19.06.2013

Brüssel im Regulierungsrausch

Essay von Johannes Richardt

Die geplante EU-Tabakrichtlinie wird zur Zeit von der deutschen Politik verhandelt. Was hat es mit der neuen Richtlinie auf sich und wieso Menschen, denen Freiheit etwas bedeutet, dagegen Widerstand leisten sollten.

Schon lange missfällt der Europäischen Kommission der Lebensstil von Rauchern: zu ungesund, zu unvernünftig und zu teuer. Doch auch wenn sie es sich vielleicht noch so sehr wünscht, hat sie nicht die Macht, das Rauchen ganz zu verbieten. Die Widerstände in den vielgestaltigen Demokratien des Kontinents sind wohl einfach zu groß. Also setzt die Kommission auf Umerziehung. Und zwar in Salamitaktik. Stück für Stück soll der rauchenden Bevölkerung noch das letzte bisschen Spaß an ihrem Laster ausgetrieben werden. Die letzte Salamischeibe nennt sich Überarbeitung der EU-Tabakproduktrichtlinie (verkürzt natürlich, denn der „richtige Name“ ist nach meiner eher wohlwollenden Zählung in deutscher Sprache 34 Wörter lang) [1]. Die Pläne dazu wurden Ende letzten Jahres der Öffentlichkeit vorgestellt. 2014 soll die Richtlinie als verbindliche europäische Rechtsvorschrift von europäischem Parlament und Rat erlassen und anschließend in nationales Recht umgesetzt werden.

Die Tabakproduktrichtlinie enthält ein ganzes Bündel von sehr unschönen Maßnahmen für Raucher und die Industrie, aber auch für jeden Menschen, dem Freiheit und Autonomie wichtig sind. Am kontroversesten diskutiert wird wohl die Einführung von bildlichen Warnhinweisen, also Ekelbildern über mögliche Folgen des Rauchens, die bald auf den Zigarettenschachteln zu sehen sein werden. Auch sollen diverse für ein angenehmes Geschmackserlebnis wichtige Aromastoffe verboten werden. Hinzu kommen die Regulierung weiterer wichtiger Packungs- und Produktmerkmale sowie Maßnahmen, die eher den Verkauf von Tabakerzeugnissen regeln.

Schnell nach Bekanntwerden der Kommissionspläne wurden diese in einer Reihe sehr kluger Kommentare auch schon ordentlich auseinandergenommen. Gekonnt humorvoll erklärte etwa Harald Martenstein im Zeit-Magazin an Hand des Beispiels der Tabakrichtlinie, wieso er sich nicht mehr vom Staat erziehen lassen will und am liebsten gleich persönlich aus der EU austreten möchte [2], sein Zeit-Kollege Ulrich Greiner springt ihm bei und warnt vor einer „Diktatur der Fürsorge“ [3], der stellvertretende Chefredakteur der Welt, Thomas Exner, sieht in der Tabakrichtlinie eine „Entgrenzung staatlichen Wirkens“, ja, die ganze Sache sei „zutiefst undemokratisch“ [4] und bei Spiegel Online darf sich Alexander Neubacher zu Wort melden, der sich nicht länger für dumm verkaufen lassen möchte und zum „Protest gegen die freudlosen Tugendwächter und Supernannys“ aufruft [5]. Sie alle haben Recht. Die geplante Richtlinie stellt nicht nur eine neue Eskalationsstufe in der langen Geschichte der Tabakprohibition dar, sondern sie verrät auch eine ganze Menge darüber, wie unsere „wohlmeinende“ EU-Technokratenoligarchie tickt und was sie alles mit uns vorhat. Es lohnt sich also durchaus, sich dieses Machwerk Brüsseler Regulierungshypris genauer anzuschauen.

Dem Raucher den Spaß verderben

Manch einer hatte geglaubt, dass es 2012 nichts mehr wird mit der Präsentation des Vorschlags zur Überarbeitung der Tabakproduktrichtline, die seit 2002 in Deutschland „Herstellung, Aufmachung und Verkauf von Tabakerzeugnissen“ regelt. Nachdem der damalige Gesundheitskommissar John Dalli auf Grund von Betrugsvorwürfen Ende Oktober überraschend zurücktreten musste, schien das Brüsseler Regulierungsuhrwerk doch arg aus dem Takt geraten. [6] Aber wenn die Europäische Kommission etwas wirklich regulieren will, dann zieht sie das auch durch – Korruptionsskandale hin oder her. Und so durfte der hastig zu Dallis Nachfolger erkorene Tonio Borg, auf Grund des EU-üblichen Länderproporzes (ganz genau ein Kommissar pro Mitgliedsstaat) ebenfalls Malteser, schon wenige Tage nach seinem Umzug von der beschaulichen Mittelmeerinsel in die europäische Technokratenhauptstadt Brüssel mit breitgeschwellter Brust verkünden: „Wir haben es geschafft!“ [7]

