01.11.2012
Auf ins Technium!
Essay von Thilo Spahl
Wie wir morgen und übermorgen leben werden. Auf jeden Fall besser als heute, meint er. Vorausgesetzt, wir sind offen für den technologischen Fortschritt, der letztlich menschlicher Fortschritt ist.
Wer glaubt noch an den Fortschritt in Deutschland? Zum Beispiel der Vorsitzende der SPD, wenn er uns erklärt: „Von Anfang an war für die Sozialdemokratie klar, dass Fortschritt in Wissenschaft und Technik mit einer Verbesserung nicht nur der individuellen Lebensbedingungen einhergeht, sondern auch mit einem Mehr an Freiheit und Demokratie, einem Mehr an Gerechtigkeit und Solidarität.“ Das ist ein klares Bekenntnis zum technologischen Fortschritt. Zu klar, um wahr zu sein. Denn er fährt fort: „Inzwischen zweifelt kaum jemand daran, dass dieses fast lineare Fortschrittsverständnis, dass aus stetigem Wachstum sich quasi automatisch auch ein beständig höherer Wohlstand und mehr sozialer und gesellschaftlicher Fortschritt ergibt, heute überholt ist.“ [1]
Der technologische Fortschritt gilt quer durch das politische Spektrum als zumindest ambivalent, wenn nicht grundsätzlich problematisch. Von einer besseren Welt durch Wissenschaft und Technik träumt kaum einer. Das Vorsorgeprinzip fordert von uns, jede technische Innovation mit Argwohn zu betrachten und den technologischen Fortschritt, den nur noch „naive Fortschrittsgläubige“ als Königsweg in eine bessere Zukunft betrachten, strikt zu regulieren.
Doch so einfach ist das Bremsen und Lenken, zum Glück, nicht. Die technologische Entwicklung geht weltweit unvermeidbar weiter und zwar, von einzelnen regionalen und temporären Bremsbewegungen und Sonderwegen abgesehen, auch ganz schön flott. Die technologische Zukunft in ihrer Gesamtheit ist das, was sich durch menschliches Handeln, aber nicht vom Menschen geplant und nur begrenzt vom Menschen gelenkt, aus der technologischen Gegenwart entwickelt. So sieht es zumindest der Autor und Gründer des US-Technologiemagazins Wired, Kevin Kelly, der den Begriff des „Techniums“ geprägt hat. Er betrachtet dieses große Reich der Technik in ähnlicher Weise als Produkt einer Evolution wie die Tier- und Pflanzenwelt. Und er rät dazu, die Autonomie dieses Reiches zu akzeptieren: „Das Technium ist heute eine ebenso mächtige Kraft in unserer Welt wie die Natur. Und unser Verhalten gegenüber dem Technium sollte dem gegenüber der Natur ähneln. Wir können ebensowenig verlangen, das Technium müsse uns gehorchen, wie wir verlangen können, die Natur müsse uns gehorchen.“ [2] Das ist kein Aufruf zur Demut, sondern vielmehr ein pragmatischer Ansatz, um jenen Superorganismus, dessen Eigendynamik durch die Beiträge von Milliarden kreativer menschlicher Gehirne gespeist wird, möglichst gut zu nutzen und seine Weiterentwicklung durch demokratische Entscheidungsfindung und gesellschaftliches Handeln zu beeinflussen. Es stellt auch nicht die Sonderstellung des Menschen als Subjekt der Geschichte in Frage. Denn klar ist: Während die biologische Evolution kein „intelligent design“ kennt, ist die Evolution des Techniums gerade dadurch geprägt. Und der Designer ist natürlich der Mensch. Oder, besser gesagt: die Menschheit; daher die Eigendynamik und Unplanbarkeit. Wenn hunderte von Millionen von Menschen kreativ an den Grenzen des technologisch Machbaren Neues probieren, ist der Gesamtprozess natürlich nicht steuerbar.
