03.08.2011

Wir Tigereltern

Essay von Sabine Beppler-Spahl

Die „Tigermutter“ Amy Chua wurde stark für ihren kompromisslosen Erziehungsstil kritisiert. Dieser vertrüge sich nicht mit westlichen Vorstellungen. Sabine Beppler-Spahl legt dar, dass die Methode-Chua dem aktuellen Bildungsideal ähnlicher ist, als vielen lieb sein kann

Es gibt wohl kaum ein Thema, das die Emotionen höher schlagen lässt als die Frage, wie Kinder zu erziehen und in einen gebildeten Zustand zu versetzen sind. An einem Punkt aber herrscht Konsens: Verantwortlich für den schulischen Erfolg oder Misserfolg sind maßgeblich die Eltern. Seit Frühjahr dieses Jahres hat die Debatte darüber, wie Eltern ihre Kinder am besten fördern sollten, durch den Bestseller der amerikanischen Yale Professorin, Amy Chua, mit dem Titel Battle Hymn of the Tiger Mother (Deutsch: Die Mutter des Erfolgs“) neuen Schwung erhalten.

Chua ist Juristin und Tochter eines chinesisch-stämmigen Physikers, der in die USA ausgewandert war. Ihr Buch ist die Geschichte ihrer Familie, im Mittelpunkt steht die Erziehung der beiden Töchter. Ihr Erziehungsstil, den sie chinesisch nennt, zeichnet sich durch äußerste Strenge aus. Sie verlangt von ihren Kindern Perfektion. Die Mädchen müssen in der Schule brillieren und werden auch musikalisch zu Siegern getrimmt. Als die jüngere Tochter sieben Jahre alt ist, zwingt die Mutter sie, ein schwieriges Klavierstück bis in die Nacht einzuüben. Chinesische Mütter, so Chua, würden niemals akzeptieren, wenn Kinder eine schlechtere Note als „A“ heim brächten. Dann gelte es, Lehrbücher durchzuackern, bis der Stoff sitzt (1).

Die Unnachgiebigkeit und der kompromisslose Ehrgeiz, der bei Chua zum Ausdruck kommt, wirkt auf viele von uns – auch auf mich – unzeitgemäß und abschreckend. Trotzdem ist die „Mutter des Erfolgs“ zu einem der meist gelesenen Bücher der letzten Monate geworden. Liegt dies daran, dass anfängliches Befremden schnell der Identifikation mit der Autorin weicht? Auch ich habe die Tigermuttermethode, in (für deutsche Verhältnisse ausreichender) abgeschwächter Form, an meinem Sohn angewandt. Bei uns zuhause war vor einiger Zeit der Bildungsnotstand ausgebrochen. Mein Sohn, 10 Jahre alt, muss sich im nächsten Halbjahr für ein Berliner Gymnasium oder eine Sekundarschule bewerben. Doch, oh je – noch vor wenigen Monaten stand er mit der Rechtschreibung auf Kriegsfuß. Es drohte eine Fünf im Zeugnis. Fortan hieß es, ganz im Stile der Tigermutter, Lernhilfen durchzuarbeiten und zu üben, üben, üben – zur Not auch gegen den Widerstand des Kindes. Ganz wie Chua kann auch ich von Streit, Frust und Erfolg erzählen – mein Sohn verbesserte sich um zwei Notenpunkte.

Bin ich die einzige Mutter, die sich dazu bekennt die Methode Chua angewandt zu haben? Natürlich nicht. Viel wurde darüber spekuliert, was den Erfolg des Buches ausmacht. Die Antwort ist simpler als wir glauben: Mit ihrem Werk trifft die Autorin den Nerv einer globalen Mittelschicht, die ihre Kinder mehr im Großkatzenstil erzieht, als sie zugeben mag. Was Chua beschreibt, ist nicht der chinesische Erziehungsstil, sondern eine ausgeprägte Variante der „intensiven Elternschaft“, wie sie von einer besser gestellten Schicht weltweit praktiziert wird. Wir nehmen das nicht wahr, weil die Bezeichnung als „chinesischer“ Erziehungsstil diese Übereinstimmung verschlüsselt. . Das Bild der nachlässigen, westlichen Eltern, die ihre Kinder ganz dem eigenen Schicksal überlassen, ist aber ebenso ein Klischee wie das der strengen chinesischen Mutter.