Na dann, herzlichen Glückwunsch! Denn schließlich ist die Situation in den Augen des Obersten Gesundheitshüters des Kontinents hochdramatisch: „Alljährlich sterben durch die Folgen des Rauchens in Europa fast 700.000 Menschen, was in etwa der Einwohnerzahl einer Stadt wie Frankfurt am Main entspricht.“ [8] Dass das Rauchen die Wahrscheinlichkeit auf ein langes und gesundes Leben nicht erhöht, weiß inzwischen wohl wirklich jedes Kind. Für diese Erkenntnis bedarf es nicht solch apokalyptischer Bilder. Zumal, wenn das dafür herhaltende Zahlenmaterial auf so ausgesprochen dünnem wissenschaftsmethodischen Fundament steht. Keine amtliche Sterbefallstatistik listet das Rauchen – geschweige denn das „Passivrauchen“ – als Todesursache, sondern eher solche Dinge wie Herzstillstand, Lungenkrebs usw. In diesem Kontext könnte auch erwähnt werden, dass interessanterweise rund 90 Prozent der Raucher nicht an Lungenkrebs sterben und sehr viele der „Tabaktoten“ ein ziemlich stattliches Lebensalter erreichen. [9] Aber in der Liebe und im Krieg der Studien ist wohl jeder Trick erlaubt – insbesondere dann, wenn die „wissenschaftliche Evidenz“ als ideologische Rechtfertigung eine so zentrale Rolle spielt wie beim Brüsseler Antitabakkreuzzug (was nebenbei bemerkt im Kontext der ohnehin statistikobsessiven EU-Politik wirklich was heißen will). Nochmal in den Worten von Tonio Borg: „Die Zahlen sprechen für sich.“ Und wichtig ist, was am Ende der Formel rauskommt: Die Regulationsschrauben sollen nochmal ordentlich angezogen werden. Die wichtigsten Maßnahmen der neuen Richtlinie einmal im Überblick:

  • 75 Prozent der Vorder- und Rückseite der Packung sollen einen kombinierten textlichen und bildlichen Warnhinweis enthalten;
  • „charakteristische Aromen“, z.B. Menthol oder Vanille, aber auch Koffein oder Vitamine sollen verboten werden;
  • „Slimzigaretten“ mit einem dünnen Durchmesser sollen verboten werden;
  • auf den Packungen soll über Raucherentwöhnungsangebote informiert werden;
  • die Größe und die Form (sie soll quadratisch sein) einer Zigarettenpackung wird vorgegeben;
  • „irreführende Farben“ sollen verboten werden; ebenso „irreführende Labels“ wie „biologisch“ oder „natürlich“
  • die derzeitigen Angaben zum Teer-, Nikotin- und Kohlenmonoxidgehalt werden durch einen Warnhinweis ersetzt;
  • EU-Mitgliedsstaaten können in „begründeten Fällen“ auch Einheitsverpackungen einführen;
  • rauchloser, oraler Tabak („Snus“) bleibt mit Ausnahme von Schweden verboten;
  • nikotinhaltige Produkte, wie die E-Zigaretten, fallen jetzt auch unter den Geltungsbereich der Richtlinie;
  • Zusatzstoffe, die die Toxizität oder das Suchtpotenzial erhöhen“ werden verboten;
  • der grenzüberschreitende Handel mit Tabakerzeugnissen wird neu geregelt; der illegale Handel soll durch ein neues System für die Verfolgung und Rückverfolgung sowie durch Sicherheitsmerkmalen (z.B. Hologramme) erschwert werden.

Hier wurden zum Großteil Instrumente zur Umerziehung erwachsener Menschen aufgelistet. Denn natürlich richten sich diese Maßnahmen, allen Jugendschutzschwüren der Gesundheitskommission zum Trotz, vor allem an die große Masse der volljährigen Raucher – das ist nicht anders als beim heute zum europäischen Alltag gehörenden volkserzieherischen Projekt der öffentlichen Rauchverbote. Durch soziale Ächtung und Ausgrenzung will der große europäische Mamastaat den Rauchern ihr Laster verleiden. Während die anderen Kinder schön im Warmen spielen dürfen, müssen die unartigen Raucher solange in einer kalten, zugigen Ecke über ihr Fehlverhalten nachdenken, bis sie zur pädagogisch erwünschten Einsicht gelangen – erst dann dürfen sie wieder mitspielen. Es ist genau diese völlig deplatzierte erzieherische Absicht gegenüber Erwachsenen, die die Tabakproduktrichtlinie mit dem „Nichtraucherschutz“ gemein hat. [10]