Das Technium wird so vom Mensch hervorgebracht, aber nicht im engen Sinne zielgerichtet entwickelt. Es ist laut Kelly der erweiterte Mensch („the extended human“). Während der Evolutionsbiologe Richard Dawkins den „erweiterten Phänotyp“, zum Beispiel in Gestalt eines Biberdamms, zur Untermauerung seiner Theorie vom egoistischen Gen beschreibt, haben wir es beim Technium allerdings nicht mit einer Erweiterung unserer Gene zu tun, sondern mit der Erweiterung unseres Geistes – der leider nur im Englischen den Plural kennt („our minds“). Während unsere geistigen Fähigkeiten kaum mehr zu steigern sind, kann und wird der erweiterte kollektive Geist in Gestalt des Techniums sich beständig dynamisch weiterentwickeln. Diese Entwicklung ist laut Kelly durch drei Kräfte bestimmt: die Eigendynamik bestimmter, praktisch unvermeidbarer Entwicklungstendenzen (etwa Miniaturisierung) und Entdeckungen beziehungsweise Erfindungen (z.B. Kernspaltung oder Fotovoltaik) und Anwendungen (z.B. Gesichtserkennung oder Klonen), die durch Vorläufertechnik eingeschlagenen Bahnen (z.B. 50 Hz Wechselstrom) und dem kollektiven freien Willen von Gesellschaften, die Entscheidungen treffen, um bestimmte technologische Entwicklungen oder Anwendungen zu fördern oder einzuschränken. Auf dieser Basis lassen sich dann für die nähere Zukunft Szenarien entwickeln.
Die Welt im Jahre X
Was werden wir in zehn Jahren haben, um die Welt zu gestalten? Die Menschen, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten im „erweiterten Geist“ und die Natur. Was werden wir in 100 oder 1000 Jahren haben? Die Menschen, ihr Wissen, ihre Fähigkeiten und die Natur. Die gleichen Menschen und die gleiche Natur? Im Großen und Ganzen ja. Es wird also das Technium sein, in dem sich unser Handlungsspielraum für die Gestaltung der Zukunft erweitert. Wie diese konkret aussehen wird, bleibt dabei notwendig im Dunkeln. Eine technologische Utopie beschreibt nicht die Welt im Jahre 2012 + x, sondern nur die menschlichen Technologien und einige daraus resultierende mögliche Anwendungen der Zukunft – von der Kulturlandschaft bis zum Quantencomputer. Sie ist damit immer ein positiver Entwurf. Eine technologische Utopie kann nicht wesentlich in einer Begrenzung liegen, sondern nur in einer Entgrenzung des menschlichen Wirkens, einer Ausweitung der Handlungsmöglichkeiten im expandierenden Technium, die Grenzen des Kontrollierbaren nach außen verschiebend und an diesen operierend. Die Zukunft wird deshalb viel mehr sein als eine Verlängerung der Gegenwart. Es wachsen die Möglichkeiten und es wächst die Verflechtung von Mensch, Natur und Technium.
Bei dieser Bewegung in die Zukunft gilt: Der Weg ist das Ziel. Es gibt kein utopisches Optimum, das zu erreichen ist. Es gibt kein fertiges Werk, dessen Partitur irgendwann vollendet ist und von Generation zu Generation weitergereicht wird. Die Welt ist kein Buch, das man zu Ende schreiben kann. Die Welt ist Literatur. Sie ist keine Oper, sondern Musik. Das heißt auch, dass die Zukunft nicht die Vergangenheit ablöst. Bei keiner der Myriaden Unternehmungen der Menschheit gibt es eine perfekte Lösung für die Ewigkeit. Es geht immer weiter. Das Technium frisst sich an seinen Rändern immer weiter in den unbegrenzten Raum des Möglichen hinein. Und da alte Technologien praktisch nie vollständig durch neue ersetzt werden, sondern in mehr oder weniger großen Nischen überdauern, wächst das Technium beständig an und damit auch unsere Wahl- und Handlungsmöglichkeiten. Ohne Endzustand, niemals perfekt, immer auch mit Problemen behaftet, immer neue Risiken mit sich bringend, ewig so weiter.
Viele Menschen neigen dazu, emotional in einer bestimmten Zeit hängen zu bleiben. Und in gewisser Hinsicht ist jeder in einer bestimmten Zeit beheimatet und viele entwickeln ein wachsendes Unbehagen, je mehr sie sich real oder gedanklich von dieser vertrauten Zeit wegbewegen. Der Blick in die bessere Zukunft produziert dann häufig das Bild eines leicht optimierten Heute oder gar eines idealisierten Gestern. Es ist ein verständlicher Versuch, das Vertraute in die Zukunft zu retten und damit der Ungewissheit zu entgehen, die beunruhigt. Doch wer realistisch ist, muss die Tatsache akzeptieren, dass die Zukunft sich sehr deutlich von der Gegenwart unterscheiden wird und dass wir sie eben nicht vorhersagen können. Dabei hilft es, mit nüchternem Blick die Entbehrungen, die fehlende Freiheit, die mangelnden Möglichkeiten, die fundamentale Unsicherheit des Lebens der Vergangenheit zu reflektieren, um zu dem Schluss zu kommen, dass wir uns im Großen und Ganzen auf einem guten Weg befinden und uns für unsere Kinder auf deren unbekannte Zukunft freuen können.
