05.05.2025

Frankreich und der moderne Antisemitismus

Rezension von Daniel Ben-Ami

In einer Biografie über Alfred Dreyfus, „The Man at the Center of the Affair", erklärt Maurice Samuels, wie der Antisemitismus in der egalitären französischen Gesellschaft neu entstehen konnte.

Maurice Samuels Biografie über den des Hochverrats angeklagten französischen Armeeoffizier Alfred Dreyfus (1859-1935) leistet einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des Aufstiegs des modernen Antisemitismus. Die allgemeineren Aspekte sind eingebettet in die fesselnde Geschichte eines Skandals, der Frankreich von 1894 bis 1906 an den Rand eines Bürgerkriegs brachte.

Obwohl es eine umfangreiche Literatur über die Dreyfus-Affäre gibt, wird die zentrale Rolle, die der Antisemitismus in fast allen Aspekten spielte, erstaunlich wenig beachtet. Maurice Samuels, Professor für Französisch an der Yale University und Direktor des Yale Antisemitism Research Program, gelingt es, diese Lücke zu schließen. Er argumentiert überzeugend, dass Judenfeindlichkeit die Hauptmotivation derer war, die sich gegen Dreyfus stellten. Sie war nicht nur, wie viele behauptet haben, ein unbedeutendes Detail in einer universellen Geschichte der Ungerechtigkeit.

Samuels zeigt, dass die Judenfeindschaft, die die meisten Dreyfus-Gegner kennzeichnete, weit mehr war als ein Vorurteil oder bloßer Hass. Ab den 1880er Jahren gerieten die Juden unversehens in einen Konflikt zwischen den Modernisierern, die Frankreich verändern wollten, und den Reaktionären, die sich dem Wandel widersetzten. Die Juden wurden gewissermaßen zum Symbol des allgemeinen Wandels der französischen Gesellschaft hin zur Moderne. Der Antisemitismus wurde zu einem „kulturellen Code“ – einer Kurzformel – für diejenigen, die sich der Modernisierung widersetzten.

„Obwohl es eine umfangreiche Literatur über die Dreyfus-Affäre gibt, wird die zentrale Rolle, die der Antisemitismus in fast allen Aspekten spielte, erstaunlich wenig beachtet.“

Samuels enthüllt diese Einsicht, indem er Dreyfus' einsamen Kampf um Gerechtigkeit und die parallele öffentliche Erregung über seinen Fall schildert. Tatsächlich bekam Dreyfus in den ersten Jahren nichts von der Aufregung mit, da er in Isolationshaft gehalten wurde. Auf den ersten Blick war Dreyfus eine unwahrscheinliche Figur, um des Landesverrats angeklagt zu werden oder im Mittelpunkt eines Antisemitismusskandals zu stehen. Laut Samuels war er ein glühender französischer Patriot und sehr schüchtern. Er wurde im Elsass, einer Region im Nordosten Frankreichs an der Grenze zu Deutschland, als Sohn einer wohlhabenden jüdischen Familie geboren. Obwohl seine Familie nicht gläubig war und sich gut in die französische Gesellschaft integriert hatte, bewahrte sie ihre jüdische Identität durch den Besuch der Synagoge.

1875, im Alter von 16 Jahren, beschloss Dreyfus, die École Polytechnique zu besuchen, eine Eliteuniversität mit Schwerpunkt Ingenieurwissenschaften. Er hoffte, dass dieser Schritt den Grundstein für seine Offizierslaufbahn legen würde. Nachdem er 1880 als Artillerieoffizier in die Armee eingetreten war, diente er in der Kavallerie. Im Jahr 1893 wurde er als Praktikant in den Generalstab berufen, in der Hoffnung, dass sich daraus eine feste Anstellung entwickeln würde. Im folgenden Jahr wurde er unter dem Vorwurf des Hochverrats verhaftet. Der französische Geheimdienst hatte ein Dokument entdeckt, das darauf hindeutete, dass ein hoher Offizier für Deutschland spionierte, und beschuldigte Dreyfus trotz dünner Beweislage. Im Dezember 1894 wurde Dreyfus in nur drei Tagen von einem Gericht unter Ausschluss der Öffentlichkeit für schuldig befunden.

Anfang des folgenden Jahres wurde er auf die Teufelsinsel vor Französisch-Guayana in Südamerika deportiert. Dort musste Dreyfus mehrere Jahre in Einzelhaft bei kärglicher Verpflegung und extremer Kälte und Hitze verbringen. Im Jahr 1899 durfte er nach Frankreich zurückkehren, nachdem sein Urteil aufgehoben worden war. Er musste sich einem zweiten Kriegsgericht stellen. Dieses entschied schließlich gegen Dreyfus und befand ihn mit fünf zu zwei Stimmen für schuldig, allerdings unter „mildernden Umständen“. Was das im Zusammenhang mit Hochverrat bedeutete, blieb unklar. Dennoch wurde Dreyfus zu weiteren zehn Jahren Haft verurteilt.