Ekelbilder und Einheitsverpackung

Die spezielle Qualität der Tabakproduktrichtlinie besteht hingegen darin, dass sie direkt auf die Steuerung des individuellen Konsumverhaltens der Raucher abzielt – also ohne sich dafür auf den Schutz angeblich gefährdeter Dritter berufen zu müssen. Dabei haben die Brüsseler Volkserzieher auch kein Problem damit, ganz tief in die Mottenkiste der schwarzen Pädagogik zu greifen. Abstoßende Ekelfotos von abgestorbenen Füßen, von vom Krebs zerfressenen Lungenflügeln oder faustgroßen Geschwüren, die bereits in 63 Ländern der Welt zum Einsatz kommen [11], kombiniert mit schriftlichen Warnhinweisen, sollen in Zukunft europaweit 75 Prozent der Vorder- und Rückseite der Packung einnehmen. Das wäre faktisch der Einstieg in die von der Industrie gefürchtete „Einheitsverpackung“. Denn daneben sind die Hersteller auch noch dazu verpflichtet, u.a. Steuerzeichen und Sicherheitsmerkmale auf den von ihnen hergestellten Produkten zu platzieren. Neben all diesen staatlichen Machtinsignien und Propagandabotschaften bliebe dann auf den Packungen so gut wie kein Platz mehr für eigene Markenkommunikation. Gerade die Ekelbilder dienen dabei primär einem einzigen Zweck: der Angstmache. Jetzt soll sich durch Brechreiz und Schocktherapie der Erziehungseffekt einstellen, den all die schriftlichen Warnhinweise und „Aufklärungskampagnen“ bei den letzten unbelehrbaren Rauchdelinquenten nicht erreichen konnten. Der Novo-Autor Christoph Lövenich weist in seinem Beitrag zur Tabakproduktlinie in der aktuellen Printausgabe darauf hin, dass auch der einzige objektiv faktenbezogene und neutrale Packungsaufdruck, Teer-, Nikotin- und Kondensatwerte betreffend, verschwinden und durch eine Abschreckungsbotschaft ersetzt werden soll. Eine krasse Missachtung der Intelligenz der Bürger und ein zivilisatorischer Offenbarungseid für eben jene Europäische Kommission, die sonst keine Gelegenheit auslässt, sich als Anwalt des „mündigen Verbrauchers“ aufzuspielen und auf allen möglichen Produkten gar nicht genug Verbraucherinformationen sehen kann. Im Zusammenhang mit Tabak scheint für sie aber zu gelten, dass die Menschen nicht als dumm genug betrachtet werden können.

Verführerische Zusatzstoffe

Ähnlich verhält es sich beim angedachten Verbot bestimmter Zusatzstoffe, die dem Tabak ein charakteristisches Aroma – z.B. Menthol-, Erdbeer- oder Vanillegeschmack – verleihen. Hier möchten die genussfeindlichen Kommissare Kraft ihrer Richtlinienkompetenz den Rauchern ganz einfach das Geschmackserlebnis vermiesen. Warum? Nicht wegen eventueller Risiken eines Zusatzstoffes, wie man im Zusammenhang mit Verbotsdiskussionen im Genussmittelsektor eigentlich erwarten könnte. Sondern weil bestimmte Aromen das Konsumerlebnis für den Raucher vielleicht zu „attraktiv“ machen könnten. Für Professor Otmar Wiestler vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg, einer der führenden deutschen Lobbyorganisationen zur Regulierung des Tabakkonsums, ist die Sache klar: Zusatzstoffe geben Zigaretten einen unverwechselbaren Geschmack und machen sie zugleich bekömmlicher. Diese „Maskierung“ fördere den Tabakkonsum und müsse daher verboten werden. [12]

Tatsächlich wird die Industrie ein begründetes Interesse daran haben, möglichst ansprechende Produkte mit angenehmen Konsumeigenschaften herzustellen, und man kann auch vermuten, dass deutlich weniger Leute rauchen würden, wenn sie etwa wie zu Kolumbus’ Zeiten den Rauch brennender Tabakblätter durch einen hohlen Stock in die Nase einziehen müssten. Bei dieser Ausrichtung an den Wünschen des Konsumenten von „Maskierung“ zu sprechen, ist aber absurd – es geht, wie in der Genussmittelbranche nicht ganz unüblich, wohl eher darum, den Kunden ein Produkt anzubieten, was ihm einfach schmecken soll. Man muss sich fragen, ob es wirklich die Aufgabe einer „europäischen Geschmackskommission“ sein soll, Produktkriterien, wie „Attraktivität“, also eine reichlich subjektive, ganz maßgeblich von individueller Neigung bestimmte Größe, zum Maßstab staatlicher Regulierung zu erheben. Der eine, etwa Altbundeskanzler und Raucherikone Schmidt, mag eben Mentholzigaretten am liebsten, der andere zieht die dünnen, dafür aber weitestgehend aromastofffreien Slimzigaretten vor und kann mit erstgenannten überhaupt nichts anfangen. Aber beide Sorten sollen jetzt mit der Begründung verboten werden, sie seien zu attraktiv (Mentholzigarette) oder irreführend (Slimzigarette), um auf die Raucher losgelassen werden zu dürfen? Das ist lächerlich.