Was Fortschritt generell bedeutet, lässt sich aus den Erfahrungen der Vergangenheit recht einfach beschreiben und normativ auf die Zukunft übertragen. Mit Blick auf den Menschen: wachsende Lebenserwartung, Bildung, Gesundheit, Sicherheit, Wohlstand, Wahlmöglichkeiten. Mit Blick auf die Technik: wachsende Effizienz, Leistungsfähigkeit, Diversität, Vernetzung und sinkende Kosten. Wir haben in den letzten 200 Jahren einiges davon gesehen. Und es ist schwer vorstellbar, dass wir in den nächsten 200 Jahren nicht noch viel mehr davon sehen werden. Und so weiter.
Das Rückgrat des Fortschritts ist die Wissenschaft und sie unterliegt der selben Dynamik. Denn in der Wissenschaft ist das Fortschreiten der Kern der ganzen Angelegenheit. Jede Erkenntnis führt zu neuen Fragen und ist dennoch wertvoll, denn sie mehrt das Wissen in der Welt. Wissen baut auf Wissen auf und ist eine genuin kollektive Tätigkeit. Jedes Wissen ist vorläufig, denn es wird sich entweder als falsch erweisen oder als unvollständig oder als präzisierbar. Wissen, egal ob durch Wissenschaft, durch Eingebung oder durch Herumprobieren entstanden, bildet die Grundlage für Technologien und Artefakte vom Stuhl bis zum Internetfernsehen oder Laufwellenreaktor. Die können nie der Weisheit letzter Schluss sein. Als Teile des Techniums unterliegen sie permanenter Ko-Evolution mit anderen Technologien, mit Mensch und Natur. Wissen ist wie Technologie grenzenlos. Es gibt nicht einmal die theoretische Möglichkeit, dass der Strom neuer Ideen, Entdeckungen und Erfindungen je versiegen könnte.
Natur und Technik
Unsere Haltung gegenüber der Natur unterscheidet sich grundsätzlich von unserer Haltung gegenüber der Technik. Wie der britische Ökonom W. Brian Arthur sagt, setzen wir unsere Hoffnungen in die Technik, unser Vertrauen jedoch in die Natur als das Bewährte schlechthin. Deshalb sind wir hin- und hergerissen. [3]
Die Vergangenheit war dadurch geprägt, dass die Welt Natur ist und der Mensch sich in dieser zurechtfindet, was für den größten Teil der Zeit schlicht bedeutete, dass er darin überlebte. In den letzten Jahrhunderten hat sich die Beziehung hin zur Naturbeherrschung durch den Menschen verschoben, die durchaus auch mit Zerstörung und Ausbeutung verbunden war und ist. Die Zukunft wird zu einer technologisch so hoch stehenden Beherrschung führen, dass die negativen Aspekte immer besser kontrollierbar sind und die Ausbeutung der Natur in eine umfassende Gestaltung übergehen wird, die sich unvermeidlich durch große Eingriffstiefe auszeichnet und immer auch mit Risiken einhergeht. Es geht heute nicht mehr darum, die Natur zurückzudrängen.
