01.09.2007

Bildung – Spielplatz für Aktivisten und Moralisten

Analyse von Frank Furedi

Vom Alarmismus angesichts der globalen Erwärmung, der im Geografieunterricht verbreitet wird, bis hin zu Yogakursen und Anleitungen zum Glücklichsein: Der Klassenraum muss heutzutage für alles herhalten und wird von eifrigen Aktivisten vereinnahmt, die sich nur wenig um die Bildung scheren.

Während der vergangenen zwei Jahrzehnte haben sich die Schullehrpläne in Großbritannien immer weiter von der Herausforderung verabschiedet, unseren Kindern eine gute Bildung zu bieten. Zwar stehen pädagogische Überlegungen nach wie vor im Zentrum der offiziellen Erwägungen zum nationalen Curriculum. Dennoch werden schulische Belange in zunehmendem Maße für soziale und politische Zwecke missbraucht.

Kürzlich hat die britische Kommission für Chancengleichheit in der Bildung (Equal Opportunities Commission) die 40 Seiten lange Richtlinie „The Gender Equality Duty“ an Lehrer und Schulaufsichtspersonen verschickt, mit der diese darüber aufgeklärt werden, wie gegen die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern vorzugehen sei. Sie betrachtet das Curriculum als ein prinzipiell politisches Instrument, mit dessen Hilfe man persönliche Einstellungen und Verhaltensweisen verändern könne. „Die Richtlinie über die Gleichstellung der Geschlechter bietet Schulen eine fantastische Möglichkeit, Ungleichheiten durch koordinierte Anstrengung entgegenzutreten und sicherzustellen, dass es allen Schülern ermöglicht wird, ihr volles Potenzial zu erreichen“, schrieb die Kommission. [1]