Hier wird Rauchern generell nicht zugetraut, sich aus freien Stücken für oder gegen einen Genuss entscheiden zu können. Man kann aber davon ausgehen – wie ketzerisch das heute auch klingen mag –, dass es auch Menschen gibt, die einfach gerne qualmen, die die anregende Wirkung des Nikotins schätzen oder denen irgendein anderer Aspekt des Rauchens besonders Spaß macht. Menschen, die vielleicht tatsächlich jederzeit mit dem Rauchen aufhören könnten, wenn sie denn wollten, die sich aber trotzdem bewusst entschieden haben, dass für sie der persönliche Nutzen des Rauchens die Gesundheitsrisiken überwiegt. Das mag nicht für jeden Raucher gelten, keine Frage, aber es bestehen berechtigte Zweifel, ob die Vorstellung, dass auch Raucher einen freien Willen haben könnten, in den Köpfen der Gesundheitsregulierer überhaupt vorkommt.

Pathologisierung des Souveräns

Wenn die EU-Kommission das subtile Hineinregulieren in die Produkteigenschaften von privatwirtschaftlich fabrizierten Genussmitteln zum Zweck der Steuerung individueller Konsumgewohnheiten zu einem akzeptablen Instrument demokratischer Politik erhebt, ist das keine Lappalie. Es geht dabei um mehr als nur die Frage, ob jemand unbedingt Mentholzigaretten rauchen muss oder auf sie verzichten könnte. Die Kommission zeigt durch ihren Politikstil, dass sie vom philosophischen Fundament des westlichen Demokratieverständnisses wenig hält: nämlich von der im Aufklärungsdenken fußenden Überzeugung, dass staatliche Gewalt in ihrem Handeln die souveränen Bürger als mündige und autonome Erwachsene zu respektieren hat, ja, dass Demokratie überhaupt nur dann möglich ist, wenn der Staat die Menschen nicht als Kinder oder Untertanen sondern als selbständig denkende und handelnde Bürger betrachtet und behandelt. Die EU-Tabakrichtlinie setzt hingegen den individuellen Kontrollverlust und die menschliche Schwäche als Norm. Hier werden keine mündigen Bürger, sondern therapiebedürftige Suchtautomaten adressiert. Da passt es gut ins Bild, dass in Zukunft auf jeder Zigarettenpackung auch Telefonnummern von Raucherhilfshotlines zu lesen sein sollen. Die Botschaft der Volkstherapeuten ist klar: Ohne staatlichen Regulatoren und/oder professionelle Hilfe kannst Du Dich nicht mal gegen die verführerische Kraft eines Glimmstängels zur Wehr setzen. Aber was ist eigentlich mit den zig Millionen Menschen, die einfach so, ohne jede staatliche oder therapeutische Hilfe ganz mit dem Raucher aufgehört haben? Oder den vielen Gelegenheitsrauchern, die nur ab und an mal eine rauchen, wenn sie Lust dazu haben? Eine solche Pathologisierung des Souveräns ist einer Demokratie unwürdig und öffnet die Tür für weitere administrative Zwangsbeglückungsmaßnahmen, die beim nächsten Mal vielleicht schon ganz andere Fragen betreffen, als die eher banale Frage, ob ich mir jetzt eine Zigarette anzünden kann oder nicht.

