07.11.2022
Cancel Culture: Eine Begriffsbestimmung
Von Kolja Zydatiss
Ziel der Cancel Culture ist die Einschüchterung Andersdenkender. Sie geht meist von Linken aus, die aus ihrer Sicht „unaufgeklärten“ Positionen nicht in einem Diskurs auf Augenhöhe begegnen wollen.
Zum aktuellen Stand der Meinungsfreiheit in Deutschland gibt es sehr unterschiedliche Auffassungen. „In unserer Gesellschaft kann doch jeder sagen, was er will!“, heißt es aus tonangebenden Kreisen bis hoch zur Bundesregierung. Allerdings gaben im Jahr 2019 fast 80 Prozent der Teilnehmer einer Allensbach-Umfrage an, bei einigen beziehungsweise vielen Themen sei öffentliche Meinungsäußerung in Deutschland nur mit Vorsicht möglich. 1 Tatsächlich ist die Meinungsfreiheit in Deutschland rechtlich gut geschützt. Aber man erlebt immer häufiger, wie Menschen aufgrund ihrer Meinung aus ihrem Job oder aus Organisationen gedrängt oder von Veranstaltungen ausgeladen werden.
Podiumsdiskussionen, Lesungen und Seminare werden abgesagt oder abgebrochen, weil Aktivisten stören oder Störungen androhen. Protestkampagnen sollen Verlage dazu bringen, bestimmte Bücher nicht herauszubringen oder sich von bestimmten Autoren zu trennen. Seit etwa zwei Jahren werden diese auf eine informelle „Zensur“ hinauslaufende Unterdrückung zumeist kontroverser, aber rechtlich von der Meinungsfreiheit gedeckter Äußerungen sowie die Ausgrenzung und „Bestrafung“ der betreffenden Redner oder Autoren vor allem im beruflichen Umfeld auch im deutschsprachigen Raum unter dem Stichwort „Cancel Culture“ diskutiert (Englisch „to cancel“ = „absagen“, „annullieren“, „absetzen“, „widerrufen“, „abbrechen“, „stornieren“). In der Anglosphäre ist der Begriff schon etwas länger gebräuchlich, was sich zum Beispiel in der Erstellung eines eigenen Eintrags in der englischsprachigen Wikipedia Ende 2018 zeigt.
Der Cancel-Culture-Begriff ist polarisierend. Einige, meist der identitätspolitischen Linken nahestehende Kommentatoren behaupten, es gäbe gar keine Cancel Culture, weder in Deutschland noch in der englischsprachigen Welt. Die Spiegel-Kolumnistin Margarete Stokowski meint etwa, die allermeisten Menschen, die als Teil der Cancel Culture betrachtet würden, seien „nicht in der Lage, irgendetwas zu verbieten, sondern sie kritisieren einfach bestimmte Werke, Kunstschaffende oder Institutionen […].“ In Einzelfällen verlören die Kritisierten einen Job, sie kriegten aber „oft sehr schnell einen anderen“. Mit dem Begriff werde eine vermeintliche Bedrohung von links inszeniert, „die es faktisch nicht gibt“. 2
Andere ebenfalls mit der identitätspolitischen Linken sympathisierende Stimmen erkennen die Existenz des Phänomens an und heißen es im Wesentlichen gut. Aktionen wie die oben beschriebenen sind für diese Kommentatoren ein begrüßenswertes Korrektiv, das rassistische, sexistische, homophobe oder anderweitig verletzende und politisch fragwürdige Akteure in ihre Schranken weist und den Einfluss und Schutz von Minderheiten wie Schwarzen, Migranten, Schwulen, Lesben oder Trans-Personen stärkt. 3 Wiederum andere Kommentatoren betrachten die Cancel Culture als ein reales (und vielleicht bedrohliches), aber fast ausschließlich auf die Anglosphäre beschränktes Phänomen.