„Die Vereinnahmung der Bildung macht Bildung zur Nebensache.“

Vorschriften für Schulen mit dem Ziel, die Lücke zwischen den Geschlechtern zu schließen, konkurrieren mit andere Direktiven, die z.B. vorgeben, wie Kinder erzogen werden sollten, um deren Sensibilität für kulturelle Unterschiede zu stärken. Der frühere Vorsitzende des britischen Lehrerverbandes möchte, dass Schüler mehr über Babypflege lernen, und fordert obligatorische Elternkurse für 14- bis 16-Jährige. [2] Andere verlangen von Lehrern, der Sexualerziehung oder der Klimaveränderung, der Aufklärung über gesunde Ernährung, Drogen, Homophobie, Islamophobie usw. einen größeren Stellenwert im Unterricht einzuräumen.
Der Schulunterricht ist zu einem Schlachtfeld für eifrige Aktivisten geworden, die ihre Botschaft vermitteln möchten. Staatliche Gesundheitsexperten verlangen mehr obligatorische Debatten über gesunde Ernährung und Fettleibigkeit. Experten, die sich auf das Sexleben junger Menschen versteift haben, fordern Schulen dazu auf, noch mehr Sexualkunde zu unterrichten. Andere möchten, dass die Geschichte der Schwarzen oder der Schwulen einen größeren Stellenwert erhält. Der britische Bildungsminister Alan Johnson hat nicht nur die globale Erwärmung in den Lehrplan aufgenommen, sondern strebt auch an, die frühere Rolle Englands im Sklavenhandel zu einem obligatorischen Teil des Geschichtsunterrichts zu machen. Er möchte den Unterricht in Fächern wie Geschichte oder Geografie dem Trend unterordnen, die neuesten Werte oder Anliegen zu vermitteln. Ihn interessiert nicht die theoretische Auseinandersetzung mit dem Sklavenhandel als Teil einer akademischen Disziplin. Die Behandlung des Sklavenhandels im Unterricht ist für ihn vielmehr ein Mittel, um seine Vorstellungen von einem multikulturellen Großbritannien im Unterricht zu verbreiten. Die entsprechende Lehrplanänderung begründete er damit, es gehe darum, „dass junge Menschen heute verstehen, was es heißt, britisch zu sein“. [3]
Johnson ist Bildungsminister, doch dieser Titel ist in seinem Fall irreführend. Er scheint an Bildung als solcher kein Interesse zu haben. Sein Ziel ist es, den Klassenraum zu nutzen, um die neuesten Vorurteile zu vermitteln. Nicht einmal den Schulsport kann er aussparen. Vor Kurzem gab er bekannt, der Sportunterricht solle ab sofort die Bedeutung eines gesunden Lebensstils hervorheben und Kinder auf das Problem der Fettleibigkeit aufmerksam machen. Nachdem Kinder also instruiert wurden, wie sie sich als grüne Konsumenten zu verhalten haben, und wichtige Fähigkeiten für die erfolgreiche spätere Elternschaft erworben haben, lernen sie nun, wie und weshalb sie abnehmen müssen. Ein Lehrplan, der einer solch grundlegenden Reform unterworfen wurde, hat nur noch wenig Energie für Nebensächlichkeiten übrig – etwa Kinder für wirkliche Bildung zu interessieren.
Viele Organisationen und Verbände, die sich für eine Änderung von Lehrplänen einsetzen, haben nicht das geringste Interesse an dem Fach, das sie verändern möchten. Ihnen geht es darum, das eigene Anliegen aufzuwerten, indem es im Lehrplan verankert wird. Auch die Regierung verschafft sich Anerkennung. So mag es ihr an einer effizienten Drogenpolitik mangeln, aber sie kann wenigstens darauf verweisen, dass es in den Schulen Drogenerziehung gibt.
In den vergangenen Monaten hat die Politisierung des Unterrichts stark an Auftrieb gewonnen. Im Februar wurde die Klimaerwärmung als neues großes Thema für den Schulunterricht aufgegriffen. Die Unterweisung in globaler Erwärmung wird als Geografieunterricht verkauft. In einem Aufsatz mit dem Titel „Geography used to be about maps“ (Geografie hatte einst etwas mit Karten zu tun), der im CIVITAS Bericht erschienen ist, zeigt Alex Standish, dass dieses Fach grundlegend verändert wurde, um in erster Linie „globale Werte“ zu vermitteln. [4] Johnson will „die nächste Generation dazu bringen, anders über ihren Einfluss auf die Umwelt nachzudenken“. Sein Ziel ist es, Kinder bei der Gestaltung ihres Lebens zu beeinflussen. Er rechtfertigt dies, indem er an eine vermeintlich höhere Wahrheit appelliert. Johnson hofft, „bei der nächsten Generation ein Gefühl dafür zu wecken, wie unser Handeln die globale Erwärmung entweder eindämmt oder aber auch verursacht, dann leiten wir einen kulturellen Wandel ein, der im wahrsten Sinne des Wortes die Welt retten könnte“. [5]
Dieser unermüdliche Versuch, Schulkinder für Werte zu gewinnen, die gerade in Mode sind, ist symptomatisch für die generelle moralische Orientierungslosigkeit unserer Zeit. Statt zu versuchen, ein Verständnis dafür zu entwickeln, was es heutzutage heißt, ein guter Bürger zu sein, oder eine Vision für ein öffentliches Gut zu artikulieren, zieht es die britische kulturelle Elite vor, jedes ihrer Anliegen zu einem Unterrichtsfach zu machen. Im Klassenraum werden die ungelösten Probleme des öffentlichen Lebens zu einem Unterrichtsziel umgemünzt. Das beste Beispiel hierfür ist das in Großbritannien eingeführte Fach der Bürgererziehung. Immer wieder haben Schulinspektoren auf die unzulängliche Art und Weise hingewiesen, mit der dieses Fach unterrichtet wird. Dies ist jedoch wenig verwunderlich, wenn man sieht, dass selbst die stärksten Verfechter dieses Faches wenig konkrete Vorstellungen darüber haben, was es eigentlich beinhalten soll.
Nick Tate, der frühere Leiter der Schulbehörde, vertrat die Auffassung, dass die Bürgererziehung dazu diene, Werte zu verbreiten und zu verankern sowie eine Vorstellung von „Partizipation und Pflichten“ zu vermitteln. Doch die offensichtliche Frage, um welche Werte es sich handele, wurde sorgfältig umgangen. Stattdessen haben diejenigen, die die Bürgererziehung befürworten, eine Liste von unbedenklichen, langweiligen und farblosen Gefühlen zusammengeschustert, die sie als Werte bezeichnen. Neben Anständigkeit, Ehrlichkeit und Gemeinschaft wurde sogar die Teilnahme an Wahlen zu einem Wert erklärt. Dass bei der Unterrichtung des Faches keinerlei Vorstellung darüber vermittelt würde, was es heiße, britisch zu sein, sollte niemanden, der auch nur die geringsten Kenntnisse von Pädagogik hat, überraschen. Versuche, den Klassenraum für soziale Konstruktion zu nutzen, sind zum Scheitern verurteilt. Diejenigen, die wirklich daran interessiert sind, Kinder zu verantwortlichen Bürgern zu machen, werden sich lieber den wirklichen Unterrichtsthemen zuwenden, die auf echtem Wissen basieren. Propagandakampagnen über „Werte“ können Kinder nur vom Lernen ablenken. Der „werteorientierte“ Unterricht wird Kinder hervorbringen, die zwar sagen können, dass der Sklavenhandel schlecht war, aber keine Ahnung davon haben, wie das allgemeine Wahlrecht in Großbritannien errungen wurde. Die Konsequenz dieser Entwicklung ist, dass Fächer wie Geografie oder Geschichte kaum noch Ähnlichkeit haben mit dem, was sie einst darstellten. Ein Geschichtsunterricht ohne Chronologie ist jedoch wie ein Matheunterricht ohne Multiplikation.