Alternativen verbieten

Dass durch die Tabakrichtlinie ausgerechnet erwiesenermaßen „gesundere“ Alternativen zur Zigarette einem strengen Regulierungsregime unterworfen werden sollen, ist nur eine weitere von vielen Ungereimtheiten. Das „praktisch harmlose Nikotinprodukt“ [13] Snus bleibt wie bisher überall außer in Schweden verboten. Obwohl sie gar keinen Tabak enthalten, sollen auch E-Zigaretten unter den Geltungsbereich der Tabakproduktrichtline fallen. Durch eine Volte im Arzneirecht soll ihnen ab einem bestimmten Nikotingehalt ihr mühsam anerkannter Genussmittelstatus de facto wieder aberkannt werden, was in letzter Konsequenz wohl auf eine Verdrängung dieses legalen Produkts auf den Schwarzmarkt hinauslaufen würde. Die Interessengemeinschaft E-Dampfen kommentierte das folgendermaßen: „Die EU schützt ihre Bürger zu Tode.“ [14] Eine lange Zeit ebenfalls angedachte Beschränkung der Warenpräsentation von Tabakerzeugnissen in Verkaufsstellen findet sich im aktuellen Vorschlag übrigens nicht mehr wieder. Bei diesen „display bans“ geht es – am ehesten vergleichbar mit der bigotten Praxis, Pornoheftchen nur unterm Ladentisch zu verkaufen – darum, die Sichtbarkeit von Zigarettenpackungen in Läden massiv oder vollständig einzuschränken, weil ansonsten das bloße Sehen einer Zigarettenschachtel beim Konsumenten wohl einen kaum zu unterdrückenden pawlowschen Kaufreflex auslösen würde. Wenig überraschend wurde in Ländern, wo das Warenpräsentationsverbot in unterschiedlicher Ausprägung praktiziert wird, also z.B. Kanada, Norwegen oder Irland, keine wesentliche Änderung des Konsumverhaltens beobachtet. [15] Hier zeigt sich einmal mehr, dass die Raucher doch nicht so simpel gestrickt sind, wie manch ein Antitabakkrieger zu glauben meint.

Brüsseler Bürgerbeteiligung

Trotz aller in den angedachten Maßnahmen der Tabakrichtlinie wieder einmal krass zu Tage tretenden Geringschätzung der geistigen Fähigkeiten der Bevölkerung rühmt sich die Europäische Kommission auf geradezu irreale und groteske Weise immer wieder aufs Neue ihrer angeblichen „Bürgernähe“. Sie wird nicht müde zu betonen, wie transparent, partizipatorisch und demokratisch ihre Entscheidungsfindung funktioniert. Tatsächlich handelt es sich bei der von niemandem gewählten Kommission aber um eine der am wenigsten durch öffentliche Anerkennung getragenen Institutionen überhaupt. Und natürlich sind sich die 27 Statthalter Brüssels dieser Tatsache auch bewusst.

Durch eher technisch anmutende Maßnahmen soll Abhilfe geschaffen werden. So bildet sich die Kommission viel auf die „Bürgerbeteiligung“ im politischen Regelungsprozess ein. Damit ist nicht gemeint, wie man als argloser Demokrat vielleicht denken könnte, in lebhaften Debatten in Öffentlichkeit und Parlamenten auf intellektuell anspruchsvollem Niveau über das Für und Wider der politischen Visionen der Kommissare für unser Gemeinwesen – also die immer kleinteiligere Durchregulierung unseres Alltags – zu streiten. Nein, natürlich nicht. Bürgerbeteiligung heißt im Kontext der Überarbeitung der Tabakrichtlinie, aber auch auf anderen Politikgebieten, dass „die Bürger“ der Europäischen Union den bereits bestimmten Weg entweder im Nachhinein abnicken können oder ihm durch ihre „Teilnahme“ am Regelungsprozess einen Anschein von Legitimität geben dürfen. So waren denn auch alle europäischen Bürger aufgerufen, an der Folgenabschätzung möglicher Änderungen der Tabakrichtlinie („impact assessment“) teilzunehmen. Allerdings erst nachdem sich die Statistikfreunde in der Kommission die Richtigkeit ihrer Regulierungsszenarien durch ein Marktforschungsinstitut, im methodisch und inhaltlich heftig umstrittenen Rand-Report [16], haben bestätigen lassen. Nachdem diese empirische Argumentationsbasis stand, konnte man – immer schön einen Schritt nach dem anderen machend – daran gehen, Volkes Meinung einzuholen.

In einem zumindest in der Theorie für alle europäischen Bürger offenen und öffentlichen „Online-Konsultationsverfahren“ konnte die Bürgerschaft entlang eines Fragenkatalogs Stellungnahmen zu den Regulierungsvorschlägen abgeben. Klar, dass sowas außer wirklich interessierten Kreisen kaum jemand mitkriegt. Dennoch beteiligten sich neben Regierungsvertretern, Nichtregierungsorganisationen, Tabak- und Phar-maindustrie und Handel zwischen September und Dezember 2010 tatsächlich über 85.000 Bürger daran, was einen neuen Rekord für solche Verfahren bedeutete. Und das, obwohl – Vorsicht Bürgerbeteiligung! – sowohl Internetseite als auch Fragenkatalog ausschließlich in englischer Sprache verfügbar waren.

