12.11.2018

Fakten als Treibstoff

Rezension von Johannes Mellein

Titelbild

Foto: Fb78 via Wikimedia Commons / CC BY-SA 2.0

In seinem neuen Buch „Aufklärung jetzt“ bricht der Wissenschaftler Steven Pinker eine Lanze für den Fortschritt. Das sollte Modernitätsskeptiker von rechts und links aufhorchen lassen.

Welchen Sinn sehen wir noch in der Modernität? Diese Frage hat Kraft und Relevanz, weil die Gegenwart im Westen von Selbstzweifeln, Zukunftsangst und Misstrauen gegenüber den Institutionen der Moderne gezeichnet ist. Für den Linguisten und Evolutionspsychologen Stephen Pinker sogar so sehr, dass er sie bereits zum zweiten Mal in den öffentlichen Raum wirft: Vor zehn Jahren provozierte der Mann aus Harvard viele Kritiker mit seiner spektakulären Monographie „Gewalt“ (engl. „The better angels of our nature“), in der er die provokante These vertritt, dass die Gewalt im Verlaufe der Zivilisationsgeschichte messbar zurückgegangen ist – trotz Weltkriegen und Holocaust.

Noch umfassender und politischer ist das neue Opus Magnum („Aufklärung jetzt“) geraten. Folgt man Pinkers neuem Werk, ist es den Institutionen der Moderne nicht nur gelungen, die Gewalt zurückzudrängen, auch andere Indikatoren des menschlichen Wohlbefindens entwickelten sich zuletzt steil nach oben. Darunter so elementare wie Leben, Gesundheit, Wohlstand und Frieden. Aber auch um den Umweltschutz, Bürgerrechte und die vielbeschworene ökonomische Ungleichheit steht es besser als viele denken. Der Autor steht heute in der ersten Reihe derjenigen amerikanischen Liberalen, die sich sowohl gegen die Exzesse des Trumpismus als auch der linken Identitätspolitik stellen. Auch wenn ihre Skripte für Menschenrechte, Demokratie, Kapitalismus und evidenzbasierte Wissenschaft bis heute auf der ganzen Welt kopiert werden, sieht Pinker die Aufklärung ausgerechnet in ihren Mutterländern auf dem Rückzug. Dafür macht er nicht nur die einschlägigen Buhmänner aus dem rechtskonservativen bis populistischen Lager verantwortlich, sondern geht auch mit den linksliberalen Eliten hart ins Gericht: Ihre Vergangenheitssentimentalität und zynische Leugnung moderner Errungenschaften, ein relativistischer und vernunftfeindlicher Postmodernismus sowie dessen politischer Ausfluss, die Identitätspolitik, trügen mindestens ebenso zur Erosion unseres aufgeklärten Erbes bei. Deshalb unternimmt er den Versuch, die Vorzüge der Aufklärung auf über 700 Seiten neu zu erzählen.

Als DNA der Aufklärung identifiziert Stephen Pinker Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Um diese vier Begriffe und ihre diversen Gegenentwürfe kreisen die Texte. Entsprechend klar und logisch fällt die Gliederung aus: Im ersten Abschnitt geht es um Aufklärung und Gegenaufklärung. Anschließend folgt mit dem Teil „Fortschritt“ das faktenstarke Rückgrat des Buches. Laut Pinker stellt die systematische Verklärung der Vergangenheit einen wesentlichen Grund für den wachsenden Zynismus gegenüber der Moderne dar. Er meint: Um ihren Wert zu beurteilen, müssen wir zunächst klare Kriterien dafür entwickeln, was Fortschritt bedeutet, anschließend alle verfügbaren Daten auswerten und zuletzt aufrichtig Bilanz ziehen. Und die fällt furchtbar aus – aber nicht für die Gegenwart, sondern für die vormoderne Welt. Anhand von nicht weniger als 15 ausgewählten Kriterien, die jeweils in Unterkapiteln diskutiert werden, operationalisiert Pinker seine Vorstellung von Fortschritt. Fortschrittsverächtern entgegnet er: Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf reale Verbesserungen richten, tun wir das nicht zur Selbstbeweihräucherung, sondern um herauszufinden, welche Strategien in der Vergangenheit erfolgreich waren, damit wir noch mehr davon machen können. Trial and Error.