„Podiumsdiskussionen, Lesungen und Seminare werden abgesagt oder abgebrochen, weil Aktivisten stören oder Störungen androhen. Protestkampagnen sollen Verlage dazu bringen, bestimmte Bücher nicht herauszubringen oder sich von bestimmten Autoren zu trennen.“
Im Kontext von Cancel-Culture-Debatten hört man auch oft die Aussage: „Meinungsfreiheit ist nicht gleich Widerspruchsfreiheit.“ Wie der Autor Philipp Bender bemerkt, wird diese Argumentation in Variationen von allen möglichen mehr oder minder einflussreichen Figuren und Institutionen ins Feld geführt, von „[Fernsehmoderator] Claus Kleber über [Islamwissenschaftlerin] Lamya Kaddor, Europaparlamentarier*In_x Terry Reintke von der grünen Partei, ‚Influencer‘ Rezo, [dem] Redaktionsnetzwerk Deutschland, Die Zeit und die F.A.Z. bis hin zur Märkischen Onlinezeitung“ und von der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel. 4
Auch die Aussage „Meinungsfreiheit ist nicht gleich Widerspruchsfreiheit“ soll die Existenz des Phänomens Cancel Culture negieren beziehungsweise seinen Einfluss kleinreden. In einem trivialen Sinne ist diese Aussage natürlich richtig. In einer Demokratie muss jeder damit leben, dass er kritisiert und seinen Meinungsäußerungen widersprochen werden kann, und dieser Widerspruch beziehungsweise diese Kritik darf selbstverständlich auch scharf, polemisch und/oder ad hominem sein, solange bestimmte vom Gesetzgeber gezogene Grenzen („üble Nachrede“, „Schmähkritik“ usw.) nicht überschritten werden. Wenn ich etwa in einem Online-Beitrag dem Publizisten und Berufsprovokateur Akif Pirinçci bescheinige, in den letzten Jahren „ins Wahnhafte abgebogen“ zu sein, so betreibe ich noch lange keine Cancel Culture, auch wenn einige aufgebrachte Leser mir genau dies vorgeworfen haben.
Wie ich allerdings in meinem Sachbuch „Cancel Culture: Demokratie in Gefahr“ (Münster 2021) 5 ausführlich dargelegt habe, nimmt der sogenannte „Widerspruch“ heute zunehmend Formen an, bei denen nicht der Diskurs, also der Widerstreit verschiedener Meinungen, im Mittelpunkt steht. Stattdessen soll durch die Unterdrückung von Meinungen und die Bestrafung Andersdenkender die Meinungsvielfalt reduziert werden. Dies führt zu einer deutlichen Verarmung des politischen und kulturellen Lebens und bedroht meiner Ansicht nach letztlich die demokratische Kultur.
Fallbeispiele
Zu dieser Entwicklung, die ich – wie andere ähnlich um die Debattenkultur in westlichen Gesellschaften besorgte Autoren – „Cancel Culture“ nenne, einige aktuelle chronologisch geordnete Beispiele aus Deutschland, ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit:
2017
Ein geplanter Vortrag des Bundesvorsitzenden der Deutschen Polizeigewerkschaft Rainer Wendt an der Goethe-Universität Frankfurt zum Thema „Polizeialltag in der Einwanderungsgesellschaft“ wird abgesagt. Zuvor hatten linke Gruppierungen gegen die Veranstaltung mobilisiert. Auch ein offener Brief von 60 Wissenschaftlern der Goethe-Universität und anderer deutscher Hochschulen fordert, Wendt nicht sprechen zu lassen. Der Polizeigewerkschaftschef verstärke „rassistische Denkstrukturen“ und positioniere sich „fernab eines aufgeklärten Diskurses“. 6 Wendt hatte in Bezug auf die Merkel’sche Grenzöffnung für Flüchtlinge 2015 davon gesprochen, dass Deutschland „kein Rechtsstaat“ sei, und behauptet, Polizeibeamte in Deutschland würden kein sogenanntes Racial Profiling betreiben.
2019
Die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung sagt überraschend eine geplante Lesung mit Chaim Noll in Leipzig ab. Nachdem der deutsch-israelische Schriftsteller zunächst keine Begründung erhält, äußert sich der Leiter des zuständigen Landesbüros, Matthias Eisel, später gegenüber der Presse und begründet die Absage mit Nolls Kritik an der deutschen Außenpolitik gegenüber Israel und dem Iran, welche der Autor unter anderem auf dem Weblog „Die Achse des Guten“, auf dem auch migrations- und islamkritische Meinungen veröffentlicht werden, publiziert.
