09.02.2017

Homo Deus – die Herabsetzung des Menschen

Rezension von Norman Lewis

Titelbild

Foto: Dick Thomas Johnson via Flickr / CC BY 2.0

Yuval Hararis Buch „Homo Deus: Eine Geschichte von Morgen“ stützt sich auf die tiefen antihumanistischen Vorurteile der heutigen Zeit.

Yuval Harari, ein israelischer Geschichtsprofessor, wurde weltbekannt und ein akademischer Superstar, als er 2014 „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ veröffentlichte. Er ließ dem Buch eine Fortsetzung folgen, „Homo Deus: Eine Geschichte von Morgen“ (ab dem 16. Februar 2017 auf Deutsch erhältlich), die ihm noch mehr Kritikerlob bescherte. Beide Werke sind durch die gleiche Sorge verbunden: dass wir Gefahr laufen, Sklaven der Technologien zu werden, die uns überhaupt erst erlaubten, die Natur zu gestalten und sie zu übertreffen.

„Homo Deus“postuliert, dass die Menschheit ein kommendes epochales Ereignis auf den Weg bringen wird, das den landwirtschaftlichen und wissenschaftlichen Revolutionen gleichkommt. Ihre Beherrschung der Bio- und Informationstechnologie wird der Menschheit demnach historisch unübertroffene, göttliche Mächte verleihen. Aber diese kommende Ermächtigung trägt die Samen unserer Zerstörung in sich. Weshalb? Weil das, was Harari „Dataismus“ nennt – die neue Technoreligion, die unseren zukünftigen Kräften zugrunde liegt – eine vernetzte künstliche Intelligenz mit einer weitaus größeren Vernunftkapazität als die menschliche Intelligenz darstellt. Letztendlich könnte der Dataismus also den Menschen als die herausragende Lebensform auf dem Planeten ablösen.

Die Bedrohung besteht ihm zufolge darin, dass jene, die die Kräfte dieser Technologien nicht meistern können, aussterben werden, während die, die es können, eine gottgleiche Macht über Schöpfung und Zerstörung gewinnen werden. Die Superreichen, besonders die Technobarone des Silicon Valley, die neuen Meister des Datenuniversums, werden diejenigen unter uns, die nicht den Reichtum besitzen, um unsere Gehirne und Körper zu verbessern (das Ziel der Medizin des 21. Jahrhunderts, so Harari), als eine „unterlegene Kaste“ betrachten, deren Arbeit überflüssig sein wird, da sie durch eine neue Art denkender, supereffizienter Maschinen ersetzt wurde. „Die Menschheit wird sich als nur eine kleine Welle im kosmischen Datenstrom erweisen“, warnt Harari. Und die Moderne wird kein humanistisches Projekt mehr sein dank „Menschen, die sich einig sind, Sinn durch Macht zu ersetzen“. Willkommen in der Welt des Homo Deus, wo die meisten von uns überhaupt nicht willkommen sein werden.

„Homo Deus wirkt eher wie ein TED-Talk auf einem LSD-Trip als wie eine seriöse Untersuchung“

„Homo Deus“ist eine dramatische apokalyptische Geschichte der Menschheit, die beim Lesen eher wie ein TED-Talk auf einem LSD-Trip wirkt als wie eine seriöse historische oder wissenschaftliche Untersuchung. Wie so viele dystopische Traktate reflektiert „Homo Deus“unsere misanthropische Gegenwart, wo menschliche Errungenschaften und Ambition als die Ursachen eines katastrophalen Wandels angesehen werden. Daher projiziert Harari eine Zukunft, die ein Scheitern der Gegenwart ist, eine gedachte Welt, in der die Menschheit sich verändert hat (oder es versäumt hat, sich zu verändern), ohne dass es Harari für nötig befindet zu erklären, weshalb diese Veränderung eintreten sollte.

