30.01.2025

Die Entwertung des Holocaust

Von Frank Furedi

Titelbild

Foto: peter89ba via Pixabay

Auschwitz wurde seiner historischen und moralischen Bedeutung beraubt. Heute missbrauchen unterschiedliche Kräfte das Symbol des NS-Judenmordes für ihre Zwecke, einige wenden es sogar gegen Israel.

Am 27. Januar 1945 befreiten sowjetische Truppen die Häftlinge des berüchtigten nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz. Achtzig Jahre später wissen Millionen junger Menschen im Westen nichts über das Vernichtungslager, geschweige denn über den Holocaust. Sie wissen nichts über das größte Verbrechen des 20.

Nach einer aktuellen Umfrage hat jeder neunte junge deutsche Jugendliche noch nie etwas vom Holocaust gehört. Ein Viertel kann kein einziges Konzentrationslager, Todeslager oder Ghetto nennen. Die Umfrage ergab auch, dass „fast die Hälfte der erwachsenen Amerikaner nicht in der Lage ist, irgendeine Vernichtungsstätte des Holocaust zu benennen“.

Nicht weniger beunruhigend war eine Umfrage von The Economist und YouGov aus dem Jahr 2023. Sie ergab, dass mehr als ein Fünftel der jungen Amerikaner zwischen 18 und 29 Jahren der Aussage „Der Holocaust ist ein Mythos“ zustimmten, während weitere 30 Prozent weder zustimmten noch widersprachen. Das bedeutet, dass weniger als die Hälfte der jungen Amerikaner fest davon überzeugt ist, dass der Holocaust tatsächlich stattgefunden hat.

Diese zunehmende historische Amnesie sollte an sich schon beunruhigend genug sein. Noch beunruhigender ist jedoch die Art und Weise, wie die Bedeutung des Holocaust von unseren kulturellen und politischen Eliten verzerrt und auf den Kopf gestellt und von israelfeindlichen Eiferern als Waffe missbraucht wird.

Tatsächlich wird Auschwitz–- ein Vernichtungslager, das für den Völkermord an den Juden konzipiert wurde – rasch in etwas anderes verwandelt: in ein universelles Symbol menschlicher Grausamkeit. Es wird zu einem grausigen ‚Themenpark‘ für diejenigen, die auf der Suche nach einer einfachen moralischen Botschaft sind.

„Auschwitz als allgemeines Symbol der Grausamkeit zu behandeln, wie es die Unesco tut, banalisiert das Gedenken.“

Ein Beispiel dafür ist die Unesco, die wohl mächtigste internationale Kulturinstitution der Welt. In ihrer offiziellen Bewertung des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau, einer Weltkulturerbestätte, spricht sie von seinem „außergewöhnlichen universellen Wert“. Das Lager sei ein Symbol für „die Grausamkeit der Menschheit gegenüber ihren Mitmenschen im 20. Jahrhundert“.

Auschwitz als allgemeines Symbol der Grausamkeit zu behandeln, wie es die Unesco tut, banalisiert das Gedenken. Die Geschichte bietet unzählige Beispiele für schreckliche Gräueltaten der Menschheit, aber es gibt nur einen Holocaust. Seine einzigartige historische Bedeutung ergibt sich aus der Tatsache, dass es sich um einen industrialisierten Vernichtungsfeldzug handelte, der sich ausschließlich gegen das jüdische Volk richtete. Und genau diese Bedeutung droht uns heute völlig verloren zu gehen.

So hat sich der Holocaust in den letzten Jahrzehnten immer mehr von der Erfahrung jüdischen Leidens gelöst. Er ist zu einer Allzweckmarke für Aktivisten geworden, die damit ihren Anliegen moralisches Gewicht verleihen wollen: Tierschützer sprechen von einem „Holocaust auf dem Teller“, Abtreibungsgegner in den USA prangern einen Holocaust an Föten an.

Es ist ein Begriff geworden, der flexibel auf alle Fälle menschlicher Aggression und blutiger Konflikte angewandt werden kann. Es gibt angeblich einen afroamerikanischen Holocaust, einen bosnischen Holocaust, einen ruandischen Holocaust. Und natürlich gibt es jetzt den Gaza-Holocaust. Es scheint, dass jeder offensichtliche Akt von Krieg, Aggression oder Schikane dazu einlädt, als Holocaust bezeichnet zu werden.

