14.10.2014

Kein gesunder Geist

Rezension von Helene Guldberg

Die Medikalisierung der Gesellschaft schreitet voran. In seinem Buch Normal kritisiert der amerikanische Psychiater Allen Frances die ausufernde Diagnose psychischer Krankheiten. Die Autorin würdigt in ihrer Rezension ein Plädoyer für den Erhalt des Normalen

Der Psychiater Allen Frances arbeitete an dem von der Vereinigung amerikanischer Psychiater im Jahr 1994 herausgegebenen Diagnostic and Statistical Manual IV (DSM-IV) mit. Das DSM-Buch unterstützt die Psychiater bei der Erstellung von Diagnosen sowie bei der Beschreibung psychischer Störungen und Beschwerden. Frances war zuvor Teil eines Teams, das das DSM-III (1980) und DSM-IIIR (1987) veröffentlichte. Heute gehört er zu den bedeutendsten Kritikern von DSM-5 (2013).

Frances beschreibt sein Buch Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen. als „teilweise ein Mea culpa, teilweise ein J´accuse und teilweise ein Cri de Coeur”.

Die Vermehrung der psychisch Kranken

Frances‘ Argumente gegen die Zunahme der psychiatrischen Erkrankungen und Diagnosen sind überzeugend: Vielleicht umso mehr, weil er ehrlich seine eigene Mitverantwortung für diese Entwicklung einräumt. Ihm sind ihre Risiken „aufgrund eigener schmerzlicher Erfahrung“ bewusst, schreibt er. „Trotz unserer Bemühungen, eine Ausweitung der Diagnosen im Zaum zu halten, wurde DSM-IV immer wieder missbraucht, um die Diagnoseblase weiter aufzublähen.“

Besonders besorgt ist er über die exponentiell zunehmenden Diagnosen psychischer Erkrankungen bei Kindern. Er schreibt: „Uns misslang, drei falsche psychische Epidemien bei Kindern vorzusehen bzw. ihnen vorzubeugen: Autismus, Aufmerksamkeitsdefizit- und bipolare Störungen. Wir haben nichts getan, um den steilen Diagnosezuwachs einzudämmen, der schon weit über die Kompetenzen der Psychiatrie hinausging“.

„Bei ADHS haben wir Unreife medikalisiert“

Nehmen wir mal die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS), die „sich wie ein Lauffeuer verbreitet hat“. Diese Diagnose wird so beliebig erstellt, dass „jetzt beachtliche 10 Prozent der Kinder dafür in Frage kommen“, schreibt Frances. In den Vereinigten Staaten wird bei Jungen, die im Dezember geboren sind, mit 70 Prozent größerer Wahrscheinlichkeit ADHS diagnostiziert als bei im Januar geborenen Jungen. Die Schwierigkeit in der ADHS-Diagnose besteht darin, dass diese im Kern der Unreife entspricht, mit Symptomen wie „fehlende Impulskontrolle“, „Hyperaktivität“, oder „mangelnde Aufmerksamkeit“. Jungen, die im Dezember geboren sind, sind in den USA in der Regel die jüngsten in ihren Schulklassen und deshalb tendenziell unreifer. In Großbritannien sind die Jüngsten einer Klasse Augustgeborene und siehe da: Dort wird bei den im August geborenen Kindern häufiger ADHS diagnostiziert. Wir haben Unreife medikalisiert. 

Bis seine Kollegen am DSM-5 zu arbeiten anfingen, war Frances für fast ein Jahrzehnt „aus der Psychiatrie ausgestiegen“. Aber als er hörte, dass DSM-5 „mit zusätzlichen neuen Diagnosen, die jede Angst, Eigenartigkeit, Vergesslichkeit und schlechte Essgewohnheit in eine psychische Störung umwandelte, in die falsche Richtung steuerte“, fühlte er sich verpflichtet, an der Debatte teilzunehmen. „Wenn schon das vorsichtige und im Allgemeinen gut strukturierte DSM-IV mehr Schaden als Nutzen verursacht hat, wie wird sich dann ein nachlässig erstelltes DSM-5 auswirken?“, fragte er sich.