Warum ist Harari so überzeugt, dass die übermenschliche Rasse der Zukunft absichtlich den Homo sapiens überflüssig machen würde? Weil Harari ein begeisterter Veganer ist. Er ist sich deshalb sicher, dass der Nachfahre der Menschheit Menschen so behandeln wird, wie Menschen Tiere behandelt haben – mit, wie er meint, Unmenschlichkeit. Er fragt: „Wäre es okay, zum Beispiel für eine künstliche Intelligenz Menschen auszunutzen und sie sogar umzubringen, um ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche zu erfüllen? Wenn es ihr trotz ihrer überlegenen Intelligenz und Macht nie erlaubt sein sollte, dies zu tun, weshalb ist es ethisch in Ordnung, wenn Menschen Schweine ausnutzen und töten?“ Dann fragt er: „Zählt Macht vor Recht? Ist menschliches Leben wertvoller als das des Schweins, nur weil das menschliche Kollektiv mächtiger ist als das Schweinekollektiv?“

Bevor Hararis Behauptungen über eine künstliche Intelligenz mit unabhängigen Bedürfnissen und Wünschen näher betrachtet werden, soll nun seine Misanthropie analysiert werden, die den tiefen antihumanistischen Impuls des „Homo Deus“ offenlegt.

„Menschliches Bewusstsein grenzt uns vom Tierreich ab“

Fangen wir mit Hararis Behauptungen über Schweine an. Menschliches Leben ist nach meinem Dafürhaltenwertvoller als das Leben eines Schweins. Aber nicht, weil die menschliche Gesellschaft mächtiger ist oder weil Macht vor Recht zählt. Es ist wertvoller, weil Menschen keine Tiere sind. Menschliches Bewusstsein, unser Vermögen zum abstrakten Denken, unsere Fähigkeit, uns unsere Ziele vor unserer Einwirkung auf die Natur vorzustellen, grenzt uns vom Tierreich ab.

Dies erlaubt oder rechtfertigt natürlich keine Grausamkeit gegenüber oder eine Misshandlung von Tieren. Zu suggerieren, dass industrielle Viehhaltung durch die menschliche Natur verursacht werde oder dass sie Ausbeutung sei, bedeutet, Erscheinung und Wesen zu verwechseln. Tiere werden nicht aufgrund der inhärenten Unmenschlichkeit der Menschheit gegenüber Tieren so gehalten, geschlachtet und vermarktet, wie sie es werden, sondern weil sie, wie alles andere in einer Marktwirtschaft, Waren sind, die man im Streben nach Profit tauscht. Was nach unmenschlichem Verhalten aussieht, ist eigentlich das Resultat einer Gesellschaft, die auf einer Warenproduktion basiert, die rationales Verhalten vorschreibt und prägt.

Sich auf die Behandlung der Tiere durch den Menschen zu konzentrieren bedeutet, eine ziemlich wichtige Unmenschlichkeit zu ignorieren: nämlich den Umstand, dass Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft wie Waren angesehen und behandelt werden. Die menschliche Fähigkeit zu arbeiten, die auf dem Markt wie jede andere Ware gekauft und verkauft werden kann, ermöglicht Ausbeutung, weil Menschen, ungleich anderen Tieren, mehr Wert produzieren können, als sie unter Umständen in Form von Lohn oder Gehalt bekommen. Hararis Sorge über die Superreichen, die in der Lage sind, den Rest von uns auszubeuten, ist kein Problem einer imaginären Zukunft – so funktioniert die Gesellschaft tatsächlich heute.

„Diese Erniedrigung der menschlichen Handlungsfähigkeit ist der springende Punkt von ‚Homo Deus‘“

Harari scheint kein Problem mit diesem Aspekt der Realität zu haben. Er verwandelt lediglich die Gegenwart in die vorherbestimmte Vergangenheit von etwas Künftigem, wo eine marktbasierte Gesellschaft von einer künstlichen Intelligenz beherrscht wird, die die Zukunft der Menschheit bedroht. „Homo Deus“projiziert die Idee, dass es keine Alternative zum Markt gebe, in die Zukunft.

Jedoch ist das eigentliche Problem von „Homo Deus“nicht die imaginäre Zukunft oder die Behauptung, dass die Menschheit „göttliche Macht“ gewinnen werde. Eher besteht das Problem darin, dass Hararis Erheben der menschengemachten Technologien zur dominierenden Macht die Menschheit wiederum in das Objekt, nicht das Subjekt der Geschichte verwandelt. Es ist eine Zukunft, in der menschengemachte Algorithmen Autonomie erlangen und ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse entwickeln. Diese Vision hat Implikationen für die heutige Gesellschaft, denn sie begrenzt menschliche Ambitionen, hält die Menschheit im Zaum und institutionalisiert die Kultur der Grenzen. Diese Erniedrigung der menschlichen Handlungsfähigkeit ist der springende Punkt von „Homo Deus“.