Es geht darum, auf der Klaviatur der Natur zu spielen und ihr in eleganter Art und Weise das Beste zu entlocken, was sie zu bieten hat. Dieses Beste sind nicht ihre Produkte, sondern ihre Erfindungen. Die Natur als eine Art Materiallager zu sehen, das von uns geplündert wird, ist eine Sichtweise, die aus berechtigten Gründen im 20. Jahrhundert große Verbreitung gefunden hat, in den nächsten Jahrzehnten aber gewiss an Bedeutung verlieren wird. Abgesehen von der Nutzung fossiler Energieträger, kann von Verbrauch kaum die Rede sein. Weder Wasser noch Metalle oder andere Elemente kann man verbrauchen. Ihre Menge auf dem Planeten ist und bleibt konstant. Die zentrale Ressource der Zukunft ist die menschliche Intelligenz, mit deren Hilfe wir der Natur nicht mehr vor allem Produkte entnehmen, sondern ihre „Ideen“, nämlich physikalische, biologische oder chemische Phänomene, die wir analysieren und nutzen. Technologie bedeutet nichts anderes, als natürliche Effekte für menschliche Zwecke nutzbar zu machen. Alexander Fleming entdeckte das Phänomen, dass ein Schimmelpilzgift Bakterien abtötet, und entwickelte daraus Penicillin. Arthur spricht von einem „Abbau“ von Phänomenen als Ausgangsmaterial von Technologien („phenomena are mined“ and „translated into technologies“).[4] Ideen und Erfindungen haben einen enormen Vorteil. Sie sind immateriell und beliebig reproduzierbar. Der US-Ökonom Paul Romer konstatiert: Weil jeder die Idee zur gleichen Zeit nutzen kann, gibt es in der Welt des Intellekts kein Dilemma der Allmende. Es gibt kein Problem der Übernutzung, der Überweidung oder Überfischung einer Idee.“ [5]
Auch in Hinblick auf die Ressourcen ersetzt das Technium die Natur. Unsere Nahrung produzieren wir Jahr für Jahr mit Hilfe von Sonnenlicht neu. Wir entnehmen sie nicht der Natur. Genauso, wie wir dazu übergegangen sind, Nahrung selbst herzustellen, werden wir auch Kohlenwasserstoffe in Zukunft nicht mehr abbauen, sondern eben selbst herstellen. Die direkte Entnahme von komplexeren Produkten aus der Natur wird allmählich ersetzt durch die Nutzung unbegrenzt verfügbarer elementarer Rohstoffe wie CO2 oder Silizium. Das Naturprodukt (wilde Beeren, Wurzeln und wilde Tiere) ist schon heute weitgehend Vergangenheit und wird über kurz oder lang fast komplett verschwinden.
Der Gegensatz von künstlich und natürlich wird daher weitgehend aufgelöst. „Natürlich“ im Sinne von „vom Menschen unbeeinflusst“ wird kein Fleck auf dieser Erde mehr sein. Natur wird jedoch weniger zurückgedrängt als gestaltet. Sie wird als Kulturlandschaft ins Technium integriert. Während wir heute mit dem Begriff „Umwelt“ oft noch „Natur“ meinen, wird er in Zukunft das Technium bezeichnen. Umweltschutz ist dann Schutz der menschlichen Schöpfung. Dabei wird der Mensch der anthropogenen Natur viel Raum gewähren, während die wachsende Bevölkerung immer weniger Platz beansprucht, weil sie sich in Städten mit hoher Bevölkerungsdichte konzentriert. Städte stellen extreme Verdichtungen des Techniums dar. Auch das Landleben wird in dem Sinne städtisch, als die Abhängigkeit der Bauern vom Rhythmus und den Launen der Natur überwunden wird. Der nicht-städtische Raum wird also zum Großteil „gehegte Natur“, die auch die Städte durchwirkt. Technologischer Fortschritt führt dazu, dass wir die menschlichen Bedürfnisse in immer geringerem Maße durch Naturverbrauch befriedigen und in immer höherem Maße durch Naturgestaltung.
Unsere Vorstellung von Natur wird in wachsendem Maße durch den Anblick gestalteter Landschaften, Ökosysteme und Habitate geprägt. Paradoxerweise wird es eine wesentliche Funktion von Kulturlandschaften sein, das menschliche Bedürfnis nach Naturerleben zu befriedigen. Menschengemachte Natur ist die Natur der Zukunft, und sie wird uns keineswegs künstlich erscheinen, sie wird nicht aus Plastikpflanzen bestehen, sondern aus Lignin, Cellulose, Chitin, Wasser, Fleisch und Blut. Das setzt allerdings voraus, dass wir anderen Zwecken dienende Landschaftsnutzung durch ständig wachsende Effizienz minimieren. Das gilt für die agrarische Nutzung und die Energieerzeugung. Die aktuellen Trends hin zu einer Extensivierung der Landwirtschaft durch den Ökolandbau und zum Errichtung ausgedehnter Kraftwerkslandschaften mit Windrädern, Solargestellen und Hochspannungsleitungen werden dieser Gesamtentwicklung nicht dauerhaft entgegenwirken können. Diese Reduzierung des Flächenverbrauchs wird desto wichtiger, je mehr Menschen auf dem Planeten leben. Bei sieben Milliarden sind Flächen noch kein Problem, bei 20 oder 50 Milliarden aber schon.