Bis 1980 waren die DSM „zu Recht unbekannte, kleine Bücher, die keinen groß interessiert haben“. DSM-I  (1952 erschienen) und DSM-II (1968 erschienen) blieben „ungelesen, unbeliebt und unbenutzt”. Heute, erklärt Frances, beeinflusst diese „Bibel“ der Psychiatrie alle möglichen Lebensbereiche der Menschen. Danach bestimmt sich zum Beispiel, wer krank ist oder nicht, welche Behandlung angeboten wird, wer das bezahlt, wer Sozialleistungen empfängt, wer Schulgeld und andere Maßnahmen beanspruchen kann, wer eine Anstellung erhält, wer Kinder adoptieren, ein Flugzeug fliegen oder eine Lebensversicherung abschließen darf. Das Buch legt auch fest, ob ein Mörder als geisteskrank oder als kriminell gilt, wie prozessrelevante Schadensbilder aussehen und vieles, vieles mehr“.

„Viele menschlichen Gewohnheiten, Eigenarten, Besonderheiten und Wehwehchen werden heute zu psychischen Krankheiten abgestempelt“

Heute, als Ergebnis unterschiedlicher Tendenzen, einschließlich der Resonanz der DSM-Bücher, werden viele menschliche Gewohnheiten, Eigenarten, Besonderheiten und Wehwehchen, die in der Vergangenheit einfach zum großen Karussell des Lebens gerechnet wurden, zu psychische Krankheiten abgestempelt. Es stellt sich also die Frage, wie es mit einem Handbuch für Psychiater so völlig bergab gehen konnte und es derartig problematische Auswirkungen zeitigen kann.

Niedergang der Psychoanalyse

Frances erklärt, dass in der Nachkriegszeit die Lehre der Psychoanalyse in der Psychiatrie vorherrschte. Es wurde mit professionellem Selbstbewusstsein behandelt, das von seinem eigenen Können überzeugt war. Dieses Selbstbewusstsein wurde von prominenten Studien diskreditiert, die die Unzuverlässigkeit der psychiatrischen Diagnosen bewiesen. Eine davon war das anfangs der 1970er-Jahre durchgeführte Experiment Rosenhans: Viele von Rosenhans Studenten ließen sich überall in den Vereinigten Staaten mit der Behauptung,
Stimmen zu hören, in die Psychiatrie einweisen. Jeder „Pseudo-Patient“ wurde sofort in ein psychiatrisches Krankenhaus aufgenommen und dort mehrere Wochen oder sogar zu mehrere Monaten behalten, selbst nachdem sie äußerten, sich gut zu fühlen und keine Stimmen mehr zu hören. „Psychiater wirkten wie unzuverlässige und überholte Scharlatane“, so Frances. Vor DSM-III (1980) war die Psychiatrie nach Frances eine „reine Kunstform“, „manchmal genial, in der Regel eigenwillig und immer chaotisch“.

Bob Spitzer verfolgte die DSM-III das Ziel, die psychiatrische Diagnostik systematisch und zuverlässig zu gestalten. Spitzer und sein Kreis „junger Wilder der Psychiatrie“ waren eine „verschworene Gemeinschaft von biologisch orientierten Forschern, die sich als Vorreiter sahen, eine Entwicklung ihrer Profession in Richtung Medizin anzustoßen und sie von bis dato vorherrschenden psychoanalytischen und sozialwissenschaftlichen Modellen zu lösen“, schreibt Frances.

„Verständnis für den Patienten beschränkt sich auf das Ausfüllen einer Symptom-Checkliste“

Aber das letztendliche Ergebnis war ein DSM, das Patienten aufgrund oberflächlicher Ähnlichkeiten eingliederte. „Diese schlichte Methode war notwendig, wenn sich Psychiater auf eine Diagnose einigen mussten, aber sie überging anscheinend fast alles, was am Patienten interessant ist.“ Verständnis für den Patienten beschränkte sich nun auf das Ausfüllen einer Symptom-Checkliste.