Die Einzigartigkeit der Bildungsignoranz des 21. Jahrhunderts

Natürlich ist der Versuch, mit dem Schulunterricht Werte und Glaubensgrundsätze zu beeinflussen, nicht neu. Zumindest teilweise ist die „Krise der Bildung“ symptomatisch für das Fehlen eines Konsenses über die grundlegenden gesellschaftlichen Werte. Bereits in den frühen 60er-Jahren beschrieb die Philosophin Hannah Arendt die Tendenz, das Fehlen eines moralischen Konsenses mit einem Problem des Schulunterrichts zu verwechseln. Bevor ein Schulsystem seine Vorteile voll entwickeln kann, bedarf es eines Konsenses über die Vergangenheit. „Das Problem der Bildung in unserer modernen Zeit liegt in der Tatsache, dass sie ihrer eigenen Natur wegen weder die Autorität noch die Tradition umgehen kann und doch in einer Welt bestehen muss, die nicht durch Autorität strukturiert ist oder durch Tradition zusammengehalten wird“, schrieb sie 1961. [6]

„Bildung ist heute sehr viel politisierter als jemals zuvor in den letzten 200 Jahren.“

Arendt erkannte, dass es für die Gesellschaft in einer sich verändernden Welt schwierig ist, eine kreative Balance zu finden zwischen den Errungenschaften der Vergangenheit auf der einen und den Herausforderungen der Gegenwart auf der anderen Seite. Daher erleben Bildungsexperten ihre Aufgabe als permanentes Krisenmanagement. Davon, die Herausforderung anzunehmen, den Respekt für das Alte aufrechtzuerhalten und gleichzeitig für das Neue offen zu sein, kann der Schulunterricht nur profitieren. Leider hat sich die britische Bildungsbehörde in den letzten Jahren von dieser Herausforderung verabschiedet. Sie hat sich von der Vergangenheit distanziert und sich der Suche nach neuen Werten, die sie zum Teil selber erfindet und die sie als für unsere Zeit „angemessen“ ansieht, zugewandt.
Auch das Gefühl, das Bildungssystem durchlebe eine Krise, ist nichts Neues. Neu in der heutigen Zeit ist jedoch, dass Bildungspolitiker davor zurückschrecken, ein Schulsystem zu entwickeln, das zwischen Neu und Alt vermittelt. Die Tendenz, neue Fächer zu erfinden, alte Fächer zu modernisieren oder sie „relevanter“ zu machen, ist dem Versuch zuzuschreiben, eine neue Tradition zu erfinden. Leider können Traditionen jedoch nicht aus dem Nichts zusammengeschustert werden. Wenn sie keine organischen Verbindungen zu den täglichen Erlebnissen und Erfahrungen von Menschen haben, können sie diese auch nicht inspirieren. Aus diesem Grund ist jeder Versuch, eine Bürgererziehung von oben herab einzuführen, zum Scheitern verurteilt.

„Die Pädagogik hat ihr Vertrauen in die Bedeutung von Wissen und in die Suche nach Wahrheit verloren.“

