09.03.2016

Wider die Anmaßung der Politik

Rezension von Andreas Müller

Michael Huemers Wider die Anmaßung der Politik argumentiert größtenteils sorgfältig gegen staatliche Interventionen. Einige Schwächen teilt sich das Buch allerdings mit der libertären Bewegung.

Gehen Sie nicht wählen. Lassen Sie gesellschaftliche Probleme außer Acht. Und schwächen Sie die Demokratie. Im Übrigen sollten Sie es sich abgewöhnen, für Ihre Überzeugungen zu kämpfen. So lauten einige der Botschaften des US-amerikanischen Philosophen Michael Huemer, die er in seinem unter dem Titel Wider die Anmaßung der Politik auf Deutsch erschienenen Buch vertritt. Außerdem sollte man Drogen und Waffenbesitz legalisieren und die Grenzen öffnen.

Wer nun ein zwanghaft provokantes Buch erwartet, sieht sich enttäuscht. Michael Huemer argumentiert sehr nüchtern und sorgfältig. Sein Stil erinnert an jenen des deutschen Philosophen Norbert Hoerster. Die oben erwähnten Forderungen werden dann auch eher gemäßigt von Huemer interpretiert: Nur wer gut informiert ist, sollte wählen gehen. Wer keine Ahnung von Politik hat, ist verpflichtet, nicht zu wählen. Statt für seine Überzeugungen zu kämpfen, sollte man für sein Anliegen konstruktiv arbeiten. Und bei umstrittenen Fragen sollte man den Staat am Eingreifen hindern und nicht demokratisch über sie abstimmen lassen.

Michael Huemer geht von einer objektiven Moral aus, die jeder Mensch intuitiv erkennen kann. Man soll vorsichtig mit der Behauptung sein, man verfüge über politisches Wissen. Das behauptete Wissen soll unter anderem von Fachleuten anerkannt, spezifisch und konkret und von geeigneten Belegen gestützt sein. Letztlich verfügen wir zwar über ein echtes politisches Grundwissen, meint Huemer, wir sollten uns aber eingestehen, dass die Politik viele Fragen eben nicht eindeutig beantwortet kann. Und bei diesen unsicheren Fällen sollte sich die Politik aus dem gesellschaftlichen Leben heraushalten. Sonst sind die Folgen häufig sehr negativ.

„Wer keine Ahnung von Politik hat, ist laut Huemer verpflichtet, nicht zu wählen.“

Was man auch von Huemers Philosophie halten mag, so führt sie ihn jedenfalls zu einer klaren und logischen Argumentationsweise, die jeder Mensch grundsätzlich nachvollziehen kann. Das gilt mit Ausnahme der letzten zehn Seiten des Buches, in denen sich Huemer der formellen Logik (mit Variablen und mathematischen Gleichungen) bedient, um gegen den Egalitarismus zu argumentieren.

Huemers vereinfachtes Argument, warum der Erwerb politischen Wissens für die meisten Menschen unvernünftig ist, lautet beispielsweise:

1. Man handelt nur, wenn der Nutzen größer ist als die Kosten.

2. Der Nutzen politischen Wissenserwerbs ist äußerst gering.

3. Die Kosten politischen Wissenserwerbs sind beträchtlich.

4. Deswegen erwirbt man sich kein politisches Wissen.

Dabei spricht Huemer auch Ausnahmen an, wie Menschen, die aus beruflichen Gründen vom politischen Wissenserwerb profitieren, wozu er vermutlich als Philosoph selbst gehört. Der Erwerb politischen Wissens, etwa zu Waffengesetzen, zur Politik des leichten Geldes, zur Todesstrafe oder zur Gesundheitspolitik, erfordert gewiss einen beträchtlichen Aufwand. Insofern erscheint es zunächst unökonomisch, sich als Durchschnittsbürger allzu detailliert mit Politik zu befassen. Mit der eigenen Stimme bei der Wahl erreicht man, wie Huemer aufzeigt, nur sehr wenig. Darüber hinaus gehendes Engagement steht wiederum oft dem ökonomischen Eigeninteresse entgegen. Immerhin bietet dieses Argument einen Anreiz für mehr Verständnis für seine oftmals wenig an Politik interessierten Mitmenschen. Insgesamt überzeugt es jedoch nicht.

Die widersprüchliche Haltung zur Demokratie, die man hier bei Huemer erkennt, ist ein altes Problem der Libertären. Sie möchten die Politik auf wenige Grundaufgaben beschränken. Um dies erreichen zu können, müssen sie allerdings selbst politisch handeln, sich für Politik interessieren, ihre Mitmenschen überzeugen. Das wird nicht besser funktionieren, wenn sie in einem Buch über politische Philosophie schreiben, es wäre unökonomisch, sich mit Politik zu befassen. Warum sollte dann jemand dieses Buch lesen?