Eine deutliche Mehrheit der Bürger hat sich dabei gegen die Regulierungsvorschläge der Kommission und/oder für die Beibehaltung des Status Quo ausgesprochen. Das Ergebnis dieses rührenden basisdemokratischen Popanzes hat die EU-Kommission selbstverständlich so gut wie gar nicht vom bereits eingeschlagenen Weg abgebracht, obwohl beides – also Rand-Report und Ergebnisse der Konsultation – als Grundlage für den im Dezember vorgelegten Richtlinienentwurf dienen sollte. [17] Wenig überraschend: Denn wie Hans Magnus Enzensberger in seinem 2011 erschienen Essay “Sanftes Monster Brüssel” zutreffend festgestellt hat, „haben sich Ministerrat und Kommission schon bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaft darauf geeinigt, dass die Bevölkerung bei ihren Beschlüssen nichts mitzureden hat.“ [18] Seit ihrer Entstehung geht es bei der Europäischen Union vor allem darum, die Bürger von der Politik möglichst fernzuhalten. Wenn die hochgelobte „Partizipation“ einen Zweck erfüllen soll, dann den, gerade diesen Umstand zu verschleiern. Tatsächlich findet die Brüsseler Politik hinter verschlossenen Türen statt. Es geht um Konsensfindung unter weitestgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit. Der urdemokratische, öffentlich ausgetragene Interessengegensatz wird durch technokratische Zweckmäßigkeit und Effektivitätsdenken ersetzt – nicht zuletzt daher kommt auch der Zahlenfetisch des europäischen Apparats. Entscheidungen sollen nicht politisch begründet, nein, sie haben möglichst wertfrei zu sein. [19]

Legitimation durch Verbraucherschutz

Dieser administrative Relativismus macht die Europäische Union sehr empfänglich für verschiedenste Partikularinteressen. Im Zusammenhang mit der Tabakregulierung sitzt hier allerdings nicht die Industrie am längeren Hebel, wie man angesichts der vielen Geschichten über den Einfluss der „Tabaklobby“ [20] auf die Brüsseler Gesetzgebung meinen könnte. Gerade im Bereich der Verbraucher- und Gesundheitsschutzpolitik haben sich andere Kräftekonstellationen herausgebildet, die vor allem zivilgesellschaftlichen, halbstaatlichen und supranationalen Akteuren, wie etwa der WHO, einen überproportionalen Einfluss auf die europäische Gesetzgebung zukommen lassen. [21]

Unter den Vorzeichen einer Politik der Volksgesundheit dreht sich bereits seit Jahrzehnten die Regulierungsspirale für Tabakprodukte immer schneller. Ein Blick auf die Chronologie der Tabak-Werbeverbote zeigt das: Dem ersten Resolutionsentwurf der beratenden Versammlung des Europarats zum Verbot von Werbung in Presse, Rundfunk, Fernsehen und Filmtheatern im Jahr 1973 – also vor 40 Jahren – folgte 1975 das tatsächliche Verbot von Zigarettenwerbung in Hörfunk und Fernsehen. Seitdem kam es zu immer mehr Regulierungen und Verboten, so dass seit der Umsetzung der zweiten EU-Richtlinie zur Tabakwerbung in deutsches Recht im Jahr 2006 nur noch Werbung im Kino und auf Plakaten erlaubt ist. Und das wohl nur, weil für diese nichtgrenzüberschreitenden Medien die EU keine Rechtsetzungskompetenz besitzt. Auch die Geschichte der Tabakrichtlinien (1989, 2001 und jetzt eben 2013) ist nichts anderes als eine Geschichte der immer schärferen Regulierung von Tabakprodukten.

Die EU folgt dabei einem Pfad, der vor allem durch die in Genf ansässige Weltgesundheitsorganisation, WHO, vorgegeben wird. Seit den 1970er Jahren hat sie sich äußerst erfolgreich dem Kampf gegen den Tabakrauch verschrieben und koordiniert weltweite Kampagnen. Sie empfiehlt in ihrem „Rahmenübereinkommen zur Tabakbekämpfung“ („Framework convention on tobacco control“ [22]) etliche Maßnahmen, mit denen die Nachfrage nach Tabakwaren reduziert werden soll. Diese wurden von 168 Regierungen weltweit in Gesetzesform gegossen. Die WHO brüstet sich damit, mit der Rahmenvereinbarung den ersten völkerrechtlichen Vertrag zu Gesundheitsangelegenheiten angestoßen zu haben. Auch die EU und alle Mitgliedsstaaten sind Vertragsparteien der 2005 in Kraft getretenen Vereinbarung. Durch das Inkrafttreten ist auch eine Rechtspflicht zur Umsetzung des Übereinkommens begründet [23]. Das grundsätzliche Für oder Wider des Kampfes gegen den Tabak steht in Europa also eigentlich gar nicht mehr zur Disposition. Der Weg ist vorgeben und was an weiteren Maßnahmen noch bevorsteht, kann leicht in den Dokumenten der WHO nachgelesen werden. Nur durch Vertragsbruch oder Vertragsaufkündigung könnte die Richtung geändert werden. [24]