Nein, die Gattung Großkatzenmütter steht für ein Erziehungsideal, das uns allen bekannt ist. Gekennzeichnet ist es vor allem durch eins: den hohen Aufwand in Form von elterlicher Zeit oder elterlichen Geldes, der in die Förderung der Kinder gesteckt wird. Es beginnt früh. Bücher wie „Babys spielerisch fördern“ oder „Von den 10 Sprüngen in der mentalen Entwicklung ihres Kindes während der ersten Monate“ liegen im Amazon Verkaufsranking ganz vorne. Weiter geht es im Kindergartenalter, wenn die Dreijährigen zur musikalischen Früherziehung oder zum „Baby-Englisch“ angemeldet werden müssen. Später kutschieren wir unsere Schulkinder zu Nachmittagsaktivitäten, um ihnen eine „sinnvolle Freizeitgestaltung“ zu ermöglichen und bezahlen zur Not Hunderte von Euro für Nachhilfestunden. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2010 ergab, dass deutsche Eltern jährlich zwischen 942 Millionen und knapp 1,5 Milliarden Euro für Nachhilfe ausgeben (2). Darin nicht eingeschlossen ist die Zeit, die Eltern selbst aufopfern um bei den Hausaufgaben zu helfen. Mütter und Väter, die sich nicht daran erinnern können, von ihren eigenen Eltern je viel mehr als knappe Nachfragen bekommen zu haben, verbringen Stunden am Schreibtisch ihrer Kinder. Diese „Intensiv-Elternschaft“ ist nicht auf einige wenige Familien beschränkt, sondern zum Standardmodell geworden, an dem wir uns alle zu messen haben. Ein Zeichen ihrer Verbreitung liefern selbst die Lebensmitteldiscounter, die regelmäßig Lernbücher für alle Klassenstufen im Sortiment führen.

Im Buch der Tigermutter spiegelt sich dieses Ideal einer durch intensive Elternförderung gekennzeichneten Erziehung in aufgebläht-verzerrter Form wider. Durch die verblüffende Offenheit, mit der die Autorin schildert, wie sie sich, fast schon pathologisch, mit dem Erfolg ihrer Kinder identifiziert, zeigt sie uns auch die Grenzen dieser Erziehung auf. Leider verharrt die Debatte über die Schwächen beim Oberflächlichen. Die jüngere Tochter, Lulu, rebelliert so heftig gegen die Mutter, dass diese Angst hat ihr Kind zu verlieren. Natürlich wird hierfür vor allem der „chinesische“ Drill verantwortlich gemacht, der zwar manchmal funktioniere, aber bestenfalls kleine Roboter erzeuge, die zu selbständigem Denken unfähig seien. Wir erkennen die üblichen Klischees von den asiatischen Massenmenschen.
Wirft man den chinesischen Ballast ab, öffnet einem das Buch die Augen für die eigenen Schwächen. Für mich stellt sich nicht die Frage, was am vermeintlich chinesischen Modell falsch ist, sondern ob nicht das System der intensiv-fördernden Elternschaft das eigentliche Problem ist. Seit wann sind Eltern unmittelbar für die formale Bildung und den schulischen Erfolg ihrer Kinder verantwortlich? Natürlich tragen Eltern Verantwortung und selbstverständlich hilft es, wenn gute Rahmenbedingungen fürs Lernen zur Verfügung gestellt werden. Auch dürfen Eltern ihren Kindern durchaus klar machen, was von ihnen erwartet wird, aber sollte das schulische Lernen nicht zuerst und vor allem in der Schule erfolgen?

Die Trennung des Elternhauses vom formalen Lernen hat Tradition, auch wenn diese zurzeit aufgeweicht wird. Schon im klassischen Altertum wurde die Bildung der Söhne Lehrern überlassen (3). In der Neuzeit wurden Heranwachsende auf Wanderschaft geschickt, um das Handwerk – auch das des eigenen Vaters – von einem Fremden zu erlernen. Der Bildungsroman Anton Reiser aus der Zeit der Spätaufklärung beschreibt, welche Härten dafür in Kauf genommen wurden. Der Grund war nicht nur, dass Kinder und Jugendliche einen breiteren Horizont erhalten sollten, als die enge Welt des eigenen Haus und Hofes es ihnen hätte ermöglichen können. Wahrscheinlich ist, dass die elternzentrierte Bildung als Gesellschaftsmodell nicht taugte. Eltern und ihre Kinder sind emotional viel zu eng miteinander verbunden, um zuverlässig ein konstruktives Schüler-Lehrerverhältnis aufzubauen. In Ländern, in denen Eltern ihren Kindern das Autofahren beibringen, ist der Streit, der sich dabei entwickelt, notorisch. Als die australische Zeitung Sydney Morning Herald im Februar dieses Jahres eine Studie veröffentlichte, wonach fast die Hälfte der Eltern während der Fahrstunden nervös, ängstlich oder gereizt seien, dürfte dies niemanden überrascht haben (4). Warum also sollten Eltern als Hausaufgabenhelfer oder Heimtutoren glänzen?