Homo minuantur und algorithmischer Determinismus

Hararis Erläuterung der Technologie und der algorithmischen Zukunft verwertet viele existierende Studien wieder, ohne sie im Detail zu untersuchen. Indem er Computerprozessen Intelligenz zuschreibt – künstliche Intelligenz – wiederholt Harari die weit verbreitete Auffassung, dass die künstliche Intelligenz schon menschliche Fähigkeiten überholt habe. Jedoch liefert er keine Belege, um zu zeigen, dass Computer zu irgendeinem intentionalen Verhalten fähig wären. Dies ist kaum verwunderlich, da selbst die besten Computer so wenig Motive haben wie ein Taschenrechner. Die Jeopardy- und Schachspielchampions wie IBMs Supercomputer Watson und Deep Blue funktionieren wie Mikrowellenherde. Der großartige Physiker Richard Feynman bemerkte einst vor vielen Jahren, ein Computer sei „ein glorifiziertes, hochklassiges, sehr schnelles, aber dummes, Ablagesystem“, das von einem unendlich dummen Büroangestellten (dem Hauptprozessor) bedient wird, der blind Anweisungen (des Softwareprogramms) befolgt. Diese rein Symbole verarbeitenden Maschinen können nie Symbole verstehende Maschinen sein.

Aber der Grund, warum Harari die Zukunft künstlicher Intelligenz so aufbläst und sie mit eigenen Wünschen und Bedürfnissen ausstattet, hängt mit seinem Verständnis des menschlichen Bewusstseins und der Vernunft zusammen. Wie zu viele Kommentatoren steht er allzu stark unter dem Bann der wachsenden Popularität dessen, was Raymond Tallis sinnvollerweise „Neuromania“ und „Darwinitis“ genannt hat. Diese verwandten Phänomene beruhen auf der neurowissenschaftlichen Behauptung, dass alle Gefühle und Emotionen, die wir erfahren, eigentlich biochemische datenprozessierende Algorithmen seien, die sich über die Zeit entwickelt haben.

Zwei Dinge folgen aus dieser Annahme: Erstens haben wir angeblich diese computerähnliche Datenverarbeitungsfunktion mit allen bewussten Lebewesen gemein und zweitens (und am wichtigsten für Harari) geschieht der Großteil dieser sensorischen und emotionalen Datenverarbeitung – inklusive unseres Vermögens, Handlungen einzuleiten – unbewusst. So kann Harari folgern, dass „vielleicht hinter all den Gefühlen und Emotionen, die wir Tieren zuschreiben – Hunger, Furcht, Liebe und Loyalität –, nur unbewusste Algorithmen anstelle von subjektiven Erfahrungen stecken.“

„Selbst die besten Computer haben so wenig Motive wie ein Taschenrechner“

Das ist ein bemerkenswert reduktionistisches Argument, das nicht nur die Wissenschaft misshandelt; es reduziert die Menschheit auch zu wenig mehr als gedankenloser Materie, die genau denselben evolutionären, sogar physikalischen Gesetzen unterworfen ist wie jedes andere materielle Objekt, ob organisch oder nicht. Wir wären somit vollkommen durch unsere Herkunft bestimmt. „Wenn Du deinen Gefühlen gehorchst“, sagt Harari, „folgst Du einem Algorithmus, den die Evolution seit Jahrmillionen entwickelt“. Die Menschheit, so scheint es, verarbeitet Daten auf die gleiche Weise, wie es unsere Steinzeitvorfahren vor all der langen Zeit bereits getan haben.

Wie ist es möglich, historischen Wandel, technische Erfindungen und Innovationen mit dieser Analyse zu erklären? Falls der menschliche Geist nicht mehr als ein evolviertes physisches Organ ist, das zum größten Teil unbewusst reagiert, dann ist seine Ursache, wie die vom Rest der Natur, die natürliche Selektion. Vergessen wir Autonomie, menschliche Vorstellungskraft und unsere Fähigkeit, die Welt um uns zu gestalten, die wiederum uns gestaltet hat. Stattdessen sind wir zu vorherbestimmten datenverarbeitenden Entitäten reduziert und degradiert, mobilisiert durch nichts Weiteres als unsere Gehirne, die wiederum nichts mehr sind als physikalische Instrumente, die das organische Überleben fördern.