„Rassisten betreiben keine ergebnisoffene Forschung, sie imitierten lediglich Sprache und Form der Wissenschaft und kapern so deren Legitimationsressourcen.“

Damit grenzt sich Pinker von dem naiven Fortschrittsglauben ab, auf den auch hierzulande so gerne als Strohmann eingeprügelt wird: Er hält Fortschritt für real und möglich, aber auf keine Weise naturgesetzlich oder schicksalhaft. Nun lässt sich erfahrungsgemäß nur der kleinere Teil des Publikums vom weltweit dramatisch gestiegenem Wohlstand, zunehmender Lebensdauer, abnehmender Armut und gesunkener Kindersterblichkeit beeindrucken. Viele werden stattdessen denken: Aber hat nicht die Ungleichheit dramatisch zugenommen? Und wird nicht in Kürze ein katastrophaler Klimawandel all das hinwegfegen, was die Menschheit bis dato an Fortschritten erreicht haben mag? Ein großer Verdienst des Buches besteht darin, dass es nicht vor diesen schwierigen Fragen zurückschreckt, sondern auch hier bemerkenswerte Antworten liefert – man überzeuge sich selbst davon.

Den Abschluss bilden Essays zu den Themen Vernunft, Wissenschaft und Humanismus, genauer: Was sie sind, was sie nicht sind, und warum wir sie so dringend brauchen. Darin feuert Pinker scharfe Breitseiten gegen die an den geisteswissenschaftlichen Fakultäten verbreitete Wissenschaftskritik im Geist der Postmoderne. Für postmoderne Denker wie Michel Foucault, Zygmunt Bauman und Judith Butler, aber auch für viele Geisteswissenschaftler in der Tradition der Kritischen Theorie (Theodor Adorno usw.) sind insbesondere die modernen Naturwissenschaften perfide Unterdrückungsinstrumente der Mächtigen zulasten marginalisierter Gruppen. Prominentestes Beispiel: der Rassismus. Pinker hält entgegen, der Rassismus sei in Wirklichkeit ein Kind der Geisteswissenschaften. Seine frühesten und prominentesten Verfechter waren in aller Regel weder Ärzte noch Biologen, sondern Historiker und Philosophen. So etwa der Graf Gobineau oder Houston Steward Chamberlain, dessen antisemitische Schriften der junge Hitler bewunderte. Der deutsche Diktator lehnte den Darwinismus sogar explizit ab, da die gemeinsame Abstammung aller Menschen die rassischen Hierarchievorstellungen des Nationalsozialismus untergrub. Rassisten betreiben keine ergebnisoffene Forschung, sie imitierten lediglich Sprache und Form der Wissenschaft und kapern so deren Legitimationsressourcen.

Weiter wird in bester aufklärerischer Manier mit verbreiteten Missverständnissen aufgeräumt. So sind auch die Irrtümer der Vergangenheit kein sinnvolles Argument gegen wissenschaftliches Denken, denn: „Das Herzblut der Wissenschaft ist der Zyklus von Vermutung und Widerlegung. […]. Der Trugschluss ist das Unvermögen zu erkennen, dass die Wissenschaft ein zunehmendes Vertrauen in eine Hypothese zulässt, wenn sich die Beweise dafür summieren, und nicht den Anspruch auf Unfehlbarkeit beim ersten Versuch erhebt.“ (S. 391). Ebenso sind Wissenschaftler weder besonders edel noch unfehlbar: „Eine Bestätigung des wissenschaftlichen Denkens muss sich zunächst von jedem Glauben unterscheiden, dass Mitglieder der wissenschaftlichen Gemeinschaft besonders weise oder edel sind. Die Kultur der Wissenschaft basiert auf dem gegenteiligen Glauben“ (S. 390). Genau deswegen brauchen wir den ganzen Werkzeugkasten evidenzbasierter Methodik, insbesondere Peer-Reviews und saubere Statistiken. Überhaupt sind statistische Urteile der menschlichen Intuition weit überlegen, wie unzählige Experimente aus der Psychologie bewiesen haben. Allein diese Tatsache ist ein Nackenschlag für alle Postmodernisten und Freunde der Identitätspolitik, die nur zu gerne das Erfahrungswissen des Einzelnen gegen evidenzbasierte Daten in Stellung bringen.