Keine Debatte über Bildung – ob im positiven oder negativen Sinne – kommt ohne den Verweis auf die zentrale Rolle der Eltern aus und das fordert auch dort, wo es harmonischer zugeht, einen hohen Preis. Wer mag es Eltern verdenken, wenn sie die Trennlinie zwischen ihren eigenen Bedürfnissen, den ihrer Kinder und der Schule nicht mehr erkennen? Reflektieren die Schulnoten des kleinen Tim die Leistungen des Kindes oder die der Eltern? In unserem Zeitalter der Intensiv-Elternschaft ist die Antwort alles andere als klar. Schreibt Mahmood eine Fünf, wird nicht nur er sondern auch Mama und Papa bewertet. Vom ersten Tag der Grundschule an wird Eltern eingebläut, die Leistungen ihrer Kinder seien eng damit verbunden, wie viel Hilfe sie zuhause erhalten. Kein Wunder, dass sich immer mehr Eltern viel zu stark in die schulischen Angelegenheiten ihrer Kinder einbringen, immer häufiger als Anwälte ihrer Kinder auftreten und sogar zunehmend die Gerichte bemühen, wie wir aus der Presse erfahren (5). Kürzlich konnte ich mich dabei ertappen, wie ich zu meinem Sohn sagte: „Wir müssen noch Hausaufgaben machen.“

Für mich hat die Hilfe, die viele Eltern ihren Kindern geben, einen faden Beigeschmack. Zum einen wird so die Energie und Zeit unzähliger Erwachsener gebunden, die längst Lesen, Schreiben oder Rechnen gelernt haben. Wer stundenlang mit seinen Kindern Übungen macht, hat weniger Gelegenheit eigene Bücher zu lesen. Und welche Signale senden wir durch eine übertriebene Zuwendung an unsere Kinder? Wie sollen wir unseren Kindern beibringen, dass nur die eigene Leistung zählt, wenn es selbstverständlich geworden ist, ihnen permanent helfend zur Seite zu stehen? Vor allem: Wo hört die Hilfe auf und wo beginnt das Schummeln? Der englische Soziologe Frank Furedi, der auch den Begriff der „Intensiv-Elternschaft“ (intensive parenting) geprägt hat, vermutete schon vor einigen Jahren hier die Grundlage für die weit verbreitete Praxis des Plagiierens. Jeder mache das Internet für diesen Trend verantwortlich, so Furedi. Durch das Internet werde das Plagiieren zwar zu einem Kinderspiel. Dies könne aber nicht erklären, wieso so viele ehrliche Studenten auf die Idee kommen, anderer Leute Arbeit als die eigene auszugeben. Wo, fragt er, gibt es deutlichere Zeichen für die Normalisierung des Schummelns, als an unseren Schulen? (6). Selbst Kinder in den ersten Klassen erscheinen zum Unterricht mit fein herausgeputzten Präsentationsmappen oder Hausaufgaben, bei denen die Eltern mehr als nur ein bisschen Hilfe geleistet haben.

Den Eltern ist die Schuld hierfür nicht allein zuzuschieben. Im verzweifelten Versuch, die Ergebnisse an den Schulen zu verbessern, wird die elterliche Sorge um ihre Kinder sogar dahingehend manipuliert, dass diese zu Ersatzlehrern werden. Das Thema elterliche Hausaufgabenhilfe wurde bei einem Elternabend an der Schule meiner Kinder verblüffend offen angesprochen. Auch für die Hausaufgaben, so die Mathematiklehrerin, wolle sie Noten geben. Sie wisse, dass einige Kinder die Aufgaben mit den Eltern zuhause bearbeiteten. Das sei in Ordnung, denn, so die Lehrerin, warum solle Fleiß nicht belohnt werden? Wessen Fleiß? Als mein Sohn zur Schule kam, glaubte ich gut daran zu tun, seine schulische Bildung den Professionellen zu überlassen. Schon nach drei Monaten wurde ich in die Schule zitiert: Ich müsse unbedingt mit ihm Lesen und Schreiben üben. Als Junge müsse seine Motorik und Lesestärke besonders gefördert werden. Ein Großteil des Lernens, so wurde mir gesagt, fände zuhause statt. Doch wenn so viel Lernen zuhause stattfindet, wo bleibt dann die besondere Rolle der Schule?