Im selben Jahr verhindern knapp 100 linke Demonstranten eine Lesung des ehemaligen Bundesinnen- und Verteidigungsministers Thomas de Maizière beim Göttinger Literaturherbst. Der Geschäftsführer des Literaturherbstes, Johannes-Peter Herberhold, wird von den Demonstranten attackiert, Teile seiner Kleidung werden dabei zerrissen. De Maizière hatte den Zorn der Antifa-Szene auf sich gezogen, weil er mitverantwortlich für den sogenannten Flüchtlingsdeal mit der Türkei ist.
Wenig später kehrt Bernd Lucke, Ökonom, AfD-Mitgründer und späterer Politiker der moderateren AfD-Abspaltung Liberal-Konservative Reformer (LKR), nach seinem Ausscheiden aus dem Europaparlament wieder an seinen Arbeitsplatz als Professor für Makroökonomie an der Universität Hamburg zurück. Seine beiden ersten Vorlesungen kann Lucke aufgrund von „Nazischwein“-Rufen und ohrenbetäubendem Trillergepfeife linker Aktivisten nicht halten. Beim Verlassen des Hörsaals wird er von einem Randalierer zu Boden gestoßen. Die Uni-Leitung weigert sich, die Störungen zu verurteilen, und spricht stattdessen vage von einer „diskursiven Auseinandersetzung“, die man „insbesondere vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte“ aushalten müsse. 7 Spätere Vorlesungen Luckes müssen von einer Polizei-Hundertschaft geschützt werden.
Ebenfalls 2019 weigern sich einige an der Leipziger Jahresausstellung teilnehmende Künstler, ihre Werke zusammen mit denen des sächsischen Malers und Grafikers Axel Krause auszustellen. Zunächst wird von den Veranstaltern erwogen, die Ausstellung ganz abzusagen. Später wird Krause ausgeladen und die Ausstellung mit Verspätung doch noch eröffnet. Krause hatte in der Vergangenheit migrationskritische Aussagen in den Sozialen Medien gepostet und die AfD ein „begrüßenswertes Korrektiv im maroden Politikbetrieb“ genannt. 8
2020
Eine Podiumsdiskussion mit dem Titel „Die Verschleierung: Modeaccessoire, ein religiöses Symbol oder ein politisches Instrument?“ an der Goethe-Universität Frankfurt muss wegen Störungen linker Gruppen, darunter „Studis gegen rechte Hetze“, unterbrochen werden. Auf das Angebot, mitzudiskutieren, gehen die Demonstranten nicht ein. Als sie gebeten werden, den Saal zu verlassen, eskaliert die Situation. Es kommt zu einer Schlägerei, ein Tisch wird umgeworfen. Als die Polizei am Ort eintrifft, beruhigt sich die Lage wieder, und die Diskussion kann fortgesetzt werden.
Im selben Jahr wird der auf Deutsch bei Hanser und DTV erschienene Bestseller „24 Gesetze der Verführung“ des US-amerikanischen Autors Robert Greene von beiden Verlagen sowie von der Buchhandelskette Thalia aus dem Sortiment genommen und verschwindet aus dem Verzeichnis lieferbarer Bücher. Vorangegangen war eine Protestkampagne des Blogs „Feministisches Lesen“, der sich weitere feministische Influencer anschlossen. Für die Kritiker ist das Buch eine „Anleitung zu psychischer Gewalt“, die „in niemandes Hände geraten“ dürfe. 9 Als das Buch 2002 erschien, wurde es noch hoch gelobt. „Reflexionen und Instruktionen im Plauderton wechseln mit amüsanten Nacherzählungen exemplarischer Verführungsgeschichten und Verführerschicksale. […] In die Geschichte der Überraschung und der Geduld führt Robert Greenes Bestseller-Anwärter auf vergnügliche Art ein“, urteilte etwa ein Rezensent der Süddeutschen Zeitung. 10
Ebenfalls 2020 erfährt die Ausladung der österreichischen Kabarettistin Lisa Eckhart vom Hamburger Literaturfestival „HarbourFront“ große mediale Aufmerksamkeit. Sie wollte dort aus ihrem Debütroman „Omama“ lesen. Als Begründung für die Ausladung gibt die Festivalleitung Sicherheitsbedenken an. Der Veranstaltungsort Nochtspeicher habe sich an sie gewandt, mit dem Hinweis, dass sich im „bekanntlich höchst linken Viertel“ Hamburg-St. Pauli der Protest gegen Eckarts Auftritt schon formiere. Polizeischutz für die Veranstaltung könnte die Situation „sogar noch eskalieren und gar zu Straßenscharmützeln führen“ 11. Noch vor den Betreibern des Nochtspeicher hatten sich zwei Autoren bei der Festivalleitung gemeldet und sich geweigert, gemeinsam mit Eckhart im Format „Debütantensalon“ aufzutreten. Daraufhin wurde der Künstlerin eine Solo-Lesung eingeräumt. Eckhart wird immer wieder angegriffen, weil sie in ihren künstlerischen Performances rassistische und antisemitische Klischees bediene.