Angesichts des konzertierten internationalen Drucks aus dem In- und Ausland entschloss sich die Regierung jedoch rasch zu einer Begnadigung. Diese kam zwar keiner vollständigen Rehabilitierung gleich, ermöglichte es ihm aber, das Gefängnis zu verlassen und mit seiner Familie zusammenzuleben. Am 12. Juli 1906 fällte das Gericht nach jahrelangem Rechtsstreit ein endgültiges Urteil. Dreyfus wurde vollständig freigesprochen. Es wurde anerkannt, dass die Militärrichter, die ihn ursprünglich verurteilt hatten, einen ungeheuerlichen Justizirrtum begangen hatten.

„Das reaktionäre Element der französischen Gesellschaft lehnte sowohl die Juden als auch die Modernisierung vehement ab."

Während Dreyfus sich mit den Gerichten auseinandersetzte und im Gefängnis saß, war die Außenwelt über seine Affäre gespalten. Das reaktionäre Element der französischen Gesellschaft lehnte sowohl die Juden als auch die Modernisierung vehement ab. Es hatte sogar Schwierigkeiten, zwischen beiden zu unterscheiden. Die Modernisierer hingegen standen Dreyfus im Allgemeinen wohlwollend gegenüber.

Der bekannteste Vertreter des Pro-Dreyfus-Lagers war Émile Zola, einer der berühmtesten Literaten des Landes. Er schrieb 1898 einen Offenen Brief zur Verteidigung von Dreyfus mit dem Titel „J'Accuse...!" ("Ich klage an...!"). Weitere prominente Persönlichkeiten auf der Seite der Dreyfusards waren zwei spätere Premierminister: Georges Clemenceau und Léon Blum. Die vielleicht prominenteste Figur der Anti-Dreyfusard-Bewegung war Édouard Drumont (1844-1917). Er war Journalist und Schriftsteller und leitete La Libre Parole, eine antisemitische Massenzeitung, bevor er in die Politik ging. Samuels stellt fest, dass er die sozialistische Abneigung gegen jüdische Bankiers mit der rechten Feindseligkeit der Ultraroyalisten und fundamentalistischen Katholiken verband. Hinzu kam eine Dosis der neuesten Rassentheorien.

Die Linke war in dieser Frage gespalten. Jean Jaurès, der Führer der gemäßigten Sozialisten, ignorierte sie zunächst mit der Begründung, sie betreffe nicht die Arbeiterklasse. Schließlich schlug er sich 1898 auf die Seite von Dreyfus, da er zu dem Schluss kam, dass jeder Bürger das Recht auf Schutz durch das Gesetz habe. Jules Guesde, ein radikalerer Sozialist, distanzierte sich von Dreyfus, da der Angeklagte der Kapitalistenklasse angehörte.

„Hinter dem Dreyfus-Skandal verbarg sich eine grundlegende Spaltung der französischen Gesellschaft, die sich bereits ein Jahrhundert zuvor abgezeichnet hatte.“

Hinter dem Dreyfus-Skandal verbarg sich eine grundlegende Spaltung der französischen Gesellschaft, die sich bereits ein Jahrhundert zuvor abgezeichnet hatte. Frankreich war das europäische Land, das den Juden am offensten gegenüberstand, und vielleicht auch das Land, in dem der moderne Antisemitismus zuerst Gestalt annahm. Frankreich war das erste europäische Land, das den Juden die vollen Bürgerrechte gewährte. In der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 hieß es, dass alle Menschen mit gleichen Rechten geboren seien. Es folgten zwei Dekrete zur Anerkennung der Rechte der Juden als vollwertige und gleichberechtigte Bürger. Das erste betraf 1790 die Sephardim (Juden spanischer Herkunft) und 1791 die Aschkenasim (Juden mitteleuropäischer Herkunft). (In Frankreich erhielten die Frauen allerdings erst 1944 das Wahlrecht.) Samuels geht davon aus, dass die Entstehung des modernen Antisemitismus eine Reaktion auf die Emanzipation war. Die antisemitischen Bewegungen waren gegen die Gewährung der vollen Bürgerrechte für Juden.

Mein einziger Kritikpunkt an dem Buch besteht darain, dass es dieses Argument vielleicht noch weiter hätte ausführen können. Wie ich bereits dargelegt habe, war die Entstehung des aufklärerischen Gleichheitsideals paradoxerweise eine Voraussetzung für die Etablierung des Rassendenkens. Die Idee der Ethnizität entstand als Versuch, das Fortbestehen von Ungleichheit trotz des weit verbreiteten Strebens nach Gleichheit zu erklären. Im Falle der Juden argumentierten die Antisemiten, dass sie sich trotz der Emanzipationsbestrebungen der Revolution nicht wirklich in die französische Gesellschaft integrieren konnten. Sie sahen in den Versuchen, die Gesellschaft zu modernisieren, einschließlich der Integration der Juden, eine Untergrabung des traditionellen Wesens Frankreichs.

Aber vielleicht hätte die Untersuchung der Entstehung des Antisemitismus als eine Form des Rassendenkens das Buch zu sehr auf theoretisches Terrain geführt. Insgesamt erreicht das Buch sein Ziel auf bewundernswerte Weise, indem es eine fesselnde Biographie von Alfred Dreyfus im Kontext der Ambivalenz Frankreichs gegenüber den Juden und der Moderne bietet.

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