aber in einem demokratischen Grundrespekt und nicht in einer Haltung „Das ganze System gehört abgeschafft und alle sind Lumpen und die ganze politische Klasse gehört ins Gefängnis.“ Ich übertreibe jetzt nur ein bisschen. Und das ist genau die Gratwanderung, auf der wir jetzt befinden. Wir brauchen diese Gegensätze in meinen Augen im demokratischen Spektrum. Es muss deutlich sein, um was gerungen wird. Es geht wirklich um etwas. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass es da in der Mitte so irgendwas Vages gibt, wo alle sich einig und alle vermeintlich vernünftig sind. Und dann gibt es noch eine Alternative dazu. Dann passiert genau das, was in Italien passiert ist, dass nämlich eine, ich sage das mit Bedacht, neofaschistische Partei auf einmal die Regierungschefin stellt.
Das Interview führte Christian Zeller.