„Die widersprüchliche Haltung zur Demokratie ist ein altes Problem der Libertären“

Außerdem stellt sich die Frage, wie eine libertäre Gesellschaft aufrechterhalten werden kann, wenn nicht mit demokratischen Mitteln? Und diese erfordern, dass sich wenigstens die meisten Bürger über Politik informieren. Diese Aufgabe wird man nicht den wenigen Mitbürgern überlassen können, die ein berufliches Interesse an Politik haben. Ferner bleibt offen, wie der Verzicht auf staatliches Eingreifen durchgesetzt werden könnte, wenn nicht durch eine demokratische Entscheidung. Beispielsweise wird von manchen Denkern eine libertäre Staatsverfassung vorgeschlagen, die von den Gerichten verteidigt werden soll – so etwa von der Philosophin Ayn Rand. Diese Verfassung soll die demokratische Abstimmung über staatliche Eingriffe in die individuelle Freiheit unterbinden. Auch eine libertäre Verfassung kann allerdings „neu interpretiert“ werden, wie es nicht zuletzt der US-amerikanischen Verfassung erging. Am Ende hängt eine beachtete und gelebte Verfassung stets von der grundlegenden Unterstützung durch das Volk ab.

Unter anderem dieses libertäre Umsetzungsproblem führte die Anarchokapitalisten wie Murray Rothbard zur Ablehnung nicht nur der Demokratie, sondern des Staates überhaupt. Der Anarchokapitalismus hat allerdings seine eigenen, noch viel größeren Probleme. Darunter etwa die Frage, wie „konkurrierende Gerichte“ und Polizeibehörden, die miteinander im Wettbewerb stehen, friedlich Konflikte beilegen könnten. Diese Probleme untersucht etwa der amerikanische Philosoph Robert Nozick in seinem Klassiker Anarchy, State and Utopia. Wie dem auch sei: Michael Huemer versucht jedenfalls nicht, das Umsetzungsproblem seiner libertären Forderungen zu lösen.

Huemers Argumentation für freien Waffenbesitz und die Legalisierung von Drogen ist hingegen sehr sorgfältig. Die wichtigsten Argumente der Gegner werden überzeugend gekontert. Besonders im Waffenkapitel sieht man sich am Ende kaum noch in der Lage, zu widersprechen. Die Einwanderungsfrage wird nicht ganz so überzeugend behandelt. Huemer geht nämlich von „gewöhnlichen, nicht kriminellen Einwanderern“ aus, „die ihr Herkunftsland aus moralisch einwandfreien Gründen verlassen wollen“. Huemer hat den prototypischen Einwanderer vor Augen, der in der Neuen Welt ein glückliches Leben führen möchte. Unter dem Einfluss, den sich Einheimische durch Einwanderer mit einer anderen Kultur ausgesetzt sehen, versteht er „andere Sprachen“, das „Tragen ungewöhnlicher Kleidung“, das „Hören unvertrauter Musik“.

Wider die Anmaßung der Politik ist ein gutes, sorgfältig und nüchtern argumentierendes Buch für mehr Zurückhaltung seitens der Politik“

Aber: Kann man uneingeschränkt von solchen Einwanderern ausgehen? Den vernünftigen Zweiflern an absolut offenen Grenzen ist es ebenso gleich, welche Kleidung jemand trägt und welche Musik er hört. „Andere Kultur“ kann vielmehr auch bedeuten, dass jemand Frauen nicht respektiert, andere Weltanschauungen nicht toleriert oder die Grundregeln des liberalen Rechtsstaats und der aufgeklärten Debattenkultur untergräbt. Nun mag es auf diese und andere Einwände vernünftige Antworten der Befürworter uneingeschränkt offener Grenzen geben – nur erfährt man sie nicht von Huemer.

Insgesamt ist Wider die Anmaßung der Politik ein gutes, sorgfältig und nüchtern argumentierendes Buch für mehr Zurückhaltung seitens der Politik, ins Leben der Menschen einzugreifen. Schwächen sind die widersprüchliche Haltung zur Demokratie seitens Huemer wie das letzte, unpassend anspruchsvolle Kapitel. Beachtenswert ist die hervorragende Übersetzung, das Layout und sonstige formelle Eigenschaften des Buches – mit Ausnahme vielleicht des etwas überladenen Coverbildes. Der Verleger und Übersetzer Thomas Leske hat ein Buch auf die Beine gestellt, das sich qualitativ nicht von den Publikationen großer Verlage unterscheidet. Ein sehr gutes Zeichen für die in Deutschland junge libertäre Bewegung. Das Buch ist für rund 15 Euro auf der Website des Verlegers erhältlich.

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