„Wer Populisten und anderen Schwarzmalern die Stirn bieten will, muss zuerst aufhören, deren Verfallsnarrative zu unterfüttern.“

Ein konzeptionelles Problem des Buches liegt im – oft weitgehend synonymen – Gebrauch der Begriffe „Aufklärung“ und „Moderne“. Nicht immer ist dabei klar, ob es gerade um historische Periodisierung, soziologische Modernitätskonzepte oder eigene normative Setzungen geht. Aber Pinker ist weder Historiker noch Soziologe und für das, was er sich vorgenommen hat, sind seine Kenntnisse der einschlägigen Forschungsliteratur beachtlich. Pragmatismus ist angebracht, denn „Aufklärung Jetzt“ ist als politische Streitschrift angelegt, nicht als ideengeschichtlicher Fachaufsatz. Noch eher diskussionswürdig ist die Frage, inwieweit alle messbaren Errungenschaften und Fortschritte in der Moderne (hier: historische Epoche) wirklich als Resultat der Anwendung aufklärerischer Prinzipien verstanden werden können. So bemerkt Pinker im dritten Kapitel selbst: „Der Aufklärung folgte schnell eine Gegenaufklärung, und der Westen ist seitdem geteilt.“ (S. 29) Beispielsweise haben Teile der neuen sozialen Bewegungen seit den 1970ern mit irrationalen und antiaufklärerischen Ideen gearbeitet und können sich trotzdem Fortschritte ans Revers heften, die auch Pinker begrüßt: Verbesserungen bei der Gleichberechtigung der Geschlechter oder im Umweltschutz wären Beispiele.

Pinker kritisiert: Oft genug verhalten sich sowohl Bürger als auch Entscheidungsträger nicht wie lernfähige Akteure auf einem Marktplatz der Ideen, sondern eher wie die Mitglieder und Anhänger konkurrierender Fußballteams, die allein für die Aufrechterhaltung des „Wir-Gefühls“ an überkommenen Vorstellungen festhalten und ihre Rivalen um jeden Preis schlagen wollen: „Eine Herausforderung unserer Zeit ist es, eine intellektuelle und politische Kultur zu fördern, die eher von Vernunft als von Tribalismus und gegenseitiger Reaktion geprägt ist“ (S. 375). Den politischen Diskurs rationalisieren? Dieser Ansatz wird im 21. Jahrhundert vielen naiv erscheinen. Aber auch hier lohnt ein Blick auf das bereits erreichte: Ist es nicht in vielen Ländern gelungen, die einstmals selbstverständliche grobe Sprache und physische Gewalt weitgehend aus dem öffentlichen Raum zu verbannen? Warum sollte uns das nicht auch mit identitärem Tribalismus und postmoderner Pseudowissenschaft gelingen? Dies wäre allerdings ein Prozess, den kein freiheitlicher Staat erzwingen kann. Er muss aus der Zivilgesellschaft kommen.

