27.06.2017

Falsche Freiheitsfreunde

Rezension von Andrea Seaman

Titelbild

Foto: Martin Abegglen via Flickr / CC BY-SA 2.0

Oberflächlich betrachtet liefert das Buch „Die Schweiz und der Andere“ starke Argumente für die Freiheit. Schaut man genauer hin, offenbaren sich jedoch antidemokratische Ressentiments.

Am 9. Februar 2014 stimmte eine klare Mehrheit der Schweizer für die Volksinitiative „Gegen Masseneinwanderung“. Es ging darum, die Immigration ins Land deutlich zu reduzieren. Doch eine Mehrheit der Parlamentsabgeordneten hat sich bisher geweigert, den Volkswillen auszuführen. Ihre Begründung: Bilaterale Verträge mit der EU, wie das Freizügigkeitsabkommen, würden verletzt. Die Bürger hätten die vollen Konsequenzen ihrer Wahlentscheidung nicht verstanden. Supranationale Abkommen zu wahren ist den Schweizer Parlamentariern anscheinend wichtiger, als das Abstimmungsergebnis anzuerkennen.

Angesichts des Verhaltens der Parlamentarier sind Zweifel angebracht, ob die Schweiz tatsächlich noch eine Demokratie ist. Denn eine Grundbedingung der Demokratie ist die Volkssouveränität – also die Vorstellung, dass die Bürger selbst über ihre Geschicke entscheiden sollen. Dieser Auffassung steht eine elitäre Haltung gegenüber, die die Bundesrätin Simonetta Sommaruga stellvertretend für einen Großteil der politischen Klasse der Schweiz formuliert hat: „Auch in einer direkten Demokratie darf niemand allmächtig werden, auch die Stimmbürger nicht.“

Übersetzt in einfaches Deutsch heißt das ungefähr Folgendes: Wir Politiker fühlen uns nur dann an den Willen des Souveräns gebunden, wenn wir der Auffassung sind, dieser habe „richtig“ – also in unserem Sinn – entschieden. Aber Demokratie bedeutet nicht, „das Richtige“ zu entscheiden, sondern zuvorderst, dass das Volk die Freiheit haben muss, die großen Fragen, denen die Nation gegenübersteht, selbst zu beantworten. Und diese Freiheit beinhaltet auch die Freiheit, „falsch“ zu entscheiden. Diese demokratische Freiheit wird heute zunehmend von einer politischen Elite in Zweifel gezogen, die immer mehr Widerstand zu spüren bekommt.

„Demokratie bedeutet nicht, ‚das Richtige‘ zu entscheiden.“

In dieser Situation ist ein Buch erschienen, das sich auf den ersten Blick auf der Seite von Demokratie und Freiheit zu positionieren scheint. Es trägt den Titel „Die Schweiz und der Andere: Plädoyer für eine liberale Schweiz“. Der Autor ist Johan Rochel, Vizepräsident des Thinktanks Forum Aussenpolitik (foraus).

Das ideelle Fundament

Gemäß dem Autor ist das Buch eine Antwort auf die größer werdende Macht der politischen Rechten in der Schweiz und ein Appell an Liberale, die Bewegungsfreiheit zwischen Nationen zu unterstützen. „Das Paradigma der Abschottung“1, behauptet es, sei „überholt“. Nun beginne „die Zeit der Begleitung und der intelligenten, respektvollen Lenkung der Herausforderungen der Migration“. 2

Das Buch beschwört die Freiheit als Ideal und Inspiration, und alle Formen der despotischen Herrschaft als ihren Feind. Der Autor sagt uns, dass den Liberalismus „im Kern ein tiefes Vertrauen in den Menschen und den Geist seiner Freiheit“ 3 auszeichne und dass von einer „moralischen Gleichheit zwischen allen Individuen“ 4 ausgegangen werden sollte. Rochels noblem Gedanken, unser Vertrauen in „den Menschen und den Geist seiner Freiheit“ zu setzen, sowie seinem Streben nach moralischer Gleichheit, kann ich mich nur anschließen. Von diesem ideellen Fundament aus, beginnt der Autor von der großen Geißel des Liberalismus zu sprechen: der „Beherrschung“ – oder Herrschaft.