Die Natur war einst ein übermächtiger Feind, heute haben wir sie weitgehend im Griff. Wir sind zwar noch immer durch Naturkatastrophen bedroht, aber der Kampf gegen die Gewalten der Natur spielt heute eine weit geringere Rolle als in der Vergangenheit. Die weltweite Rate von Toten durch Unwetter ist seit 1920 um 99 Prozent gesunken. Von 242 pro Million Menschen auf drei. [6] Wir werden die entsprechende Infrastruktur (Tsnuami-Warnsysteme, erdbebensichere Gebäude, Überwachung von Deichen, usw.) weiter ausbauen, um sie entsprechend noch weiter zu senken. Den Schutz vor Naturgewalten haben wir technisch weitgehend gesichert. Es geht heute vorrangig um die Ausweitung, so dass auch in ärmeren Ländern die Sicherheit weiter erhöht werden kann. Ebenso haben wir naturverträgliche Technologien entwickelt. Auch sie müssen nur weltweit zugänglich gemacht werden. In Zukunft werden wir weder wie in der Vergangenheit die Natur als Bedrohung des Menschen sehen, noch wie in der Gegenwart den Mensch als Bedrohung der Natur.
Handelndes Subjekt und helfendes Objekt
Die skeptische Haltung gegenüber dem technologischen Fortschritt gründet auch in der Angst vor der Unterwerfung des Menschen unter die Technik. Das deutlichste Bild hierfür ist der Mensch als Anhängsel der Maschine, Charlie Chaplin in Film Modern Times. Da werden die Arbeiter aus der U-Bahn in die Fabrik gezogen, um dort, komplett überwacht, als menschliche Anhängsel der Maschine monoton und stupide mechanische Arbeit zu verrichten. Der Film ist aus dem Jahr 1936. Seitdem – und auch schon davor – wurde viel Erfindungsreichtum darauf verwendet, monotone mechanische Arbeit von Menschen auf Maschinen zu übertragen. Der Standardarbeitsplatz ist längst das Büro geworden.
Seit Mitte des 20. Jahrhunderts haben wir auch damit begonnen, Maschinen mit Denkarbeit zu betrauen und in wenigen Jahrzehnten den Computer zu wichtigsten Werkzeug gemacht, dessen Leistungsfähigkeit sich seitdem auf das Zigmillionenfache gesteigert hat. Besteht nun die Gefahr, dass der Mensch zum Anhängsel von großen Informationsverarbeitungsapparaten wird? Das ist wenig wahrscheinlich. Es wird immer Arbeiten geben, die die Maschinen nicht beherrschen und die daher vom Menschen gemacht werden muss. Der Bus fährt uns von A nach B, aber er ist dabei (noch) auf den Input des Fahrers an Gaspedal, Lenkrad und Bremse angewiesen. Der PC verarbeitet Texte, aber (noch) muss sie der Stenotypist vorher eintippen. Monotonie, mangelnde Entscheidungsspielräume, geringer intellektueller Anspruch sind Belastungen an bestimmten Arbeitsplätzen, die es früher gab und heute gibt. Sie nehmen aber durch die technischen Möglichkeiten keineswegs zu, sondern ab. Und es liegt natürlich am Menschen, die Arbeit, die heute in jedem Beruf umfassend durch technische Hilfsmittel geprägt ist, so zu gestalten, wie es unseren Möglichkeiten entspricht. Da die Gestaltungsmöglichkeiten zunehmen, können die Belastungen abnehmen. Heute leiden Menschen unter Stress, weil ihr Smartphone sie 24 Stunden am Tag erreichbar macht. Das ist aber nicht die Schuld des Smartphones, sondern der jeweiligen Unternehmenskultur.
Ein weiteres zivilisationskritisches Argument sieht im Siegeszug westlicher Technologie (Fernseher, High Tech-Medizin etc.) eine Bedrohung der kulturellen Vielfalt. Das Gegenteil ist der Fall. Die Vielfalt nimmt unbestreitbar zu. Und der Mensch hat jederzeit die Wahl. Kelly beobachtet sehr richtig, dass wir uns mehr durch die Technologien definieren, die wir nicht nutzen, als durch die, die wir nutzen. Manche Menschen verzichten bewusst auf das Auto, andere auf den Computer oder den Fernseher. Manche lehnen Gentechnik ab, andere schreiben keine E-Mails oder keine SMS oder verzichten auf den Audio-Guide im Museum, die Grippeimpfung, die Augmented-Reality-Funktion der Digitalkamera, die Popcornmaschine oder pasteurisierte Milch. Gleichzeitig erfreuen sich längst überholte Technologien, etwa die vielfältigen Spielarten der so genannten alternativen Medizin umfassender Verbreitung. In Deutschland gibt es heute mehr Ärzte, die traditionelle chinesische Medizin anbieten als in China, Schamanismus und Ayurveda haben es bis in die Wellness-Hotels im Schwarzwald geschafft.