Bizarre Freiheitsmission

„Die Tabakepidemie versklavt mehr als ein Drittel der erwachsenden Weltbevölkerung“ heißt es in einer WHO-Verlautbarung. Die Freiheitskämpfer der WHO streben eine Lösung dieser Sklavereifrage an und rennen damit bei der unter massiven Anerkennungsdefiziten leidenden Europäischen Kommission offene Türen ein. Bietet der Kampf um die Gesundheit der Bürger doch die Chance, ihr ramponiertes Image durch eine positive Mission aufzupolieren. Überall in der westlichen Welt konnte man in den letzten Jahrzehnten beobachten, wie die zunehmend isoliert und entfremdet von der Gesellschaft agierenden politischen Eliten an Hand der Koordinaten des Verbraucherschutzes und der Gesundheitspolitik ihr Verhältnis zur Gesellschaft neu zu kalibrieren versuchen. Gerade in diesen Politikfeldern erhoffen sie sich das, was ihnen sonst immer mehr verloren geht, den Kontakt zu ihrer Legitimationsbasis – dem von ihnen so wenig ernstgenommenen Volk. Dies gilt natürlich in besonderem Maße für eine noch nicht einmal durch demokratische Wahlen bevollmächtigte Institution wie die Europäische Kommission. Der Nichtraucherschutz und der Kampf gegen das Rauchen sind bedeutende Vehikel, mit der Bürgerschaft in Kontakt zu treten, sich als Freund und Interessenvertreter der Bürger (als schutzbedürftige Verbraucher) aufzuspielen und so dem eigenen Existenzanspruch eine ideologische Grundlage zu geben. Auch deshalb gibt die Kommission unglaubliche Summen für alle möglichen Verbraucherinformationen, Gesundheits- und Aufklärungskampagnen aus.

Mit diesem neuen Politikmodus geht ein gigantisches Umerziehungs- und Entmündigungsprogramm einher, bei dem Brüssel das europäische Epizentrum ist. Deshalb äußert sich der immer stärker öffentlich thematisierte EU-Regulierungswahn vor allem auf den Feldern des Verbraucher- und Gesundheitsschutzes: Von der legendären EU-Schnullerkettenverordnung über die Trinkbecher-Richtlinie (84/500/EWG), vom Verbot der Befüllung von Mülltonnen an Sonntagen und dem berühmten Krümmungsgrad von Gurken [25] bis hin zum für viele besonders ärgerlichen Glühbirnenverbot. Es gibt kaum noch einen Bereich des Lebens, der noch nicht irgendwie ins Visier der Brüsseler Besserungsanstalt geraten ist. Auch wenn es sich bei der oft zitierten Aussage, wonach 80 Prozent der deutschen Gesetze in Brüssel gemacht wurden, wohl um einen Mythos handelt [26], ist der Einfluss europäischer Verordnungen, Richtlinien, Direktiven und Vorschriften enorm. Da wundert es auch nicht weiter, dass dieselbe europäische Beamtenschaft, die bereits auf dem Höhepunkt der Finanzkrise vor Gericht gezogen ist, um höhere Gehälter zu erstreiten, Ende letzten Jahres, während Länder wie Griechenland, Spanien oder Irland unter dem EU-Austeritätsdiktat ächzen, sich tatsächlich erdreistet hat, einen größeren Verwaltungshaushalt zu fordern. [27] Es gibt eben einfach zu viel zu erziehen, zu verbieten und zu regulieren – da ist der Kampf gegen den Tabak nur ein Feld von vielen.

Und wo bleibt der Widerstand?

Wirklich beunruhigend ist, welch große Einigkeit innerhalb der politischen Klasse über den eingeschlagenen Regulierungspfad zu herrschen scheint. Auch wenn in den wenigsten Parteien der gleiche quasireligiöse Eifer zu spüren ist, den etwa manche grüne Politiker bei der Tabakregulierung an den Tag legen, stehen die Grundüberzeugungen hinter den Maßnahmen so gut wie gar nicht zur Debatte.

