16.08.2021

Bürgerrechte unter Vorbehalt

Von Alexander Horn

Titelbild

Foto: x3 via Pixabay

Die Corona-Impfung soll zur Bedingung für die vollumfängliche Gewährung der Bürgerrechte werden. Es geht um weit mehr als nur die Impfpflicht durch die Hintertür.

Wenn es zu „Einschränkungen für Nichtgeimpfte“ komme, so warnte Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) noch vor dem Bund-Länder-Treffen am Dienstag letzter Woche, sei das „die selbstgewählte Konsequenz aus der freien Entscheidung sich nicht impfen zu lassen“. Zwar wurde im Bund-Länder-Treffen vom 10. August vereinbart, dass Geimpfte, Genesene und Getestete formal weiterhin gleichgestellt sind, allerdings werden die praktischen Hürden der Gleichbehandlung hochgeschraubt. Für Innenräume wird von nicht Geimpften oder Genesenen generell die Vorlage eines aktuellen Negativtests verlangt und dieser soll ab dem 10. Oktober 2021 kostenpflichtig sein.

Kretschmanns Landesregierung hat den Druck nun zusätzlich erhöht, indem sie die Vorlage des gegenüber dem Antigen-Schnelltest wesentlich teureren PCR-Tests zu Bedingung macht, um uneingeschränkt am öffentlichen Leben teilnehmen zu dürfen. Die gleiche Herangehensweise vertritt der Hamburger Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD). Auch er will die PCR-Testpflicht durchsetzen und begründet dies mit der höheren Zuverlässigkeit des Tests.

Im Interview mit der F.A.Z. ging Tschentscher sogar noch weiter. Er führte aus, dass er einen Lockdown für alle nicht mehr für vertretbar halte, wohl aber „Beschränkungen für diejenigen, die keinen Impfung haben, obwohl diese seit langem empfohlen wird.“ Konkret könne dies bedeuten, dass Geimpfte „zum Beispiel weiterhin Veranstaltungen in der Kultur und im Sport besuchen [könnten], während das für Ungeimpfte bei einer entsprechend hohen Inzidenz nicht möglich ist.“ Das seien dann „Beschränkungen, von denen Geimpfte nicht betroffen sind“, stellte er unmissverständlich klar.1

Markus Söder (CSU) bläst in das gleiche Horn. Nach dem Bund-Länder-Treffen zeigte er sich nicht zufrieden und verhehlte nicht, dass er lieber eine 2G-Regel, also ausschließlicher Zutritt für Genesene und Geimpfte, gesehen hätte. Für ihn ist es nur eine Frage der Zeit, bis eine Diskussion über 2G folgt. Schon jetzt gebe es viele Einrichtungen, die nur noch für Geimpfte öffnen. Söder stellt klar: „Das ist die Realität. Das wird auch noch stärker werden“ – insbesondere jetzt, wenn überall die Corona-Zahlen wieder in die Höhe schießen. „2G wird so oder so ab einem bestimmen Zeitpunkt kommen. Mir wäre es lieber jetzt ehrlich darüber zu reden, als es zu vertagen bis nach der Bundestagswahl.“

Provisorische Bürgerrechte

Mit den Beschlüssen des Bund-Länder-Treffens erfolgt die Einführung der Impfpflicht durch die Hintertür. Für nicht Geimpfte werden die Hürden zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben bewusst erhöht, um von diesen ein konformes Verhalten zu erzwingen. Zudem stigmatisiert diese Herangehensweise Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen.

Noch problematischer ist jedoch, dass die Impfung nun zur Bedingung für die vollumfängliche Gewährung der Bürgerrechte gemacht wird. Das zeigt sich in Kretschmanns, Tschentschers und Söders Stellungnahmen, denn sie haben offenbar kein Problem damit, die grundgesetzlich geschützten Bürgerrechte sogar dauerhaft denjenigen zu verweigern, die von einem politisch gewünschten Verhalten abweichen. Faktisch sollen einer Bevölkerungsgruppe, die sich durch abweichendes Verhalten auszeichnet, die Bürgerrechte verweigert werden.

"Die verfassungsrechtlich geschützten Bürgerrechte werden in ihr Gegenteil verkehrt. Sie erscheinen als Privileg, das nur noch unter Vorbehalt gewährt wird." 

