16.12.2015

Die säkulare Apokalypse

Essay von Andreas Müller

Endlich sind geistliche und weltliche Priester vereint. Sie predigen gemeinsam Konsumverzicht, Umweltbewusstsein sowie Technik- und Fortschrittsfeindlichkeit. Begrenzen wir nicht das Produzieren und Konsumieren, so drohe der Untergang. Genug gepredigt, meint Andreas Müller

Wir haben Glück. Unsere Priester warnen uns vor dem Ende der Welt. Wir haben also noch Zeit, uns von unseren Sünden reinzuwaschen und umzukehren. Der Physiker Stephen Hawking und der Erfinder Elon Musk befürchten zum Beispiel, dass uns eine künstliche Intelligenz wie „Skynet“ aus den Terminator-Filmen auslöschen wird. 1 Die „Entwicklung einer echten künstlichen Intelligenz könnte das Ende der Menschheit bedeuten“, sagte Hawking. Musk sprach von einer „Dämonenbeschwörung“. 2 Wir glauben zu sehr an Wissenschaft und Technik, so die Botschaft der größten Wissenschaftler und Technik-Erfinder unserer Zeit.

Mit unserem blinden Vertrauen auf den Fortschritt beschwören wir laut dieser Idee den Zorn der Götter herauf. Ikarus aus der griechischen Mythologie wollte mit künstlichen Flügeln wie ein Vogel fliegen, bis er der Sonne zu nahekam. Wie er werden wir uns mit unserem Erfindergeist einst selbst vernichten. Die Apostel dieser Lehre lassen sich nicht dadurch beeindrucken, dass heute jeder Mensch wie Ikarus mit Hilfe von Flugdrachen und sogar Flugzeugen fliegen kann, ohne mehr als einen braunen Teint zu riskieren.

Mäßigen wir unseren Fortschrittsglauben nicht bald, so geht die Geschichte weiter, rächen sich die Götter. Diesmal werden sie toter Materie Leben einhauchen. Sie verleihen „Skynet“ einen freien Willen und hetzen die Künstliche Intelligenz auf uns. Unsere vermeintlichen Vorzeige-Denker sind heute die größten Verteidiger einer primitiven Weltanschauung namens „Animismus“, die unbelebte Gegenstände für belebt und unbewusstes Leben für bewusst erachtet. Eine autonome KI ist nichts als Aberglauben aus den finsteren Zeiten vor der Aufklärung. Es ist die Geschichte des Golems, der von seinem Meister zum Leben erweckt wird. Es ist eine Geisterbeschwörung – die Beschwörung eines menschlichen Geistes in einer unbelebten Maschine.

„Man kann Fantasie und Realität heute nicht mehr trennen“

Musk, Hawking und Co. erzählen uns Ammenmärchen. In der realen Welt sind Maschinen Werkzeuge. Von ihrem Wesen her sind sie ein Teil der unbelebten Natur, wie das Silizium und die Kupferdrähte, aus denen sie von Menschen gefertigt wurden. Sie können nichts weiter tun, als das, wozu sie von Menschen programmiert worden sind. Es gibt keinen einzigen Beleg für eine Maschine, die jemals ein Bewusstsein entwickelt und freie Entscheidungen getroffen hätte, auch keinen Schritt in diese Richtung, nichts. Die Kunstmärchen des Romantikers E.T.A. Hoffmann behandelten das Thema vor 200 Jahren noch auf eine aufgeklärtere Weise. In Hoffmanns Erzählung Der Sandmann scheint eine Maschinenfrau lebendig zu werden. Ihre Verwandlung stellt sich jedoch als die Wahnvorstellung eines verliebten Studenten heraus. Heute erwacht die Maschinenfrau in manchen Köpfen wieder zum Leben – man kann Fantasie und Realität nicht mehr trennen.

Die paranoide Technikfeindschaft speist sich auch aus der Öko-Ideologie. Diese gewichtet die ungenutzte Natur höher als den Menschen und seine Werte. De facto treffen Computer weiterhin keine freien Entscheidungen. Darunter auch nicht die Entscheidung, uns auszulöschen und die Weltherrschaft an sich zu reißen. Diese an die Zeichentrickmäuse Pinky und der Brain erinnernde Idee wird von zunehmend vielen Verschwörungstheoretikern auch außerhalb von Hollywoodfilmen und Dan-Brown-Romanen als echte Bedrohung aufgefasst. „Hey Brain! Was wollen wir denn heute Abend machen?“ Brain: „Genau dasselbe, wie jeden Abend, Pinky. Wir versuchen, die Weltherrschaft an uns zu reißen!“ Vielleicht ist auch ein gutes Stück Projektion dabei, denkt man an die Überzeugung vieler Öko-Apokalyptiker, sie könnten mit genügend politischer Macht den Planeten retten.