Das ist nicht nur Homo minuantur, eine Attacke auf menschliche Handlungsfähigkeit; es ist Homo obliterate, die Auslöschung der Autonomie insgesamt. Im dystopischen Szenario Hararis ist unser Geist nicht die Quelle unserer Handlungen. Es ist unser Hirn und das kausale Netzwerk, von dem es ein Teil ist, das wirklich den Ton angibt. Zu denken, dass wir vernünftig sind, dass wir einen freien Willen ausüben können, dass wir moralische Autonomie besitzen und dass wir frei sind, die Geschichte zu bestimmen, kann von Harari als eine naive, arrogante Illusion verworfen werden.

Es ist allerdings extrem problematisch, das Bewusstsein physikalisch zu erklären. Eine komplette Welterklärung in physikalischen Begriffen ist eine Welt ohne Erscheinung und deshalb eine Welt ohne Bewusstsein. Wenn die Erscheinung der Dinge ihrem Wesen gleichen würde, so gäbe es kein Bedürfnis nach Wissenschaft, bemerkte Karl Marx 150 Jahre zuvor. Und wenn alles zu physikalischen Gesetzen reduziert werden könnte, dann gäbe es keinen Raum für Spontaneität, Erfindung, Entdeckung und Bedeutung. Schlimmer noch: Was uns menschlich macht, wäre nicht mehr wichtig oder entscheidend. Das Individuum wird zu einem winzigen Chip in einem gigantischen System, das niemand wirklich versteht. Harari argumentiert, dass die unsichtbare Hand des Marktes von der unsichtbaren Hand des Datenstroms verdrängt werde. „Ja, Gott ist ein Produkt der menschlichen Vorstellungskraft“, schreibt er, „doch menschliche Vorstellungskraft ist wiederum das Produkt biochemischer Algorithmen“.

„Der Humanismus ist weder tot noch steht die Zukunft von vorneherein fest“

Wenn die menschliche Vorstellungskraft das Produkt biochemischer Algorithmen ist, dann ist individuelle und gesellschaftliche Veränderung nur mittels externer Stimuli erklärbar. Aber unsere Erfahrung sagt uns etwas anderes. Dies berührt einen logischen Widerspruch im Herzen von „Homo Deus“. Wie kann die Menschheit, wenn sie von biochemischen Algorithmen getrieben wird, irgendeine Kontrolle über die Prozesse ausüben, die sie entfesselt hat, und die laut Harari zu ihrem Untergang führen werden? Harari betont ständig, dass er nicht behaupte, seine dystopische Zukunft sei eine Vorhersage. Aber Autonomie – die allzu menschliche Autonomie –, an die er beim Versuch appelliert, die dystopische Zukunft abzuwenden, wird durch seine Analyse verneint.

Hararis Technoreligion Dataismus ist wenig mehr als die neue Form der heutigen Kultur der Grenzen und geringen Erwartungen. Er reflektiert und verstärkt die aktuelle kulturelle Stimmung, die Fortschritt meidet und von einer Furcht vor Veränderung, einem Sinn für Grenzen, einem Gefühl der Zerbrechlichkeit dominiert wird. Die Welt ist auf den Kopf gestellt. Die Menschheit wird als ein nichts bewirkendes Objekt präsentiert, das mit arrogantem Herumpfuschen Kräfte entfesselt hat, die sie, falls man ihre Entfaltung zulässt, zerstören werden.

Wie zu erwarten, da er menschliches Bewusstsein verwirft, ist Harari sogar bereit, auf die Demokratie zu verzichten. „Was hat es für einen Zweck, demokratische Wahlen abzuhalten, wenn Algorithmen wissen, wie jede Person abstimmen wird, und wenn sie auch die exakten neurologischen Ursachen dafür kennen, weshalb eine Person die Demokraten wählt und eine andere die Republikaner?“

Aber die beste Entgegnung auf „Homo Deus“und den autoritären Impuls des algorithmischen Determinismus ist etwas wie die Entscheidung für den Brexit. Da sahen wir eine Mehrheit der Briten ihre geerbten chemischen Signale kontern, gegen die akzeptierte Weisheit gehen und das Unerwartete tun. Wo war dort der biochemisch algorithmische Determinismus? Der Humanismus ist weder tot, noch steht die Zukunft von vorneherein fest. Die Menschheit gestaltet und wird weiterhin die Geschichte gestalten. Homo liberari.

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