„Durch die Unterdrückung von Meinungen und die Bestrafung Andersdenkender soll die Meinungsvielfalt reduziert werden.“
Ein Klima der Angst
Auch wenn Cancel-Culture-Forderungen ins Leere laufen, die Zielperson oder -personen also vordergründig unbeschadet davonkommen, schaffen sie ein Klima der Angst. Die Betroffenen und andere ähnlich Denkende, die den Cancel-Angriff mitbekommen, werden wahrscheinlich in Zukunft sehr genau überlegen, wie sie sich öffentlich äußern. Auch hierzu ein aktuelles Beispiel:
Eine Jury des Kreises Stormarn (Schleswig-Holstein) entscheidet im Juni 2021 einstimmig, das mit 10.000 Euro dotierte Förderinstrument „Kulturfonds Stormarn – der innovative Kulturpreis“ an Nicole Bäumer und Martin Dronsfield zu vergeben. Prämiert werden soll das lokale Künstlerpaar für sein Projekt „Gegessen wird, was auf den Tisch kommt“, welches sich mit regionaler und nachhaltiger Ernährung befasst. Die Pressemitteilung mit der Ankündigung der Preisträger ist schon raus, als die Jurymitglieder von Dritten auf einen Zeitungsartikel aufmerksam gemacht werden, der sich mit der Tatsache befasst, dass Bäumer und Dronsfield seit November 2020 öffentliche „Mahnwachen für Dialog und Frieden“ organisieren, auf denen sie sich unter anderem kritisch mit den Corona-Maßnahmen auseinandersetzen. Abrupt wird das Vergabeverfahren ausgesetzt, die Jury zieht sich Zwecks einer „erneuten Prüfung“ zurück.
Nach fast zwei Monaten dann die Entwarnung: Bei den Künstlern sind keine fragwürdigen, extremistischen Einstellungen erkennbar, sie können den Preis bekommen. Es bleibt der Eindruck inquisitorischer Gesinnungsschnüffelei, einer moralischen Panik rund um das (aus welchen Gründen auch immer) „rechts“-konnotierte Thema der „Coronakritik“, die an die paranoide Hatz auf linke Künstler und Intellektuelle in den Vereinigten Staaten während der McCarthy-Ära erinnert. Aus persönlichen Gesprächen mit den Betroffenen weiß ich, dass die Erfahrung für sie sehr unangenehm war.
Zusammengefasst: Ziel der Cancel Culture ist nicht der Diskurs, sondern die Verengung des Meinungsraums. Vermeintlich „falsch“ Denkende sollen für ihre Meinungen bestraft werden. Ein Klima der Angst soll Menschen dazu bringen, Selbstzensur zu üben (dass diese Strategie erfolgreich ist, zeigen Meinungsumfragen wie die eingangs erwähnte Allensbach-Studie). Oft liegt Cancel-Culture-Angriffen ein paternalistisches Denken zugrunde. Aktivisten, die sich als Speerspitze des sozialen Fortschritts betrachten und/oder vorgeben, die Interessen von Minderheiten zu vertreten, wollen bestimmen, was andere sehen, hören oder kaufen.
