01.03.2021

Die Traumwelt zum Platzen bringen

Rezension von Kolja Zydatiss

Politiker wollen nicht mehr gestalten und glauben an eine simple, selbstgeschaffene Pseudorealität, argumentiert Adam Curtis. Seine neue Dokureihe erklärt, was das mit dem Populismus zu tun hat.

„Querdenker“ ist ein übermäßig gebrauchtes und mittlerweile ziemlich abgeschmacktes Etikett. Adam Curtis ist ein Journalist, bei dem es ausnahmsweise einmal sehr berechtigt ist. Der britische Filmemacher, seit den 1980er Jahren bei der öffentlich-rechtlichen BBC angestellt, entwickelte in letzten Jahrzehnten einen einzigartigen, unverkennbaren Stil. Sorgsam ausgewähltes, oft faszinierendes, grelles oder verstörendes Filmmaterial aus den Archiven der BBC und nicht weniger eindringliche Musikstücke aus verschiedensten Genres und Jahrzehnten werden zu stundenlangen beinahe hypnotischen Kollagen zusammengeschnitten, über die Curtis in seiner sachlichen, autoritativen Nachrichtensprecherstimme eine Erzählung spricht.

Der rote Faden, der all seine Werke durchzieht, ist die Frage der Macht. Genauer gesagt, wie Menschen Ideen aus der Soziologie, Psychologie, Philosophie oder Ökonomie sowie historische Mythen benutzen und gegebenenfalls abwandeln, um Macht zu erlangen oder zu behalten.

Im Vierteiler „The Century of the Self“ (2002) zeigte Curtis, wie Sigmund Freuds Theorien über das Unterbewusstsein zur Entstehung der Public-Relations-Branche führten und bis heute benutzt werden, um in westlichen, vermeintlich demokratischen Gesellschaften „die Massen“ zu managen. In der Trilogie „The Power of Nightmares“ (2004) beleuchtete der Filmemacher die nach seiner Ansicht symbiotische Beziehung zwischen Islamisten und amerikanischen Neokonservativen und wie westliche Politiker es mittlerweile einfacher und bequemer finden, Ängste in der Bevölkerung zu schüren, als Visionen für eine bessere Zukunft zu entwickeln.

„Politiker haben seit ungefähr den 1970er Jahren aufgegeben, die Komplexität der realen Welt und vor allem des globalen Kapitalismus verstehen und gestalten zu wollen.“

„Bitter Lake“ (2015) zufolge werden die einfachen „Gut-gegen-Böse“-Erzählungen bestimmter westlicher Politiker den komplexen Realitäten in der islamischen Welt nicht gerecht; viele islamistische Terrorgruppen haben in Wirklichkeit ihren Ursprung in der Jahrzehnte währenden Allianz zwischen den USA und Saudi-Arabien. Parallelen zwischen dem heutigen Westen und der Stagnation und Ernüchterung, die die letzten Jahrzehnte des real existierenden Sozialismus kennzeichneten, zog Curtis in „HyperNormalisation“ (2016). Und das sind nur einige der fesselnden Dokumentationen oder Serien, die der äußerst produktive Filmemacher im Laufe seiner fast vier Jahrzehnte umspannenden BBC-Karriere geschaffen hat.

Zu drei Themen kehrt Curtis in seiner Arbeit immer wieder zurück: 1. Viele Menschen sind mit dem politischen Status Quo unzufrieden, aber trotzdem ändert sich nichts. 2. Politiker haben seit ungefähr den 1970er Jahren aufgegeben, die Komplexität der realen Welt und vor allem des globalen Kapitalismus verstehen und gestalten zu wollen, und präsentieren der Öffentlichkeit stattdessen (mit Hilfe von Journalisten) eine verzerrte und stark vereinfachte „Traumwelt“ bzw. simplizistische Moralerzählungen. 3. Der von den heutigen Eliten vertretene Freiheitsbegriff ist ein sehr verarmter und pessimistischer, der aus dem Menschenbild der Verhaltensökonomik hervorgegangen ist, wonach Menschen selbstsüchtige, fast roboterhafte Kreaturen seien.