„In der politischen Praxis widerspricht der Autor leider seinen eigenen Prinzipien.“

Herrschaft als Konzept des klassischen Liberalismus ist, so Rochel, eine Machtrelation, in der eine Instanz willkürliche Kontrolle oder Macht über ein Individuum ausübt. Somit ist die willkürliche Kontrolle eines Staates über ein Individuum Herrschaft. Aber die Herrschaft muss nicht immer in der offensichtlichen Form eines Kampfstiefels daherkommen, der das Individuum zerdrückt. Sie kann auch unsichtbar oder getarnt sein. Um dies zu illustrieren, bezieht sich der Autor auf den irischen Philosophen Philip Pettit.

Wenn man sich, so Pettit, einen Sklaven und seinen Herrn vorstellt, kann der Letztere entweder seine Macht voll ausnutzen und grausam sein, oder er kann ein wohlwollender Herr sein, der dem Sklaven viele Freiheiten gewährt. Im zweiten Fall geht es dennoch um Herrschaft , auch wenn sie nicht klar zu sehen ist. Denn theoretisch kann der Meister nach Gutdünken seine Großzügigkeit in Tyrannei verwandeln. In anderen Worten ist gewährte Freiheit keine Freiheit. Wahre Freiheit muss den Freien gehören.

Die so von Rochel dargelegten Prinzipien erscheinen alle schön und gut. Aber in der politischen Praxis widerspricht der Autor leider seinen eigenen Prinzipien.

Streitpunkt Einwanderung

Als illusorisch bezeichnet Rochel den Wunsch der Mehrheit von 2014, die Immigration einzudämmen. 5 Weil menschliche Mobilität „nicht gestoppt, gelöst oder ausgelagert“ 6 werden könne, liege diese jenseits demokratischer Kontrolle. Implizit rechtfertigt der Autor so die Weigerung der politischen Elite der Schweiz, das Ergebnis der Volksinitiative umzusetzen. Er glaubt, Grenzen könnten nicht kontrolliert werden, und führt als Beleg die vielen „Sans-Papiers“ (Migranten ohne geregelten Aufenthaltsstatus) an, die dauerhaft in der Schweiz leben. Dass diese große Durchlässigkeit für illegale Einwanderer kein Naturgesetz, sondern eher Ausdruck einer mangelnden demokratischen Kontrolle und eines fehlenden Willens, Grenzen zu sichern, ist, geht an Rochel vorbei.

„Rochel begeht den fundamentalen Fehler, Rechte von ihren Inhabern zu trennen.“

Um sein antidemokratisches Argument zu stützen, beruft er sich auf „bestimmte juristische Grenzen“ 7, die durch internationale Abkommen gegeben sein, die von der Schweiz abgeschlossen wurden. Rochel nennt die Genfer Flüchtlingskonvention, die Europäische Menschenrechtskonvention und das Freizügigkeitsabkommen mit der EU. So wie die meisten schweizerischen Politiker stellt er diese Abkommen über das Prinzip der Volkssouveränität..

Das Volk, schreibt Rochel, habe das Recht, die Zuwanderungspolitik zu bestimmen, jedoch nur „im Rahmen der Werte der liberalen Schweiz“ 8. Diese Werte fasst der Autor wie folgt zusammen:

  1. Ausgehend von einer moralischen Gleichheit zwischen allen Individuen sollten
  2. alle Mitglieder der politischen Gemeinschaft, die die Schweiz bildet, die gleiche Freiheit genießen,
  3. sofern sie die Gleichheit und die Freiheit der Individuen außerhalb ihrer Gemeinschaft respektieren. 9

Es sollte klar sein, dass diese drei Punkte unvereinbar sind. Rochel verwechselt Recht, Privileg und Verantwortung. Er behauptet, die Gewährleistung der Rechte von Ausländern, von Immigranten, sei unsere Pflicht. Doch so funktionieren Rechte prinzipiell nicht.