„Auch wenn Cancel-Culture-Forderungen ins Leere laufen, die Zielperson oder -personen also vordergründig unbeschadet davonkommen, schaffen sie ein Klima der Angst.“
Einschüchterungsmethoden der Cancel Culture sind unter anderem Gespräche mit Vorgesetzten, um von Dritten erhobene Vorwürfe zu „klären“; Störungen, Ausladungen und Absagen von Veranstaltungen; Auftragsverlust; Jobverlust; Beschädigung von Privateigentum; im Extremfall – wie bei Professor Bernd Lucke oder dem Geschäftsführer des Göttinger Literaturherbstes Johannes-Peter Herberhold – körperliche Angriffe. Oft geht es um Meinungen, die von den Cancel-Culture-Aktivisten als „diskriminierend“, „verletzend“ oder anderweitig „unaufgeklärt“ bewertet werden. Die heikelsten Themen sind meiner Wahrnehmung nach Rechtspopulismus, (Trans-)Gender, Islam, Rassismus, Migration, Klimawandel und neuerdings Corona.
Treiber der Cancel Culture
Cancel Culture ist ein Angriff auf Meinungsfreiheit und -vielfalt und damit unabhängig von der politischen Stoßrichtung als problematisch zu bewerten. Wie ich in meinem Buch feststelle, überwiegen derzeit Fälle, bei denen die Betroffenen sich selbst im Meinungsspektrum eher rechts sehen oder von ihren Angreifern dort verortet werden. Ich führe das in meiner Analyse auf eine stärkere Überzeugung innerhalb der politischen Linken zurück, auf der „richtigen“ Seite der Geschichte zu stehen, was besonders unduldsam macht gegenüber Meinungen, die von Linken als „unaufgeklärt“ oder „gestrig“ betrachtet werden.
Mit dem deutschen Philosophen und Publizisten Alexander Grau argumentiere ich, dass mit „progressiver“ Politik sympathisierende Personen oft in einem teleologischen Geschichtsbild gefangen scheinen. Sie gehen also davon aus, dass die Geschichte sich auf bestimmte Ziele hin erfüllt, etwa eine Welt ohne Grenzen und Nationen oder eine Welt, in der sogenannte Genderfluidität (also die Selbstverortung außerhalb der traditionellen binären Kategorien Mann und Frau) die Norm ist. Vor diesem Hintergrund ist die Unterdrückung „konservativer“ Gegenpositionen mehr als nur eine Frage der persönlichen Präferenz. Sie erscheint als die Realisierung eines vorgegebenen Verlaufs gesellschaftlicher und moralischer Entwicklung. 12
Andere Autoren wie der US-amerikanische Philosoph Peter Boghossian erklären die Vehemenz der linken Cancel Culture unter anderem mit der (insbesondere unter identitätspolitischen Aktivisten verbreiteten) Vorstellung, dass Sprache Gewalt sei. In einem Essay versetzt sich Boghossian in diese Denkweise:
„Und wenn Sprache Gewalt ist, so die Überlegung, dann müssen wir Sprache mit derselben Entschlossenheit bekämpfen, mit der wir physische Gewalt bekämpfen. […] Wenn jemandem ins Gesicht geschlagen wird, ist es zwecklos zu sagen: ‚Würden Sie damit bitte aufhören?‘ oder ‚Das ist keine ethische Verhaltensweise‘. Sie müssen handeln. Die Spielregeln ändern sich, wenn Rede nicht mit Rede beantwortet werden kann – mit schriftlichen Gegenargumenten, Debatten und Fragerunden. Wenn Sprache Gewalt ist, muss sie mit etwas anderem als Sprache verhindert oder gestoppt werden, zum Beispiel indem man Nazis boxt, Milchshakes wirft oder institutionelle Mechanismen einsetzt, um unerwünschte Äußerungen zu unterdrücken.“ 13
„Ziel der Cancel Culture ist nicht der Diskurs, sondern die Verengung des Meinungsraums.“
Seltener hört man aber auch von Cancel-Culture-Angriffen, die von Konservativen oder Liberalen ausgehen und sich gegen Linke richten. Ein Beispiel aus dem Jahr 2021 wäre die Denunzierung der Umweltaktivistin Hanna Poddig durch Hochschulgruppen des Rings Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) und der Jungen Liberalen. Diese machten Stimmung gegen einen geplanten Auftritt Poddigs auf dem digitalen Kongress „Zukunft(s)gestalten“ der Europa-Universität-Flensburg. Die Rednerin distanziere sich nicht ausreichend von militanten Öko-Aktivisten, die in Flensburg Firmenfahrzeuge eines Bauunternehmens beschädigt hätten. Der unter Druck geratene Präsident der Universität, Werner Reinhart, entschied, nur Uni-Angehörige zu der Diskussionsrunde mit Poddig zuzulassen, woraufhin eine andere wichtige Rednerin absprang und der Programmpunkt schließlich ganz gestrichen wurde. Beachtenswert ist hier vor allem der Aspekt des Kontaktschuld-Herstellens, eine Taktik, die bei der Cancel Culture eine wichtige Rolle spielt und von „Rechten“ wie „Linken“ eingesetzt wird, um politische Gegner vom Diskurs auszuschließen.