Die schlimmste Folge des DSM-III lag in der Förderung einer „diagnostischen Inflation“. Frances befürchtet nun, dass DSM-5 (2013) zu einer diagnostischen Hyperinflation führt. Man neigt dazu,  „immer mehr Öl in ein ohnehin schon loderndes Feuer zu gießen“. Deswegen hat sich Frances vorgenommen, „die Normalität zu retten“.

Eine zugegebenermaßen schwierige Aufgabe, kann man doch nicht einmal genau definieren, was eigentlich „normal“ oder „unnormal“ ist, oder worum es sich bei einer seelischen Störung handelt. Ich stimme ihm zu, dass psychische Krankheiten zwar Konstrukte sind, aber man sie deshalb nicht als Mythen abtun sollte. „Geisteskonstrukte über die Realität sind mängelhaftet, aber unverzichtbar, um die ansonsten nur verwirrenden Phänomenen der Welt erschließen zu können“, erklärt er. So sieht er beispielsweise in „Schizophrenie ein nützliches Konstrukt – weder Mythos noch Krankheit. Sie beschreibt eine bestimmte Gemengelage an psychischen Problemen, gibt aber keine Erklärung für ihre Ursache.“

Plädoyer für Normalität und psychiatrische Hilfe

Frances betont diesen Punkt deshalb so deutlich, weil er sowohl „die Normalität“ als auch die Psychiatrie retten will. Ihm ist zuzustimmen, dass beides der Rettung wert ist. Eine Gesellschaft, in der eine immer weiter steigende Zahl von Erwachsenen und Kindern als „psychisch gestört“ definiert wird, ist sicherlich nicht gesund. In Bezug auf die gegenwärtige Diskussion über Suchtkrankheiten schreibt er: „Eine lebendige Gesellschaft beruht auf verantwortungsbewussten Bürgern,  die sich unter Kontrolle haben und für die Konsequenzen ihres Handelns gerade stehen können. Sie braucht kein Heer von ‚Verhaltenssüchtigen‘, die eine Therapie benötigen, um das Richtige zu tun“.

Die Normalität zu retten bedeutet keineswegs, jeden für normal zu erklären. „Eine solche Parole kann nur von Salontheoretikern unterstützt werden, denen echte Lebenserfahrung mit psychischen Krankheiten am eigenen Leib, im eigenen Umfeld oder bei ihrer Behandlung abgeht. Egal, wie schwierig psychische Störungen zu definieren sind, es handelt es sich bei ihnen um eine schmerzliche Realität für diejenigen, die darunter leiden, und diejenigen, die sich um die Betroffenen kümmern.“

Zweifellos besteht Bedarf für einen Beruf, der sich der Unterstützung derjenigen widmet, die mit andauernden und hinderlichen inneren Problemen und Schwierigkeiten in der Lebensführung zu kämpfen haben. Wie sich aber die Psychiatrie von einer Kontrollkästchen-Mentalität in eine Praxis der Hilfe und des Kümmerns um ernsthaft Leidende umwandeln lässt, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Der erste Schritt ist sicherlich die Erkenntnis, dass sich etwas verändern muss. Normal verdeutlicht das. 

„Mit einer psychiatrischen Diagnose ist oft ein sozialer oder wirtschaftlicher Nutzen verbunden“

Auch plädiert Frances zu Recht dafür, über den DSM hinauszublicken, um die Hyperinflation der diagnostischen Kategorien zu verstehen. „Die Diagnoseinflation hat unzählige Ursachen und bedarf mehrerer Heilungswege“, schreibt er. Die Psychiatrie muss einen Teil der Verantwortung übernehmen. Dazu dient der Mea-culpa-Teil seines Buches. Aber, so Frances ergänzend, „Epidemien werden von verschiedenen mächtigen Kräften angetrieben: Den Pharma-Konzernen und ihrem aufdringlichen Marketing der Diagnosen, gedankenlosen Meinungsführern, naiven Patienten und Ärzten, Lobby-Gruppen, Medien, dem Internet und sozialen Netzwerken.“