Recht bedeutet Freiheit

Thomas Paine, bedeutender Aufklärer und einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten, erklärte in seinem Werk „Dissertation on the First Principles of Government“ (Abhandlung über die Grundprinzipien des Regierens), dass ein Recht die Verpflichtung mit sich bringt, dieses Recht einem anderen, der unserer Gesellschaft angehört, zu garantieren. Diesem Gedanken folgend ist ein Recht nichts anderes als eine Freiheit. Wie wir wissen, kann Freiheit nur autonom erlangt werden, niemals heteronom. Eine Bürgerschaft, die sich selbst alle Rechte – also Freiheiten – gegeben hat, ist frei. Nichtbürger – selbst jene im Zuständigkeitsbereich der Verfassung der freien Gesellschaft – sind nicht Teil der Bürgerschaft und können somit die Rechte der Bürger nur in der Form von Privilegien genießen. Obwohl ein Menschenrecht wie die Redefreiheit sehr wohl universell gültig sein sollte, nimmt es in der Praxis eine nationale Form an.

„Rochel möchte der Schweiz seine Vision der Freiheit aufzwingen.“

In diesem Licht betrachtet, wird deutlich, dass Immigration kein Recht ist, welches von der Freizügigkeit ausgeht, sondern ein Privileg, welches potenziellen Immigranten gewährt wird. Nur Bürger einer Nation können Freizügigkeit als Recht genießen. Rochel begeht den fundamentalen Fehler, Rechte von ihren Inhabern zu trennen. Die Ideale der Aufklärung beruhen auf der Prämisse, wonach Rechte vom und für das Volk erkämpft werden müssen und ihm eben deshalb gehören. Diese Vorstellung verwirft Rochel.

Ironischerweise sieht er nicht, dass er sich damit auf die Seite einer schlimmen Form von Herrschaft stellt. Rochel möchte der Schweiz seine Vision der Freiheit aufzwingen. Und zwar mit der Hilfe gesetzlicher Diktate und der EU, obwohl das Volk bereits mehrheitlich im Rahmen der direktdemokratischen Verfahren der Schweiz anders entschieden hat.

Auf eine ähnliche demokratiefeindliche Art wirken auch die internationalen Verträge zum Schutz der Menschenrechte. Solche Verträge entmachten die Gemeinschaften, denen die Rechte gehören sollten. Wenn Rechte von außen, durch die Macht internationaler Verpflichtungen, aufgezwungen werden, verlieren sie ihre Bedeutung als eine selbstgewählte Bindung der Mitglieder der Gemeinschaft.

„Echter Liberalismus geht Hand in Hand mit der Demokratie.“

In Anbetracht der Sympathie, die Rochel für supranationale Instanzen hegt, ist es kein Wunder, dass sein Buch viel EU-Lob enthält. Obwohl die EU immer von „Bewegungsfreiheit“ spricht, ist diese Freiheit, wie so viele „Rechte“ heutzutage, eher ein Bewegungsprivileg, das den Mitgliedstaaten aufoktroyiert wird. Rochels ständige Lobeshymnen auf die EU, die mitleidlos tausende Afrikaner und Asiaten vor ihren Grenzen sterben lässt, lässt seine liberale Haltung noch schlechter aussehen.

Der Autor hat wohl John Stuart Mills „Considerations on Representative Government“ (Betrachtungen über repräsentative Regierung) nicht gelesen. Dort hätte er eine überzeugende Kritik seines eigenen Pseudoliberalismus finden können. Mill verurteilt die Idee, einem Volk die Freiheit aufzuzwingen. Auch wenn die Bürger ein hohes Maß an Freiheit genössen, könnten sie, so Mill, nie vergessen, dass sie diese Freiheit „nur durch einen Akt der Duldung und als ein Zugeständnis“ genössen, das „in jedem Augenblick zurückgenommen werden kann“.