Legitime Cancel Culture?
Gibt es auch Umstände, unter denen „Canceln“ legitim sein kann? Tatsächlich gibt es einige wenige unter dem Stichwort Cancel Culture diskutierte Fälle, bei denen – anders als bei allen bisher in diesem Text behandelten Beispielen – zum Aspekt des Strafens und Einschüchterns noch die sehr konkrete Besorgnis kommt, eine Person könnte sich als Repräsentantin einer Organisation im unmittelbaren Kundenkontakt nicht professionell oder „anschlussfähig“ verhalten.
Aus meiner Sicht fällt zum Beispiel der Fall einer Flugbegleiterin der Austrian Airlines (und Nachwuchspolitikerin der rechtspopulistischen österreichischen Kleinpartei „Team HC Strache“) in diese Kategorie. Die Mitarbeiterin wurde im August 2020 entlassen, nachdem sie auf einer Demo gegen die Coronamaßnahmen unter anderem „Rothschild muss weg. Rockefeller muss weg. Illuminati müssen weg“ gerufen hatte. Hier ging es möglicherweise nicht nur darum, eine politisch profilierte Person aus allgemeinen Gründen für ihre Meinung zu bestrafen beziehungsweise mundtot zu machen. Vermutlich war die Fluggesellschaft auch von der konkreten Sorge geleitet, besagte Mitarbeiterin könnte sich auf Grund ihres antisemitisch gefärbten Verschwörungsdenkens gegenüber Israelis oder als jüdisch zu erkennenden Fluggästen nicht ausreichend neutral und professionell verhalten.
Was, wenn eine Olympionikin als symbolische Repräsentantin des deutschen Staates selbst nichts politisch Fragwürdiges sagt oder tut, aber ihr Lebenspartner? Interessanterweise stellten sich 2012 sowohl der Deutsche Ruderverband als auch Prominente aus verschiedensten politischen Lagern hinter die Rostocker Ruderin Nadja Drygalla, die als Mitglied der deutschen Olympiamannschaft zu den Olympischen Spielen in London gereist war. Einige Medien hatten Drygalla dafür angegriffen, dass sie zu dieser Zeit in einer langjährigen Beziehung mit einem NPD-Direktkandidaten und Aktivisten der neonazistischen Kameradschaftsszene war. Die Sportlerin wegen ihres Freundes „in Sippenhaft“ zu nehmen sei falsch, meinten unter anderem der damalige Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU), der damalige Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern Erwin Sellering (SPD) und der SPD-Politiker Sebastian Edathy, damals Vorsitzender des Bundestags-Untersuchungsausschusses zur neonazistischen Terrorgruppe NSU. Aus meiner Sicht ein gerechtfertigter Vertrauensvorschuss, schließlich war die damals 23-Jährige selbst nie mit rechtsradikalen Äußerungen aufgefallen, wie auch ihre Teamkameraden bezeugten.