Aufklärung in unserer Zeit heißt auch, dass wir alle einen vernünftigen Umgang mit Nachrichten erlernen müssen: Fernsehen, Presse und Soziale Netzwerke sind Medien der Problematisierung, die den Fokus auf all jenes richten, was in unserer Welt nicht funktioniert. Das ist auch richtig und wichtig, aber tragischerweise vermitteln sie genau dadurch kein ausgewogenes Bild der Realität. So schnappt die Falle der Verfügbarkeitsheuristik zu: Wir bewerten die Häufigkeit von Ereignissen danach, wie gut wir uns an sie erinnern können. Wer ein realistischeres Bild der Welt will, muss vor allem die Zahlen in den Blick nehmen. Letzten Endes beweisen diese nur eines: Die Prinzipien und Institutionen der Aufklärung sind nicht gescheitert, sie verdienen unser Vertrauen und fordern unser Engagement, weil ihr Potential zur Verminderung menschlichen Elends historisch beispiellos ist. Wer Populisten und anderen Schwarzmalern wirklich die Stirn bieten will, muss zuerst aufhören, deren Verfallsnarrative zu unterfüttern.

„Ist das hierzulande so heiß geliebte Vorsorgeprinzip vielleicht eine bloße Neuformulierung jenes bleiernen Traditionalismus?“

Sicherlich wird man Anstoß an der Tatsache nehmen, dass in „Aufklärung Jetzt“ menschliche Leidensschicksale gezählt und verglichen werden. Den Vorwurf kontert der Autor selbst souverän: „Die Quantifizierung dieses Elends ist keineswegs herzlos in Bezug auf das schreckliche Leiden der heutigen Opfer. Sie würdigt das Leid der Opfer von gestern und stellt sicher, dass die politischen Entscheidungsträger in ihrem Interesse handeln, indem sie von einem genauen Verständnis der Welt ausgehen.“ (S. 160) Der moralische Wert der Quantifizierung liegt eben darin, dass jedes Menschenleben als gleichwertig behandelt wird.

Wenn Pinker Recht hat, ging das größere Risiko in der Menschheitsgeschichte nicht vom Fortschritt aus, sondern von dessen Verhinderung. Selbst die größten Schrecken der modernen Welt können sich nicht mit dem Elend messen, welches die ungezähmte Gewalt von Hunger, Krankheit, Armut und bewaffneten Konflikten in der Vormoderne über ihre Opfer gebracht hat. Leider ist die Verklärung der Vergangenheit in den intellektuellen Milieus weiter en vogue. Hier ist „Fortschritt“ ein Synonym für die Flucht aus dem Paradies. So wundert sich Bruno Latour, der wahrscheinlich eloquenteste Vertreter des zeitgenössischen Öko-Postmodernismus, wovor die „Modernen“, diese „genialen Irren“, eigentlich davongelaufen wären.1 Der informierte Zeitgenosse weiß: Sie „flüchteten“ vor Hunger, Gewalt, Krankheiten und Armut.

Gewiss konnte auch die Moderne die Todesengel nicht vollständig aus der Welt schaffen, aber Pinker zeigt auf, wie spektakulär sie zurückgedrängt wurden. Für das deutsche Publikum ergibt sich daraus die besonders heikle und provokante Frage, ob das hierzulande so heiß geliebte Vorsorgeprinzip nicht eine bloße Neuformulierung jenes bleiernen Traditionalismus darstellt, welcher den Fortschritt über Jahrtausende verhindert hat. Man darf gespannt sein, was passiert, wenn die deutsche Ausgabe erscheint und die hiesigen Feuilletons das Feuer eröffnen. Viele werden Pinkers Datengrundlagen anzweifeln, aber keine besseren präsentieren können. Modernisierungskritik war von jeher meinungsstark und zugleich faktenschwach. Das Perfide an der Gegenaufklärung unserer Zeit ist, dass zu wenige ihrer Vertreter mit offenem Visier kämpfen. Hoffen wir also, dass sie sich durch dieses wichtige und kenntnisreiche Buch ausreichend provoziert fühlen.

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