22.12.2016

Falsche Lehren aus der Silvesternacht

Rezension von Monika Frommel

Titelbild

Foto: Andy_Graf via Pixabay / CC0

In ihrem Buch „Die Nacht, die Deutschland veränderte“ arbeiten Voogt und Wiermer die Kölner Vorgänge vom letzten Silvester auf. Die Probleme liegen nicht bei Islam und Sexualstrafrecht.

Ein gerade erschienenes Buch von Gerhard VoogtundChristian Wiermer hilft zu verstehen, was in der Kölner Silvesternacht 2015/16 passiert ist. Nun rüstet Köln für kommendes Silvester rüstet auf, um nicht noch einmal ein solches Desaster zu produzieren. Aber gelernt hat der Innenminister von NRW aus dem eklatanten Polizeiversagen vor einem Jahr nicht. Noch immer ist die Politik dabei, das Geschehene zu verdunkeln. Berichtet wird weder über Falschaussagen, die es auch gibt, noch zeichnet die Regierung ein realistisches Bild und erklärt, wieso sie routinierten und tatgeneigten Migranten aus den Maghreb-Staaten eine solche Gelegenheit geboten hat.

Zwar leiden Frauen in einer Großstadt wie Kairo täglich unter dem Gegrapsche 1, aber dort ist es auch zu einem Zerfall staatlicher Strukturen gekommen. Erst dieser Verlust an vorhersehbarer Kontrolle erklärt das hohe Risiko, das dort Frauen eingehen, ob sie nun verhüllt oder eher emanzipiert auftreten. Es ist nicht der Islam. Es ist die zerstörte innere und äußere Ordnung. Junge Männer wissen dort, dass sie auf eine Mischung aus Unfähigkeit und patriarchaler Kumpelhaftigkeit bauen können. In Deutschland gelten andere Regeln. Das war aber offenbar in Köln im Dezember 2015 nicht der Fall.

Elf Monate nach dieser Nacht haben nun Voogt und Wiermer recherchiert, was wirklich geschehen ist. Sie haben zehntausende Dokumente ausgewertet und mit Beteiligten der Nacht gesprochen – mit Opfern, Tätern, Rettern, Verantwortlichen. Die Autoren gewähren einen vollständigen Überblick über alle 1200 eingegangenen Notrufe und werten interne Polizeikorrespondenz aus.

„Statt die Ursachen zu analysieren, wurde das Sexualstrafrecht geändert“

Bestätigt werden die Vorwürfe, wonach Opfer abgewiesen worden seien, weil nicht genügend Polizei vor Ort war und es keinen Plan gab, Verstärkung zu holen. Nur um das eigene Versagen zu minimieren, wurden ihre Anschuldigungen heruntergespielt. Und statt die Ursachen dieser Fehleinschätzung zu analysieren, wurde im Juli 2016 das Sexualstrafrecht geändert. Dieser Aktionismus zeigt, dass es leider viele Akteure gibt, die das Polizeiversagen in Köln instrumentalisieren wollen für ihre jeweils eigenen und durchaus gegensätzlichen Zwecke.

Vor dem Innenausschuss des NRW-Landtags trug der äußerst besonnene Kriminologe Rudolf Egg (Kriminologische Zentralstelle Wiesbaden) seinen Eindruck vor und nahm Zuflucht zu einer Kontrolltheorie der 1990er-Jahre, welche vom Bild der ‚broken windows‘ lebt. Sie war auf die sogenannten ‚no-go-areas‘ in New York gemünzt. Wer eingeschlagene Fensterscheiben nicht repariert, demonstriert eine Nachlässigkeit, welche Einbruch, Vandalismus und am Ende auch Gewaltkriminalität geradezu provoziert. Politisch war der Kontrollverlust der Beginn einer extrem konservativen Wende-Stimmung. Sie stabilisierte den Erfolg von Bürgermeister „Rudy“ Giuliani und der Republikanischen Partei in New York in den Jahren ab 1994.

Eigentlich konnte man in Deutschland immer stolz sein, dass diese extrem schlicht gestrickte Kontrolltheorie hierzulande nicht passte. Innenpolitik lebte von klug antizipierendem Verhalten einer gut ausgebildeten Polizei und einer kritischen Beobachtung. Aber diese Haltung ist zunehmend fragil geworden. Seit einiger Zeit wird wieder grob vereinfacht. Geklagt wird über eine angebliche „rape culture“, gefordert werden (kriminologisch sinnlose) Verschärfungen von Mindeststrafen. Über die Mentalität der islamischen Migranten wird räsoniert, analysiert wird hingegen nicht die verfehlte Innenpolitik in NRW.

„Aus struktureller Hilflosigkeit wird überzogene Härte“

Schaut man die nun zugänglichen Lageberichte an, dann war auf der Kölner Domplatte spätestens um 20:30 Uhr – die ersten Hinweise bei der örtlichen Polizei – die Situation außer Kontrolle („Krieg“ mit Silvesterböllern). Nach 22 Uhr herrschte Chaos. Der Mob probte den Aufstand. Der Bahnhof war zu einem gefährlichen Ort geworden, aber die Züge fuhren dennoch. Polizisten hatten Angst. Informationen wurden nach oben weiter gegeben, aber nicht mehr ausgetauscht. Vor Ort mussten die wenigen Polizisten hilflos improvisieren.

Bereits am frühen Abend wurde eine Polizistin durch einen Böller verletzt. Ihre Hilflosigkeit wurde ausgenutzt. Auch sie wurde begrapscht und beraubt. Sie meldete diese Vorfälle sofort. Aber statt Ordnung herzustellen, geschah nichts. Die sehr genaue Meldung der Polizistin verschwand – zusammen mit zahlreichen anderen Hinweisen – in den unübersichtlichen Nischen der handlungsunfähigen Hierarchie. Angeblich unklare Kompetenzen der Polizeibehörden wurden vorgeschoben und ein Polizeipräsident entlassen.

Immerhin funktionierte ein wenig soziale Kontrolle. Ein Obdachloser fand später die der Polizistin geraubte Tasche mit den Papieren und gab sie ab. An Silvester 2016/17 gilt nun – wie damals in New York – ein anderes Modell. Aus struktureller Hilflosigkeit wird überzogene Härte. Beides ist zu kurzatmig. Die Gründe für das Polizeiversagen vor einem Jahr liegen tiefer.

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