Es wäre jedoch falsch, die heutige Bildungskrise einfach nur als die moderne Version eines alten Problems anzusehen. Bildung ist heute sehr viel politisierter als zu jeder anderen Zeit in den letzten 200 Jahren. Die gegenwärtige Bildungskrise ist drei destruktiven Einflussfaktoren ausgesetzt, die einzigartig sind. Zunächst einmal hat die Pädagogik unserer Zeit ihr Vertrauen in die Bedeutung von Wissen und in die Suche nach Wahrheit verloren. Immer mehr Bildungsexperten bestehen darauf, dass es so etwas wie eine absolute Wahrheit und daher „richtige“ oder „falsche“ Antworten nicht gäbe. Dieser relativistische Wandel in der Pädagogik hat wichtige Konsequenzen für die Erkenntnistheorie und die Qualität des intellektuellen Lebens in der westlichen Welt. [7] Auch beeinflusst er auf sehr fundamentale Weise die Wahrnehmung des Curriculums: Wenn die Bedeutung von Wahrheit und der Status von Wissen verhandelbar sind, dann ist es auch das Curriculum.
Die Abwertung von Wissen führt auch zu einer Relativierung von Standards. Aus diesem Grund sind Bildungspolitiker so pragmatisch beim Umgang mit den Inhalten von Schulfächern. Natürlich geben sie selten zu, dass das Curriculum infolge ihrer Reformen leichter geworden ist. Stattdessen behaupten sie, das Fach sei durch die Veränderungen relevanter und zeitgemäßer geworden. Die Ankündigung, Bildung solle „individueller werden“, ist eine logische Konsequenz dieses Trends. Individuelles Lernen ersetzt die Idee eines kohärenten Wissenskanons, den sich jeder aneignen soll. Stattdessen soll eine Unterrichtsmethode gefunden werden, die auf jeden passt. Eine solch beliebige Einstellung zu Wissen kann dem Druck, das Curriculum zu politisieren, nicht standhalten.
Der zweite destruktive Trend ist die Inthronisierung von Ignoranz in der Pädagogik. Das Streben nach Exzellenzstandards wird von Pädagogen oft als elitär bezeichnet. Eine Bildung, die Kinder wirklich herausfordert und die einige als schwierig empfinden, wird als zu segmentierend abgelehnt. Bildungsfeindliche Tendenzen gab es in der Schulbildung immer wieder, aber erst seit einiger Zeit vertreten Bildungspolitiker selber derartige antiintellektuelle Vorstellungen.
Der dritte einflussreiche Trend, der einzigartig in unserer heutigen Zeit ist, ist die grundlegend veränderte Wahrnehmung von Kindern durch Pädagogen. In den vergangenen Jahren ist es üblich geworden, Kinder als zerbrechliche, emotional verletzliche Wesen zu betrachten, die durch eine wirkliche intellektuelle Herausforderung zu stark belastet würden. Im April 2007 forderte Bildungsminister Johnson die britischen Lehrer auf, Kinder regelmäßig zu loben. Jedes Kind, so ist in seinem Rundschreiben zu lesen, sollte fünfmal so oft gelobt werden, wie es z.B. für störendes Verhalten im Unterricht bestraft werde. [8] Dass eine solch sinnlose Vorschrift für das Verhältnis zwischen Strafe und Lob durch die Bildungsinstitutionen erlassen wird, ist bezeichnend für das verarmte intellektuelle und moralische Klima innerhalb dieser Institutionen.
In den USA ist diese Wohlfühl-Pädagogik bereits weit verbreitet. Sieben- oder Achtjährige können bereits den Psychoslang auswendig wiedergeben und sprechen davon, wie wichtig es sei, negative Emotionen zu vermeiden und über genügend Selbstvertrauen zu verfügen. Ihre schulischen Leistungen werden dadurch nicht besser. Auch in Großbritannien gibt es Pädagogen, die der Meinung sind, es sei leichter, Kindern emotionale Unterstützung zu geben, als ihnen Mathematik, Naturwissenschaften oder Lesekompetenzen zu vermitteln. Immer häufiger werden im Schulunterricht Yoga, Aromatherapien oder musikalische Entspannungsübungen gemacht, um so die Konzentration von Kindern zu verbessern.
Paradoxerweise halten wir Kinder dadurch, sie dazu zu bringen, sich gut zu fühlen, gleichzeitig von Erfahrungen ab, die ihnen ein Erfolgsgefühl vermitteln. Das Klima an den Schulen wird zunehmend emotionalisiert. Ich kann mit ziemlicher Sicherheit voraussagen, dass, je mehr Ressourcen Schulen für die Verwaltung von Emotionen aufwenden, desto mehr Kinder dazu ermuntert werden, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Sie werden zunehmend introvertiert und selbstzentriert. Die ungewollte Folge wird sein, dass diese Kinder glauben, sie hätten ein psychologisches Problem. Indem dieses therapeutische Projekt als emotionale Erziehung bezeichnet wird, soll uns weisgemacht werden, es habe einen Bildungswert. Den hat es jedoch nicht.
Es gibt keine schnelle Lösung für die Probleme, mit denen die Bildung heute konfrontiert ist. Aber es kann eine Reihe von Maßnahmen ergriffen werden, um ein Curriculum einzuführen, das unseren Kindern angemessen ist. Am wichtigsten ist es, die Bildung zu entpolitisieren. Außerdem muss sich die Gesellschaft gegen den Trend stellen, den Status von Wissen und Standards abzuwerten. Antielitäre Erziehung ist in Wirklichkeit ein Vorwand für soziale Konstruktion, deren destruktive Auswirkungen auf schulische Standards bloßgestellt werden müssen. Des Weiteren müssen wir Kinder wieder ernster nehmen, ihnen ein herausforderndes Bildungsumfeld anbieten und ihre Fähigkeit fördern, sich mit Wissen auseinanderzusetzen. Kinder müssen nicht gelobt oder dazu gebracht werden, sich gut zu fühlen. Sie müssen einfach nur ernst genommen werden.

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