Es mag hier und da in den Parteien freiheitliche Stimmen geben, die das etwas anders sehen – vor allem wohl noch in der FDP: jener Partei also, die von sich selbst immer mal wieder behauptet, liberal zu sein – aber das sind wohl auch dort eher Randerscheinungen. So war der Widerstand in Partei und Fraktion auf jeden Fall nicht stark genug, um den freidemokratischen Gesundheitsminister Daniel Bahr davon abzubringen, zu Beginn des Jahres seine grundsätzliche Zustimmung für Ekelbilder auf Zigarettenschachteln zu äußern: „Bisher ist es umstritten, […] ob das Verhalten dadurch (durch die Ekelbilder, Anm. des Autors) geändert wird. Deswegen hoffe ich, dass der Gesundheitskommissar uns diese Belege geben kann.“ [28] Wetten, dass Herr Borg die noch liefern wird? Zwar ist Bahr gar nicht federführend für die Umsetzung hierzulande zuständig, sondern seine Kollegin Ilse Aigner (CSU) aus dem Verbraucherschutzministerium. Aber Studien zum Thema gäbe es wohl für beide mehr als genug – und zwar solche, die Borgs Thesen bestätigen, ebenso wie solche, die das glatte Gegenteil belegen. Aber im politischen Regulierungsrelativismus ist vieles letztlich eh nur eine Frage der Perspektive.

Noch nicht mal die unternehmerische Freiheit, sonst das große Steckenpferd der FDP, wollte der wegen seiner Fitness vor ein paar Jahren zum Nichtraucher gewordene Gesundheitsminister als Argument gegen die Ekelbilder gelten lassen. Mit einer substanziellen Kritik an Bevormundung und staatlicher Zwangserziehung der Bürger darf man dem obersten deutschen Gesundheitsschützer da wohl erst Recht nicht kommen. Die Begriffe würden ihm vielleicht noch aus der ein oder anderen wolkigen Parteitagsrede irgendwie bekannt vorkommen, aber deren Bedeutung würde der freidemokratische Politikmanger [29] Daniel Bahr wie viele seiner Parteifreunde wahrscheinlich schon gar nicht mehr richtig kapieren. Denn selbst von den meisten parteiinternen Kritikern der Richtlinie wird der Gedanke der Umerziehung akzeptiert. So äußerte die FDP-Bundestagsfraktion zwar immerhin Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Tabakrichtlinie, aber in ihrer Pressemitteilung liest man eben auch diesen bemerkenswerten Satz: „Ziel jeglicher Maßnahme muss es sein, gesundheitsbewusstes Verhalten der Bürger tatsächlich zu steigern.“ [30] Aber wieso, könnte ein tatsächlich liberal denkender Zeitgenosse beim Lesen dieses FDP-Statements denken, sollte die Steigerung des „gesundheitsbewussten Verhaltens“ überhaupt die Aufgabe des Staates sein? Nochmal: Dass Rauchen der Gesundheit nicht förderlich ist, weiß heute jeder. Im Internet findet man unzählige Informationen. Und bedauerlich viele zivilgesellschaftliche Organisationen haben sich der „Aufklärungsarbeit“ im Kampf gegen den Tabak verschrieben. Informationen – richtige, wie falsche – für den mündigen Bürger gäbe es also mehr als genug. Was wirklich fehlt, ist eine nennenswerte politische Kraft, die bereit ist, konsequent auf die Autonomie und Urteilskraft der Menschen zu setzen und sich gegen jegliche staatliche Bemutterungsversuche stark macht.

Regulierungswahn stoppen!

Die Tabakrichtlinie ist eine überflüssige Ausgeburt des immer maßloseren Brüsseler Regulierungsirrsinns. Sie gehört in Gänze verworfen, denn sie basiert auf einem Menschenbild und Politikverständnis, das demokratischen Gesellschaften unwürdig ist. Die Bürger sollten selbst Widerstand gegen ihre zunehmende Entmündigung, Pathologiesierung und Infantilisierung leisten. Aus dem politischen Apparat heraus ist nur wenig Hilfe zu erwarten – zu sehr hat sich dort ein apolitischer und freiheitsfeindlicher Technokratismus ausgebreitet, der wenig von individueller Eigenverantwortung und gesellschaftlicher Selbstorganisation hält.

Aktuell warnt die Tabaklobby, dass ausgerechnet diese neue Richtlinie einen Dammbruch in der europäischen Regulierungspraxis gegenüber der Industrie bedeuten würde. Was heute nur den Tabak betrifft, betrifft morgen auch Alkohol, Zucker, Fett und Salz und übermorgen vielleicht schon Autos. „Der Frosch im kochenden Wasser ist nicht die Zigarettenindustrie, dieser Frosch sind wir alle“, bringt es ein Tabakkonzernvertreter gegenüber seinen Industriekollegen auf den Punkt. [31] Dem möchte man entgegnen: Der Frosch ist bereits ordentlich durchgeschmort. Und die Dämme sind schon lange gebrochen. Die Durchregulierung aller Bereiche unserer Gesellschaft – im Privaten, in der Arbeitswelt und auf Unternehmensebene – ist nicht mehr und nicht weniger als das große politische Projekt des angehenden 21. Jahrhunderts. Dabei sind die Einschränkungen des Rauchens vielleicht noch das kleinste Problem. Die Luft für Freiheit wird überall dünner.

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