Wie geht es weiter? Eine entscheidende neue Qualität erlangt das Technium mit der sich entwickelnden Omnipräsenz maschineller „Intelligenz“. So wie die gesamte belebte Natur mit mehr oder weniger komplexen Informationsverarbeitungs- und -entscheidungsmechanismen ausgestattet ist, werden in Zukunft auch fast alle vom Menschen geschaffenen Dinge mit solchen einfachen Gehirnen ausgestattet sein, die wir gemeinhin als Chips bezeichnen. Manche werden auf dem Niveau von Pflanzen sein, andere auf dem von Insekten und andere noch leistungsfähiger. Wie die Gehirne der Tiere werden sie an die jeweilige Umgebung angepasst sein, in der sie existieren, und die vom Menschen zugedachten Aufgaben erledigen. Michio Kaku stellt sie sich sogar als eine Art künstliche Tiere vor, wenn er schreibt, gegen Mitte des Jahrhunderts könnte „unsere Welt voller Roboter sein, aber wir werden sie vielleicht gar nicht beachten. Und zwar deshalb, weil die meisten Roboter wahrscheinlich nicht Menschengestalt haben werden. Als Schnecken, Insekten oder Spinnen maskiert, könnten sie ihren unangenehmen, aber wichtigen Aufgaben nachkommen.“ [7] Natürlich sind Roboterschlangen und Internetbrillen weit davon entfernt, so etwas wie menschliches Bewusstsein zu entwickeln, aber sie werden als „smarte“ Helfer am menschlichen Denken und Handeln mitwirken, wie es schon lange Taschenrechner, Autopiloten, PCs oder Thermostate tun, und dafür sorgen, dass Geist und erweiterter Geist immer enger zusammenwachsen.
Technologie und Risiko
Pessimisten beginnen ihre düsteren Prognosen fast immer mit den Worten „Wenn wir so weitermachen wie bisher, ...“ Doch, wie Matt Ridley in seinem Buch The Rational Optimist betont, tun wir genau das nicht. Fortschreiten bedeutet gerade, nicht so weiterzumachen, wie bisher. Die Technologie von heute ist eben nicht die Technologie von morgen.
Die technologische Entwicklung der Moderne hat zu Veränderungen in der Natur geführt, die teilweise Risiken mit sich gebracht haben oder aus anderen Gründen wenig wünschenswert erscheinen beziehungsweise als Problem gesehen werden: Ozonloch, verschmutzte Flüsse, abnehmende Artenvielfalt und Beeinflussung des Klimas sind Nebenwirkungen technischer Prozesse. Das sollte uns nicht zu dem Schluss führen, Wohlstand sei ein Problem, oder Wohlstand könne nur so lange gutgehen, solange er nicht die Massen (Chinesen) erreicht, oder Technologien seien ein Problem oder zu viele Menschen seien ein Problem. Das Fortschreiten, das uns in die Welt des 21. Jahrhunderts geführt hat und in dessen Verlauf wir viele Probleme des 19. und 20. Jahrhunderts gelöst haben, wird uns auch ins 22. Jahrhundert führen, in dem wir vieles Neues, Ungeahntes vollbringen und – nebenbei – auch weitere Probleme des 20. und 21. Jahrhunderts lösen. Technologie wird dabei weiter eine zentrale Rolle spielen. Wer fordert, es sei Vorsorge zu treffen, dass keine neue Technologie, kein Eingriff in die Natur, kein Akt des Weltgestaltens neue Risiken oder Probleme mit sich bringe, ist offenbar kein Freund des Fortschreitens und weiß dessen Wert nicht zu würdigen. Wer vorsorglich eine Zukunft ohne synthetische Biologie, Geoengineering, Nukleartechnologie, Raumfahrt, „human enhancement“, wachsende Mobilität, Nanotechnologie und virtuelle Realität anstrebt, wer also festlegen will, welche Technologien es in Zukunft geben dürfe, und welche nicht, ist ein (technologiefeindlicher) Technokrat, der glaubt, die „richtige“ Zukunft zu kennen und sich anmaßt, sie verhängen zu dürfen.