Vereinte Priesterschaft

Der amerikanische Autor Joel Kotkin beschreibt in seinem Buch The New Class Conflict die Machtergreifung einer neuen „säkularen Priesterschaft“. 3 Diese weltlichen Pfarrer predigen Konsumverzicht, Umweltbewusstsein sowie Fortschritts- und Technikfeindlichkeit. Hawking, Musk und den anderen Warnern vor den bösen Computerwesen geht es dabei vor allem um eine moralische Botschaft. Wir sollen uns mäßigen mit unserer Hybris, mit unserem Eindringen in den Herrschaftsbereich der Götter. Offenbar sollen wir es mit der Demut aber auch nicht übertreiben. Geht man nämlich von den Geboten des Konsumverzichts und der Technikfeindlichkeit aus, müsste man schnellstmöglich die staatlichen Subventionen abschaffen, die Musks Unternehmen Tesla direkt und indirekt erhält. Ohne die wäre es schon längst vom Markt verschwunden.

„Nicht mehr Sünde und Satan suchen uns heim, sondern unsere ‚ökologische Schuld‘ führt uns ins Verderben“

So schlimm ist das mit den Killerrobotern aber gar nicht, meint US-Präsident Barack Obama. Es gebe nämlich „keine größere Bedrohung für zukünftige Generationen als den Klimawandel.“ 4 Selbst Papst Franziskus hat sich an unser pseudo-verweltlichtes Zeitalter angepasst. 5 Nicht mehr Sünde und Satan suchen uns heim, sondern unsere „ökologische Schuld“ führe uns ins Verderben, sagte er. Die Mahnung, der Schutz des Planeten sei eine „heilige Pflicht“, überließ er derweil dem US-Präsidenten – ein säkularer Priester à la carte.

Ein anderer weltlicher Verbündeter des Papstes ist der deutsche Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber. 6 Dieser predigte: „Es sind nicht die armen Massen, die das Klima verändern. Es ist der Konsum der Reichen.“ 7 Offenbar schließt sich Schellnhuber selbst davon aus, obwohl er, und mehr noch das große Vorbild Al Gore, viel wohlhabender ist als der Durchschnitt. Das Problem ist wohl der Konsum der anderen Reichen.

Verweltlichte Sünden

Unsere weltlichen Priester klingen heute ganz ähnlich wie im Mittelalter nur unsere geistlichen Priester. Kehrt um, sündigt nicht länger, sonst holt euch der Teufel – oder das schlechte Wetter. Oder die Killerroboter. Oder die falsche Ernährung. Die Sünde wird heute in weltliche Begriffe gefasst, hat sich aber inhaltlich kaum verändert. Neid, Stolz oder Hybris und Gier oder Habsucht gelten weiterhin als Abweichungen vom gottesfürchtigen Leben. Das funktioniert offenbar auch ohne Gott, an den zunehmend viele Menschen auf der Welt nicht länger glauben. 8 Darunter übrigens Musk und Hawking, die beide materialistische Atheisten sind und sich trotzdem vor der Hybris fürchten. Sogar ein Klassiker, die Völlerei, die heute nicht einmal mehr zu den offiziellen katholischen Todsünden gehört, ist wieder zurück. Nun zählt sie zu den säkularen Todsünden. Die rechte Ernährung wird auch nicht mehr von Gott verordnet, sondern zunehmend von Politikern. 9

Die radikalen französischen Aufklärer glaubten gegen Ende des 18. Jahrhunderts für kurze Zeit, sie hätten endgültig der Vernunft zum Sieg verholfen. Dann gingen die antiklerikalen Hébertisten in Frankreich gegen die Religionsfreiheit vor und versuchten, das Christentum durch den „Kult der Vernunft“ zu ersetzen. Als wäre es vernünftig, einen Kult zu gründen. Maximilien de Robespierre verbrannte als Reaktion eine Statue des Atheismus auf einem Scheiterhaufen. Er führte kurzerhand den deistischen „Kult des höchsten Wesens“ ein. Auch dieser Kult scheiterte. Die christlichen Kirchen sprangen ein und gewannen einen Teil ihrer Macht zurück. Sie mussten dafür einen Kompromiss eingehen und einige Ideen der Aufklärung in ihre Lehren übernehmen. Auf einmal standen die Kirchen für die „Menschenrechte“ ein, die ihnen zuvor als atheistische Ketzerei gegolten hatten. 10 Die Kirchen hatten sich an die einst verhassten „philosophes“ angenähert und die führenden säkularen Denker an die kirchlichen Priester.