Statt der Frage nachzugehen wie unsere Schulen gestärkt werden können, damit sie allen eine umfassende Bildung anbieten können, geht die Debatte in die entgegengesetzte Richtung. Kurzerhand wird ein Problem zur Lösung umdefiniert und wir befinden uns im Teufelskreis der Elternaufrüstung und des Dahinschwindens der schulischen Lehrhoheit und Autorität. Die Intensiv-Elternschaft wird mit all ihren Schwächen zum Königsweg erklärt. Eltern, die sich diesem Weg nicht anschließen wollen oder können, werden unumwunden zu „Problemeltern“. Auf der Homepage des deutschen Bildungsservers finden wir einen Artikel des Zeit-Redakteurs Martin Spiewak. Warum, so Spiewak, zeige die Statistik, dass der deutsch-türkische Nachwuchs überproportional oft in der Schule scheitert? Seine Erklärung: „Weil viele Migranteneltern ihren Kinder viel mehr als guten Willen nicht bieten können. Weder Vorlesestunden auf Deutsch noch anregende Literatur im Bücherschrank, weder einen eigenen Schreibtisch noch Geld für Nachhilfe, weder Unterstützung bei den Hausarbeiten noch Vorbilder in der Familie“. Es sind, so Spiewak, ganz einfach „die »falschen Eltern« für ihre Kinder“. (7)

Das ist richtig beobachtet. Zweifellos hätten diese Kinder mehr Chancen, wenn sie in einem Haushalt aufwüchsen, der dem Ideal der intensiv-fördernden Elternschaft besser entspräche. Auch der Verweis auf individuelle Verantwortung ist nicht unsympathisch. Trotzdem scheint mir die das Bild der „falschen Eltern“ oder „Problemeltern“ unreflektiert und unbefriedigend. Kann gute Elternschaft auf ein einziges Kriterium reduziert werden? Auf die Frage, ob und in welchem Maße sich Eltern für die Schulkarriere ihrer Kinder einsetzen? Elternschaft wird durch die Fixierung auf die schulische Karriere überfrachtet und gerät in eine Schieflage. Wenn in Zusammenhang mit mangelnder „Elternleistung“ von Problemen die Rede ist, wird insinuiert(?), dass es nicht ausreiche Mutter oder Vater zu sein, seinen Kindern eine Familie zu bieten, sie zu versorgen, im Sportverein anzumelden und zur Schule zu schicken. Nein, wer nicht dafür sorgt, dass die Kinder erfolgreich sind, den Satz des Pythagoras, die Großschreibung substantivierter Verben und die Regeln der gesunden Ernährung beherrschen, der ist der falsche Papa für das moderne deutsche Kind.

Eltern haben zweifellos die Aufgabe ihre Kinder auf ein eigenständiges Leben vorzubereiten. Doch das können die meisten Eltern besser als es ihnen heutzutage zugestanden wird. Sie sind es, die ihren Kindern wichtige Regeln des Zusammenlebens vermitteln und ihnen signalisieren, wie man sich wo zu verhalten hat. Wenn Eltern neben dieser erzieherischen Rolle auch noch Lehrer, Karriereberater oder persönliche Trainer sein sollen, gerät die Elternschaft unter ziemlichen Druck.

Das Ideal unserer Zeit ist die intensive Elternschaft, bei der die Ansprüche an Mütter und Väter ständig wachsen. Weil das Bild der vorlesenden, bei Hausaufgaben helfenden Mutter niemals auf alle Elternhäuser übertragen werden kann, muss der Staat mit Bildungsgutscheinen einspringen. Lange ist es her, dass Kindererziehung als ganz normaler Bestandteil unseres Lebens angesehen wurde. Wer betont wie komplex und schwierig die Aufgabe von Eltern ist, darf sich großer Zustimmung erfreuen. Alles müsse man lernen, nur nicht, wie man seine Kinder groß zieht, ist eine beliebte Floskel unserer Zeit. Jugendforscher Klaus Hurrelmann fordert gar einen Elternführerschein. Tatsächlich ist Elternschaft aber keine hohe Wissenschaft. Milliarden von Eltern ziehen ihre Kinder erfolgreich groß und immer wieder wächst eine neue Generation heran, ohne dass die Welt zugrunde geht. Vielleicht ist es an der Zeit Eltern mitzuteilen, dass sie etwas entspannter sein dürfen. In Zeiten der intensiven Elternschaft werden die wenigsten Mütter bereit sein, sich auf Experimente einzulassen und die Bildung ihres Kindes der Schule zu überlassen, aber Chua hat uns aber wenigstens die Gelegenheit gegeben, über neue Wege nachzudenken.

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