Autoritätsverlust der Demokratie, Krise des Liberalismus

Anders als viele Liberale wie Rochel heute glauben, geht echter Liberalismus Hand in Hand mit der Demokratie. Der Glaube an das rationale Individuum liefert den ideellen Rahmen, der kollektive Entscheidungen überhaupt erst möglich und verbindlich macht, da Kollektive (wie ein Volk) notwendigerweise aus Individuen bestehen. Dem Individuum generell zu vertrauen, bedeutet nichts anderes, als an die Vernunft der Menschheit, eines einzelnen Volkes oder einer Mehrheit desselben zu glauben. Wenn man von der moralischen Gleichheit aller Individuen einer Gesellschaft ausgeht, ist die demokratische Mehrheitsentscheidung die gerechteste aller Entscheidungsformen. Denn so kann, um es mit Orwell zu sagen, niemand „gleicher“ sein als ein anderer.

„Hinter dem Schleier der Freiheit offenbart sich eine Liebe zu einem aufgeklärten Despotismus.“

Eine liberale Einwanderungspolitik, die ich mit vollem Herzen befürworte, kann also nur demokratisch errungen werden. Der Umstand, dass sich das Volk in der Schweiz immer wieder für eine Beschränkung der Einwanderung ausgesprochen hat, hat dazu geführt, dass viele Liberale nicht mehr daran glauben, das Volk überzeugen zu können. Sie setzen wie Rochel auf „bestimmte juristische Grenzen“, um ihre „liberalen“ Anliegen in Stein zu meißeln, damit kein lästiges Volk Änderungen vornehmen kann. Ein gefährlicher Holzweg! Denn so verliert die Demokratie an Autorität. Da ist es kein Wunder, wenn die Politiker der Schweiz glauben, sich über die Wünsche des Volkes hinwegsetzen zu können. Liberale haben wahrscheinlich sogar durch ihren Unwillen, dem Volk – dass sie als illiberal und rückständig betrachten – auf Augenhöhe zu begegnen, den konservativen Kräften Auftrieb gegeben, die im Buch hart kritisiert werden.

Man könnte auch argumentieren, dass die Fixierung auf die vermeintlichen Rechte von Einwanderern von staatlichen Angriffen auf andere Bürgerrechte ablenkt. Rochel tut so, als ob die Einwanderungsfrage das letzte Bollwerk eines illiberalen Konservatismus gegen eine ansonsten liberale Schweiz sei. Dabei übersieht er zunehmende Einschränkungen der Redefreiheit, paternalistische Lifestylebevormundung und die allgemeine Krise aufklärerischer Werte. Entwicklungen, die aktuell überall in der westlichen Welt zu beobachten sind.

So wird die Immigrationsdebatte zu einer Scheindebatte, um sich nicht mit dem schmerzlichen Zerfall liberaler Werte auseinanderzusetzen, der allerorten zu beobachten ist. Durch humanitäre Gesten und liberale Bekundungen gegenüber dem Aus- und Inland soll ein Bild der Stärke vermittelt werden, das sich nicht mit der Realität deckt. Illusion und Schein ersetzen Substanz. Und das alles aus Angst vor der Auseinandersetzung mit dem Volk, vor dem man sich verantworten müsste, wenn man den Kampf um die Freiheit ernst nehmen würde.

Rochels Liberalismus mag also oberflächlich die Freiheit befürworten und uns richtigerweise dazu anhalten, den Menschen zu vertrauen. Doch hinter diesem Schleier offenbart sich eine Liebe zu einem aufgeklärten Despotismus. Dem Menschen und dem „Geist seiner Freiheit“ vertraut der Autor jedenfalls nicht. Wirklich liberale Errungenschaften können nur demokratisch legitimiert und gestärkt werden.

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