„Der Holocaust wurde aus seinem historischen Kontext gerissen.“

Der Holocaust wurde aus seinem historischen Kontext gerissen. Das geht so weit, dass seine historische Bedeutung heute von verschiedenen Anti-Israel-Aktivisten völlig auf den Kopf gestellt wird. Nach dem Hamas-Pogrom vom 7. Oktober 2023 bezeichneten „pro-palästinensische“ Demonstranten Israels Selbstverteidigung kurzerhand als Nazi-Aggression. Bei ihren Aufmärschen zeigten sie Plakate mit einem Davidstern in einem Hakenkreuz. Sie vergleichen die israelische Belagerung des Gazastreifens mit den Konzentrationslagern der Nazis. Sie stellen israelische Soldaten, die für die Verteidigung ihres Landes kämpfen, als Sturmtruppen der Nazis dar. In der groteskesten Umkehrung stellen sie die Hamas-Terroristen, die für die Gräueltaten vom 7. Oktober verantwortlich sind, in die Rolle der jüdischen Opfer des Holocaust.

Selbst der Gazastreifen scheint von manchen mit Auschwitz gleichgesetzt zu werden. Im Mai 2024 gingen pro-palästinensische Demonstranten so weit, einen Auschwitz-Gedenkmarsch mit einem „Stoppt den Völkermord“-Protest zu stören. Laut Maung Zarni, einem burmesischen Menschenrechtsaktivisten und angeblichen Genozid-Experten, ist Israels Krieg gegen die Hamas in Gaza eine „Wiederholung von Auschwitz“ und ein „kollektiver Völkermord des weißen männlichen Imperialismus“.

Diese bewusste Verdrehung der Geschichte ist atemberaubend. Wenn Gaza das neue Auschwitz ist, wo sind dann die überfüllten Züge, die ihre „Passagiere“ in den Tod transportieren? Wo sind die mörderischen Gaskammern? Wo sind die routinemäßigen Schändungen der Körper der Toten? Die antiisraelischen Eiferer berauben den Holocaust nicht nur seiner schrecklichen Realität, sondern auch seiner moralischen Bedeutung.

„80 Jahre nach der Befreiung muss die Erinnerung an Auschwitz von den mächtigen Kräften befreit werden, die versuchen, seine Bedeutung zu entstellen.“

Die Umkehrung des Holocaust ist unter Israelgegnern weit verbreitet. Wie die Juristin und Mitherausgeberin des „Journal for the Study of Antisemitism“, Lesley Klaff, erklärt, handelt es sich dabei sowohl um eine „Umkehrung der Realität“, bei der die Israelis als „neue“ Nazis und die Palästinenser als „neue“ Juden dargestellt werden, als auch um eine „Umkehrung der Moral“, bei der „der Holocaust als moralische Lektion für ‚die Juden‘ oder sogar als moralische Anklage gegen sie dargestellt wird“.

Die antiisraelische Propaganda ist durchsetzt von der Umkehrung des Holocaust. Die in Großbritannien ansässige Islamische Menschenrechtskommission (IHRC) rief sogar zum Boykott des Holocaust-Gedenktages am 27. Januar auf, weil es „moralisch inakzeptabel“ sei, dass Gaza nicht als Völkermord wie der Holocaust betrachtet werde. Sie schrieb 460 Rathäuser und Bildungszentren an und forderte sie auf, die Veranstaltung zu boykottieren.

Die Worte „Nie wieder“ sind durch und durch korrumpiert. Entkontextualisiert und disneyfiziert ist der Holocaust zu einer Waffe geworden, die gegen diejenigen eingesetzt wird, die seine historischen Opfer waren. Die Leichtigkeit, mit der die Hamas und ihre westlichen Unterstützer die Erinnerung an den Holocaust gegen seine historischen Opfer wenden, ist ein Armutszeugnis für die westliche Kultur.

Wir müssen anfangen, dem kompromisslosen Bekenntnis zum „Nie wieder“ wieder Geltung zu verschaffen. 80 Jahre nach der Befreiung muss die Erinnerung an Auschwitz von den mächtigen Kräften befreit werden, die versuchen, seine Bedeutung zu entstellen.

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