So werden die verfassungsrechtlich geschützten Bürgerrechte in ihr Gegenteil verkehrt. Sie erscheinen als Privileg, das nur noch unter Vorbehalt gewährt wird. Die Teilnahme der Bürger am öffentlichen Leben ist dann kein Recht mehr, also unabdingbar und ohne jede Genehmigung gegeben. Stattdessen wird nun eine staatliche Genehmigung zur Voraussetzung für vollumfängliche Bürgerrechte gemacht.

So wird die Aufrechterhaltung eines coronagrünen Status zu einer permanenten Bürgerpflicht. Menschen, die dieser Verpflichtung nicht nachgehen, verwirken ihre Erlaubnis, am öffentlichen Leben teilzunehmen. Staatsbürger mit vollumfänglichen Bürgerrechten zu sein, wird dadurch zu einem nur provisorischen Recht, das jederzeit entzogen werden kann. Die Bedingungen, die heute für einen grünen Corona-App-Status gelten, könnten morgen schon andere sein und durch eine einfache Anpassung der App ihre Wirkung entfalten.

Diese Herangehensweise ermuntert auch private Betreiber zunehmend, zwischen Geimpften und nicht Geimpften zu differenzieren. So könnten etwa private Gaststättenbetreiber – sofern sie nicht ohnehin gesetzlich dazu verpflichtet sind – Geimpfte bevorzugen und dies mit Verweis auf die Vertragsfreiheit begründen. Derartige Diskriminierung könnte zwar gesetzgeberisch eingeschränkt oder sogar verhindert werden, aber auch diese privatrechtliche Diskriminierung wird nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern sogar forciert.

„Covidioten!“

In der Politik der Pandemiebekämpfung zeigt sich ein beängstigender Trend. Verhalten und Denken der Bürger, das von den Auffassungen der meinungsführenden Kreise abweicht, gilt als sanktionswürdig. Das zeigt sich schon seit geraumer Zeit an der Etablierung einer Cancel Culture, in der nicht opportune abweichende Meinungen unterdrückt werden. Es geht nicht mehr um Widerspruch und Diskussion, sondern um die Limitierung des Diskursraumes durch die Unterdrückung „inakzeptabler“ Auffassungen. Das Ziel von Cancel Culture, so die treffende Analyse von Kolja Zydatiss, ist „nicht der Diskurs, also das Aufeinandertreffen verschiedener Meinungen, sondern die Verengung des Meinungsraumes“.2 Wer zu gesellschaftlichen Fragen, die als besonders bedrohlich wahrgenommen werden, wie etwa der Pandemie, dem Klimawandel oder dem Rechtsextremismus abweichende Meinungen vertritt, gilt schnell als Hetzer oder Leugner und steht damit vermeintlich außerhalb eines vernunftgeleiteten Diskurses.

Typisch hierfür ist die Vorstellung der Grünen Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock, die wiederholt äußerte, dass abweichende Meinungen aus den Medien gedrängt werden sollen. Sie möchte dem Vorbild des britischen öffentlich-rechtlichen Senders BBC folgen, Kritiker in den Medien gar nicht mehr zu Wort kommen zu lassen: „Zum Beispiel Klimaleugner werden da in TV-Sendungen überhaupt nicht eingeladen, weil sie sagen, wir argumentieren hier auf der Grundlage von Fakten und wir geben denjenigen, die diese Fakten leugnen, kein Forum. Ich glaube, das sollte auch der Standard sein in öffentlichen Medien hier bei uns“, forderte sie u.a. bei einem Wahlkampfauftritt 2019 – und trat damit offene Türen ein.

Abweichler stellen für die meinungsführenden Kreise eine große Gefahr dar, denn sie könnten die von ihnen etablierten Auffassungen unterminieren und die oft mühevoll aufgebaute und brüchige Autorität zu wichtigen gesellschaftlichen Themen in Frage stellen. Da es in einer Demokratie, die auf dem Prinzip der Meinungsfreiheit basiert, jedoch schwer ist, derart unliebsame Auffassungen zu unterdrücken, versuchen meinungsführende Kreise, die eigenen Auffassungen und Handlungen zu legitimieren, indem sie abweichende Ansichten als rückständig, unvernünftig oder als irrational darstellen. Die Ausübung öffentlicher Gewalt wird heute vor allem damit gerechtfertigt, dass das „irrationale und unvernünftige Verhalten des Volks in Schach gehalten“ werden muss, schreibt der britische Soziologe Frank Furedi.3 In einer exzellenten Analyse geht er den Ursachen des Verfalls von Autorität nach und zeigt, dass heute „negative Theorien von Autorität“ dominieren, die Macht und Entscheidungsgewalt damit begründen, dass die in einer Massendemokratie vermeintlich notwendigerweise entstehende Unvernunft und Irrationalität abgewehrt werden muss.