Das Vorsorgeprinzip hat bei der Technologieentwicklung aus zwei Gründen nichts zu suchen. Erstens lässt sich bei der Geburt einer Technologie grundsätzlich kaum sagen, wozu sie später genutzt werden wird. Als vor rund 50 Jahren der Laser erfunden wurde, ahnte niemand, dass er einst zum Drucken von Texten, zum Abspielen von DVDs oder zur Behandlung der Fehlsichtigkeit, zur Zerstörung von Nierensteinen oder zur Übertragung von Daten eingesetzt würde. Zweitens ist jede Technologie mit Risiken verbunden. Jedes Jahr sterben Tausende, die von Leitern fallen. Dennoch verzichten nur sehr wenige auf dieses nützliche Werkzeug. Trotz Millionen von Verkehrstoten wird kein Mensch die Erfindung des Rads als folgenschweren Fehler betrachten. Risiken und Nebenwirkungen lassen sich generell weder vollständig voraussehen noch ganz ausschließen. Deshalb ist es vernünftig, sie im Verlaufe der Nutzung immer besser zu verstehen und mit ihnen so umzugehen, dass Schaden vermieden wird. Statt auf das Internet als zu riskant zu verzichten, benutzen wir Virenschutzprogramme. Statt aufs Auto zu verzichten, erfinden wir Airbag, ABS und ESP. In den letzten 40 Jahren ist die Zahl der Verkehrstoten in Deutschland von fast 20.000 (nur Westdeutschland) auf unter 5000 (Gesamtdeutschland) gesunken, obwohl sowohl Anzahl als auch Leistung der Autos deutlich gestiegen sind. Erreicht wurde dies vor allem durch neue Technologie und systematische Sicherheitsüberwachung.
Der Soziologe Bruno Latour schreibt: „Unsere Sünde besteht nicht darin, dass wir Technologien hervorgebracht haben, sondern dass wir sie nicht lieben und uns nicht um sie kümmern. Es ist, als ob wir entschieden, die Erziehung unserer Kinder abzubrechen.“ [8] Wir müssen also lernen, unsere Technologien zu lieben wie unsere Kinder und sie nicht beim ersten Anzeichen von Problemen aufzugeben. Und wir sollten nicht aus Angst, sie könnten missraten, darauf verzichten, weiter Kinder zu zeugen. Auch Kelly benutzt das Bild vom Eltern-Kind-Verhältnis, wenn er schreibt, wie alle Eltern sorgten wir uns, besonders wenn wir beobachten, wie die Macht und Unabhängigkeit des Techniums zunimmt. Folgten wir dem Vorsorgeprinzip, dürften wir keine Kinder in die Welt setzen. Kinder machen Unsinn und wenn sie erwachsen sind, werden einige von ihnen Verbrecher und einige erfinden risikobehaftete Technologien.
Die Antizipation potenzieller Risiken ersetzt heute zu oft die Wahrnehmung realer Gefahr. Die westliche Elite träumt davon, die Armen der Welt vor zukünftigen Gefahren zu schützen und bleibt dabei weit hinter dem zurück, was zu erreichen wäre, wenn man sich zum Ziel setzte, heutige, reale Armut und reale Nöte wie Krankheiten, Mangelernährung, Kindersterblichkeit und auch Umweltbelastungen aufgrund veralteter Technik zu eliminieren. Es ist sinnlos, sich darauf zu konzentrieren, Weichenstellungen für eine Zukunft vorzunehmen, die wir nicht kennen können, und Vorsorge für Probleme zu treffen, die wir in entfernter Zukunft erwarten, deren Bedeutung wir aber nach Maßgabe der heutigen Welt bewerten und nicht vor dem Hintergrund der sehr viel höher entwickelten Welt in 50 oder 100 Jahren. Man gibt vor, an die Zukunft zu denken, am liebsten in Gestalt so genannter nachfolgender Generationen, und impliziert, dass die heutigen Kinder auf immer Kinder bleiben und damit unfähig sein werden, die notwendigen Technologien zu entwickeln, um die Probleme ihrer Generation zu lösen. Man denkt also nicht wirklich an die Zukunft, man projiziert nur die Gegenwart in eine – mutmaßlich vor allem wärmere – Zukunft.
Die Aufgabe von uns Menschen besteht darin, Prioritäten für den Einsatz der vorhandenen und der sich heute entwickelnden Technik zu setzen. Welche das sind, kann nur in einer offenen und informierten Debatte bestimmt werden.