Weiterer Druck baut sich durch den Umstand auf, dass viele von der Feststellung einer psychischen Krankheit profitieren. Kinder und Jugendliche (oder auch Erwachsene an Universitäten) werden mit zusätzlichen Dienstleistungen, in Amerika beispielsweise mit mehr Zeit für das Ablegen von Prüfungen, versorgt. Demzufolge ist mit einer psychiatrischen Diagnose oft ein sozialer oder wirtschaftlicher Nutzen verbunden.

Frances’ Feindbild ist die Pharmaindustrie. „Der Keim für die Diagnostikinflation, der von DSM-III gepflanzt wurde, wird bald zu einem riesigen Gewächs, wenn er vom Marketing der Pharmakonzerne gegossen wird“, schreibt er. Aber ist es nicht unvermeidbar, dass Konzerne von einem wachsenden Markt profitieren wollen? Für mein Verständnis ist das Problem hauptsächlich politisch und kulturell: Meinungsmacher – Politiker, Technokraten, Medien, Lobbygruppen, Nichtregierungsorganisationen usw. – stellen die Menschen zunehmend als schwach und verletzlich dar, als unfähig, ohne fremde Hilfe mit herausfordernden Erlebnissen und schmerzlichen Gefühlen fertig zu werden.

„Wenn junge Menschen immer wieder hören, wie verletzlich sie gegenüber schmerzlichen Erfahrungen und Gefühlen sind, nimmt es nicht Wunder, dass viele eine Art Opferrolle übernehmen und sich machtlos fühlen“

Man hört ständig, dass erniedrigende Kindheitstraumata, unglückliche sexuelle Begegnungen sowie schwierige Gefühle und Erfahrungen sich tief in die menschliche Seele einbrennen. Ein Leitspruch der Generation meiner Eltern, Nietzsches Motto „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker“, gilt heutzutage als gefühlskalt und mitleidlos. Aber wir brauchen gar nicht so weit in die Geschichte zurückgehen, um die bemerkenswerte Fähigkeit des Menschen zu erkennen, selbst im Angesicht der unmenschlichsten Erfahrungen an seiner Menschlichkeit festzuhalten. Wenn junge Menschen immer wieder hören, wie verletzlich sie gegenüber schmerzlichen Erfahrungen und Gefühlen sind, nimmt es nicht Wunder, dass viele eine Art Opferrolle übernehmen und sich machtlos fühlen, wodurch sie ihre Fähigkeit verlieren, mit den Dingen zurechtzukommen.

Natürlich verinnerlichen Menschen nicht ohne weiteres die vorherrschenden kulturellen Anschauungen. Der menschliche Geist lässt sich nicht so einfach vernichten. Frances‘ Aufschrei wirkt dennoch erschütternd: Die Normalität und die Psychiatrie zu retten sind Mammutaufgaben. Zum Erhalt der „Normalität“ muss man mehr tun als ein Handbuch umzuformulieren. Es bedarf auch einer grundlegende kulturellen und politischen Wende im Verständnis und in der Betrachtung des Menschen.

Am Ende seines Buch stellt Frances die Frage: „Haben wir eine realistische Chance, die Diagnoseinflation wieder umzukehren oder müssen wir uns mit einer unendlichen Geschichte an falschen Epidemien abfinden?“ Sein „rationales Ich“ hält die Rettung der Normalität für einen bereits verlorenen Kampf. Aber man darf nie aufgeben. „Man kann nach wie vor vernünftigerweise auf einen Sieg des gesunden Menschenverstanden hoffen. Die Leute und die Politiker werden irgendwann aufwachen und merken, dass wir kein Haufen kranker Personen mit jeweils einer Fülle psychischer Krankheiten sind, die zusammen eine kranke Gesellschaft bilden.“ Erhellende Worte.

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