"Abweichler stellen für die meinungsführenden Kreise eine große Gefahr dar, denn sie könnten die von ihnen etablierten Auffassungen unterminieren und die oft mühevoll aufgebaute und brüchige Autorität zu wichtigen gesellschaftlichen Themen in Frage stellen."

Impfgegner und diejenigen, die gegenüber der Corona-Impfung ambivalent oder unsicher sind, bieten aufgrund der Tatsache, dass die Impfung erwiesenermaßen vor schweren Krankheitsverläufen und dem Long-Covid-Syndrom schützt, eine ideale Zielscheibe. Dies umso mehr, je klarer sich abzeichnet, dass die Impfbereitschaft in der Bevölkerung trotz der deutlich nachlassenden Erstimpfungen, die gegenwärtig bei täglich nur noch etwa 100.000 liegen, hoch ist und die Nicht-Impfwilligen eine schwindende Minderheit darstellen. Inzwischen haben in Deutschland knapp 86 Prozent der über 60-jährigen und 64 Prozent der 18 bis 59-jährigen ihre erste Impfung erhalten, das heißt bei den besonders durch die Corona-Infektion gefährdeten älteren Bevölkerungsgruppen ist schon jetzt eine hohe Durchimpfungsrate erreicht worden. Diese vom Robert Koch Institut über das Impfquoten-Monitoring ermittelte Impfquote könnte sogar deutlich unter der tatsächlichen Quote der Erstimpfungen liegen. Repräsentativen Umfragen zufolge lag die Erstimpfungsquote der 18 bis 59-jährigen bereits am 13. Juli bei sogar 79 Prozent.4 Der Umfrage zufolge sollen 91,6 Prozent dieser Altersgruppe bereits geimpft oder zumindest willens sein.

Bürgerrechte müssen unabdingbar bleiben

Die deutsche Pandemiepolitik geht in dem Bestreben an öffentlicher Legitimität zu gewinnen in eine verheerende Richtung. Anstatt die vermeintliche Unvernunft, Dummheit und fehlende moralische Verantwortung in der Bevölkerung aus politischem Opportunismus oder sogar aus fester Überzeugung zum Dreh- und Angelpunkt der Corona-Politik zu machen, muss die Vernunft der Bürger der Ausgangspunkt sein. Andere Länder wie etwa Großbritannien und Dänemark setzen auf eine Gleichbehandlung für alle, haben Restriktionen bereits aufgehoben und bewegen sich in Richtung weiterer Liberalisierungen für alle.         

Die Herausforderung in der Pandemiebekämpfung liegt darin, die Pandemie einerseits unter Kontrolle zu bringen und dabei gleichzeitig geeignete und wirksame Maßnahmen zu etablieren, die die gleichen und möglichst unbeschränkten Freiheitsrechte aller Bürger respektieren – egal, ob geimpft oder nicht geimpft. Auch mit Blick auf in Zukunft auftretende Virusmutationen, die von den bislang verfügbaren Impfungen vielleicht nicht aufzuhalten sind, gilt es, geeignete Strategien und Herangehensweisen zu entwickeln, die die gesamte Bevölkerung schützen. Dazu gehört auch die Frage, wie die Bereitschaft der Bevölkerung zur Impfung immer weiter verbessert werden kann – und zwar ohne Gängelung oder gar einen Impfzwang durch die Hintertür.

Der Impfstatus-Check am Eingang zu einer Kneipe ist keine einfache Formalität, sondern macht deutlich, dass das Recht, am öffentlichen Leben teilzunehmen, entzogen wurde. Heute ist es Corona, morgen eine andere Krankheit oder eine andere Begründung. Wir werden lange mit den Konsequenzen leben müssen, wenn es erst einmal gelungen ist, Bürgerrechte zu einem nur provisorischen und bedingten Recht umzudefinieren.

 

Mehr von Alexander Horn lesen Sie in den Büchern „Sag was du denkst! Meinungsfreiheit in Zeiten der Cancel Culture“ und „Experimente statt Experten – Plädoyer für eine Wiederbelebung der Demokratie“.

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