Globalisierung der Zukunft
Der Science-Fiction-Autor William Gibson sagte einmal, die Zukunft sei schon da, nur sehr ungleich verteilt. In der Tat wird die Zukunft zu einem großen Teil dadurch bestimmt sein, dass sehr viele Menschen über Möglichkeiten verfügen, über die heute nur sehr wenige verfügen. Man kann heute Flugautos kaufen, wie man 1983 Handies kaufen konnte. Das heißt nicht, dass unsere Kinder in 2050 jeden Morgen ins Büro fliegen werden. Es bedeutet aber, dass Individualluftverkehr eine Möglichkeit ist, die technisch im Bereich des Machbaren liegt. Und wer 1980 nicht vorausgesehen hat, dass in 2012 fünf Milliarden Menschen Mobiltelefone nutzen werden, der braucht sich jetzt auch nicht an Prognosen zur Flugzeugnutzung in 2040 zu versuchen.
Der größte Einfluss einer Technologie entsteht nicht, wenn sie erfunden, sondern wenn sie demokratisiert wird, also die Massen erreicht. Deshalb ist die entscheidende Frage, ob es gelingt, etwas billig zu machen. Das beste Beispiel sind elektronische Geräte und insbesondere Mikroprozessoren. Wir erwerben heute Fotoapparat, Filmkamera, Tonbandgerät, Radio, Musikspieler, Stoppuhr, Wecker, Internetzugang, Telefon, Navigationsgerät, Adressbuch und Vieles mehr kombiniert in einem 100 Gramm schweren Gerät für 50 Euro. In der Biotechnologie setzt dieser Prozess gerade erst ein. Es ist aber absehbar, dass die medizinische Diagnostik, die sich mehr und mehr auf die Genomanalyse stützt, den radikalen Preisverfall bei Computerchips nachvollziehen wird. In der Photonik verläuft die Entwicklung ähnlich schnell wie bei Chips.
Das große Verdienst der USA ist, dass sie die Idee von Wohlstand für alle und der Möglichkeit sozialen Aufstiegs erfolgreich exportiert haben. Sie ist in Asien, Afrika und Lateinamerika angekommen. Dort lebt der Glaube an eine bessere Zukunft, der in Europa und mittlerweile teilweise auch in den USA von vielen grundlos aufgegeben worden ist.
Globalisierung der Zukunft heißt, heute die Vorteile des westlichen Mittelstands weltweit verfügbar zu machen. Den Trend fortzusetzen, der dazu geführt hat, dass in westlichen Haushalten Kühlschrank, Waschmaschine, TV, Radio, CD und DVD, Computer, Internet, Telefon, medizinische Versorgung, Schulbildung, saubere Umwelt und meist auch ein Auto Standard sind. Wir wollen, dass das weltweit in allen Haushalten der Fall ist. Und wir wollen, dass auch in Zukunft die Ärmeren in der Gesellschaft mit zeitlicher Verzögerung schließlich das bekommen, was sich am Anfang nur die Reichsten erlauben können. Dazu brauen wir Technologien für billige Wasseraufbereitung, billige Energie, billiges Wissen, billige Kommunikation, billige Informationsverarbeitung (inklusive Sensorik) und billige Pathogenkontrolle (Bioanalytik, medizinische Diagnostik, Impfung, Antibiotika, Hygienetechnik, Pflanzenschutz). Und „billig“ heißt hier einfach: problemlos zugänglich. Für den Menschen wird das bedeuten: Wohlstand, Sicherheit und Wahlmöglichkeiten mit einem hohen Maß an natürlicher (biologischer) und technologischer Diversität.
Freuen wir uns auf Übermorgen
Brian David Johnson, „Chef-Futurologe“ bei Intel, hat eine Menge Menschen danach befragt, wie wir die Zukunft verändern können. Besonders beeindruckt hat ihn die Antwort des kanadischen Science-Fiction-Autors Cory Doctorow. Der sagte: „I guess the way you change the future is to change people’s narrative. Change the story people have imagined the future will be. Change that and you change the future. Everything else is far too complicated and out of a single person’s control—but just change the story we tell ourselves about the future and you change the future itself.“ [9]
Die Geschichte ändern, die wir uns von der Zukunft erzählen. Das ist eine Antwort, die zu einem Science-Fiction-Autor passt. Aber es ist etwas Wahres dran. Wenn wir aufhören, uns die Zukunft als Energiesparvariante der Gegenwart zu denken und damit anfangen, uns über die Expansion des Techniums als Expansion des Menschenmöglichen zu freuen, dann können wir eine große Zukunft schaffen.