„Oft liegt Cancel-Culture-Angriffen ein paternalistisches Denken zugrunde.“
Fazit
Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass Meinungsfreiheit nicht gleich Widerspruchsfreiheit ist. In einer Demokratie gehören Widerspruch, Kritik, auch scharfe und polemische rhetorische Angriffe, innerhalb recht freizügig gezogener rechtlicher Grenzen zur Debattenkultur dazu. Die Demokratie ist kein „Safe Space“. Allerdings wird heute zunehmend auf Meinungsäußerungen und politische Positionierungen auf eine Art und Weise reagiert, die wenig bis gar nichts mit einem Diskurs, also dem freien Austausch von Argumenten, zu tun hat. Stattdessen geht es um Einschüchterung und Bestrafung des Andersdenkenden, etwa indem negative berufliche Konsequenzen für den Betroffenen herbeigeführt, Redebeiträge gestört, oder – im Extremfall – der politische Gegner sogar körperlich angegriffen wird. Viele Kommentatoren, darunter der Autor dieses Beitrags, nennen dieses Phänomen „Cancel Culture“. Für seine Existenz auch im deutschsprachigen Raum gibt es eine Vielzahl an Beispielen, die zum Teil große mediale Aufmerksamkeit erfahren haben.
Selbst wo Cancel-Culture-Angriffe letztlich ins Leere laufen, der Angegriffene also zum Beispiel trotz Denunziation seinen Job behalten darf, doch nicht von einer Veranstaltung ausgeladen wird usw., tragen sie zu einem Klima der Angst bei. Ziel der Cancel Culture ist, Menschen mit unliebsamen, aber rechtlich von der Meinungsfreiheit gedeckten Meinungen dazu zu bringen, Selbstzensur zu üben. Besonders problematisch ist Cancel Culture, wenn ihr nicht einmal konkrete Äußerungen oder Taten des Opfers zu Grunde liegen, sondern dessen private oder berufliche Kontakte (Kontaktschuld). Kompliziert sind Fälle, bei denen einer Person von einer Organisation eine exponierte Rolle verwehrt wird, weil ihre privaten Äußerungen oder Aktivitäten Zweifel an ihrer Professionalität oder Neutralität aufkommen lassen. Hier kollidiert das Recht auf freie Meinungsäußerung mit dem legitimen Interesse insbesondere von Dienstleistungsunternehmen, nach außen hin, etwa im Kontakt mit Kunden, professionell, anschlussfähig und/oder kulturell sensibel vertreten zu werden.
Dass Cancel Culture sich tendenziell eher gegen konservative oder als konservativ betrachtete Positionen richtet und von Linken ausgeht, könnte unter anderem damit zu tun haben, dass letztere in politischen Auseinandersetzungen keinen Streit auf Augenhöhe sehen, sondern die Realisierung eines metaphysisch vorbestimmten Geschichtsverlaufs, von „gestrigen“ oder „unaufgeklärten“ hin zu „progressiven“ Normen (teleologisches Geschichtsverständnis). Linke sind außerdem viel eher als Konservative dazu geneigt, verbale Äußerungen mit physischer Gewalt gleichzusetzen, was ein zensorisches Denken begünstigt.
Cancel Culture ist problematisch, weil sie eine Verarmung des politischen und kulturellen Lebens nach sich zieht. Es ist nicht übertrieben, sie als ernste Bedrohung für die demokratische Kultur zu bezeichnen, denn in einer funktionierenden Demokratie ist der Kampf um die öffentliche Meinung der zentrale Mechanismus. Vor diesem Hintergrund ist es erfreulich, dass in den letzten Jahren auch in Deutschland einige neue Organisationen und Netzwerke zur Verteidigung der Meinungs-, intellektuellen und akademischen Freiheit entstanden sind, etwa die Online-Datenbank cancelculture.de, die seit August 2020 Cancel-Culture-Fälle aus dem deutschsprachigen Raum dokumentiert; die als Antidot zur Cancel Culture konzipierte laufende Vortragsreihe „Top-Referent“ der Ferdinand Friedensburg Stiftung e.V. oder das Anfang 2021 unter Federführung angesehener Persönlichkeiten aus Forschung und Lehre gegründete „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“.