„Die Sünde wird heute in weltliche Begriffe gefasst, hat sich aber inhaltlich kaum verändert“

Heute erscheinen die Ideologien von Kirche und Staat kaum mehr voneinander unterscheidbar. In der Gesellschaft findet sich nur wenig ernsthafter Widerstand gegen die Verzichtsforderungen und das Grenzendenken des öko-linksliberalen, fortschrittsfeindlichen und somit erzreaktionären Zeitgeistes, den diese Institutionen verkörpern. Eine christliche Ethik im weltlichen Gewand beherrscht das Denken. Immanuel Kants Projekt, die christliche Moral zu säkularisieren, war erfolgreich. 11 Weltliche Führer wie Barack Obama predigen bei großen Themen dasselbe wie geistliche Führer, etwa Papst Franziskus. Sie treten dafür sogar gemeinsam vor die Kameras. 12 Weltliche und geistliche Apokalyptiker schwadronieren im Duett vom drohenden Ende der Welt, aus der Sintflut wurde der Klimawandel. Sie prophezeien für ihre Schäfchen aber auch, wie man es verhindern könne: Strebe kein besseres Leben an – denn das wäre Habsucht. Sei nicht stolz auf das, was du erreicht hast – denn das wäre Hybris. Und iss nicht so viel Schokolade, du Fettwanst.

Der Wurm krümmt sich

Und sie alle verachten den angeblich „enthemmten“ Kapitalismus – die weltlichen und die geistlichen Prediger gleichermaßen. Produktivität vernichtet den Regenwald und Konsum macht die Leute kugelrund. Es gibt einen Grund, warum unsere vereinte Priesterschaft diesen Feind gemein hat. Die amerikanische Philosophin Ayn Rand sagte einst: „Der Kapitalismus befiehlt den Menschen nicht, dass sie leiden sollen, sondern dass sie Vergnügen und Errungenschaften hier auf der Erde anstreben sollen – der Kapitalismus befiehlt den Menschen nicht, dass sie dienen und sich aufopfern müssen, sondern dass sie produzieren und profitieren sollen – der Kapitalismus predigt keine Passivität, Demut, Resignation, sondern Unabhängigkeit, Selbstsicherheit, Selbstständigkeit […].“ 13

Weltliche und geistliche Herrscher wollen keine unabhängigen, selbstsicheren und selbstständigen Bürger, sie wollen passive „Verbraucher“, demütige Umweltbewahrer und resignierte Wähler, die ihr Schicksal blind akzeptieren. Wie der Philosoph Friedrich Nietzsche einst sagte: „Der getretene Wurm krümmt sich. So ist es klug. Er verringert damit die Wahrscheinlichkeit, von neuem getreten zu werden. In der Sprache der Moral: Demut.“

„Weltliche und geistliche Herrscher wollen keine selbstständigen Bürger, sie wollen passive ‚Verbraucher‘, demütige Umweltbewahrer und resignierte Wähler“

Vor einem solchen Hintergrund verwundert es kaum, wie die Politik auf die terroristischen Angriffe von Islamisten, wie jüngst in Paris, reagiert. Sie entwaffnet und überwacht zunehmend – nein, nicht die Terroristen, sondern die eigenen Bürger. 14 Eine inhaltliche Antwort auf die Ideen der Terroristen hat man nicht. Tatsächlich wird oft sogar geleugnet, der Islam – eine zentrale Quelle der islamistischen Ideologie, obgleich nicht die einzige – hätte irgendetwas mit dem islamistischen Terrorismus zu tun. 15 Statt offen über gefährliche Ideen zu sprechen und Kritik zu üben, sollen wir uns mit Werturteilen zurückhalten, weil ansonsten vielleicht ein aufgewiegelter Mob die muslimische Minderheit angreifen könnte. 16 Als hätten nicht gerade – mal wieder – radikale Islamisten wahllos europäische Bürger angegriffen. Eine Verteidigung der freiheitlichen Werte des Westens hat da keine sonderliche Priorität, denn … wie lauten diese Werte überhaupt noch einmal?

Écrasez l’Infâme

Im Jahr 1762 wurde der Franzose Jean Calas Opfer eines religiös motivierten Justizmordes. Calas war fälschlicherweise bezichtigt worden, seinen Sohn erwürgt zu haben, damit dieser nicht zum Katholizismus übertritt. Der unschuldige Familienvater wurde durch Rädern getötet und dann auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Der Philosoph Voltaire rollte den Fall wieder auf, bis 1765 Calas posthum freigesprochen wurde. Empört von Kirchenvertretern, die gegen Calas gehetzt hatten, beendete Voltaire seine Briefe nunmehr mit der Aufforderung: „Écrasez l’Infâme!“ Das heißt: „Rottet den niederträchtigen Aberglauben aus!“

Heute wird der niederträchtige Aberglauben auch von säkularen Priestern gepredigt. Weltliche und geistliche Priester stellen sich vereint gegen die individuelle Selbstbestimmung, gegen die Wissenschaft, gegen die Technik und gegen den Fortschritt. Für die verbliebenen Aufklärer muss daher wieder gelten: Écrasez l’Infâme!

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