Nun hat Adam Curtis mit „Can't Get You Out of My Head: An Emotional History of the Modern World” (Du gehst mir nicht aus dem Kopf: Eine emotionale Geschichte der modernen Welt) einen Sechsteiler vorgelegt, der in gewisser Hinsicht eine Fortsetzung von „HyperNormalisation“ ist. Der Filmemacher beschäftigt sich hier mit den komplexen Wechselwirkungen zwischen der (primär westlichen) Idee des Individualismus und radikalen, kollektiven Gesellschaftsvisionen in ihrer linken und rechten Ausprägung. Von Curtis‘ vorherigen Werken unterscheidet sich die Serie vor allem dadurch, dass sie neben dem Westen auch einen intensiven Blick auf Russland und China wirft.

„So eingeigelt hatten sich die Eliten in Vereinfachungen und Halbwahrheiten, dass sie auch das Aufkommen des Populismus nur durch die Brille einer simplizistischen Verschwörungstheorie interpretieren konnten: Putin hätte die Wähler aufgestachelt.“

In all diesen drei Gesellschaften, konstatiert Curtis, regiert heute das Geld. Niemand kann genau sagen, wofür diese Gesellschaften eigentlich stehen sollen. Ihre Anführer wirken gelähmt und schaffen es kaum, ansprechende Zukunftsvisionen zu formulieren. In China versuchte man nach der marktwirtschaftlichen Öffnung unter Deng Xiaoping, die Bevölkerung durch die Wiedereinführung revolutionärer sozialistischer Losungen und Rituale zu mobilisieren und zu einen, merkte aber schnell, dass dies wenig glaubwürdig war. Forderungen nach Demokratie schlug man nieder, und heute geht es der chinesischen Führung laut Curtis vor allem darum, die Bevölkerung des Riesenreiches mittels Überwachungstechnik und des sogenannten Sozialkredit-Systems irgendwie in Schach zu halten.

In Russland wurde Wladimir Putin, eigentlich ein farbloser Apparatschik mit wenig eigenen Überzeugungen, von der radikalen Nationalbolschewistischen Partei und später auch von dem Oppositionspolitiker und Antikorruptionsaktivisten Alexei Nawalny unter Druck gesetzt. Er sah sich bemüßigt, seinem oligarchischen und zutiefst korrupten System eine Art nationalistische, anti-westliche Ideologie überzustülpen, die allerdings kaum überzeugender ist als die der chinesischen KP.

Im Westen machte sich bereits in den 1950er Jahren ein unterschwelliges Unbehagen breit. Die konservativen Hausfrauen in den amerikanischen Vororten betäubten ihr Gefühl der inneren Leere mit Valium. Manche Bürger, vor allem Angehörige ethnischer Minderheiten, schlossen sich extremistischen Bewegungen wie der Black Panther Party an. Letztlich ließen sich die vermeintlich radikalen, aber in Wahrheit oft ziemlich narzisstischen Vorstellungen der Neuen Linken jedoch leicht in das moderne Machtsystem aus (Finanz)Kapitalismus und Konsum integrieren oder liefen ins Leere.

„Der Filmemacher befürchtet die Entstehung einer Gesellschaftsordnung, in der die Ideen von ‚Individualismus‘ und individueller Freiheit vollständig verschwinden.“

Mit der grassierenden Deindustrialisierung und Arbeitslosigkeit wurde, zumindest in den USA, der Missbrauch von Opioid-Schmerzmitteln endemisch. Doch trotz solcher Alarmsignale nahm sich das politische Establishment der Anliegen und Sorgen der gebeutelten Arbeiter- und Mittelschicht kaum an. Laut Curtis hatte es die Seiten gewechselt, und betrachtete sich nicht mehr als Repräsentant „des Volkes“. Stattdessen vertraten die Politiker die Interessen des Großkapitals sowie des aufgeblähten bürokratischen Apparats, der in den bürgerfernen Strukturen der EU eine besonders problematische Form annimmt.

Als die Wähler in Großbritannien für den Brexit stimmten, und in den USA für Donald Trump, fielen die linksliberalen Eliten aus allen Wolken. Sie hatten begonnen, an die ursprünglich aus instrumentellen Gründen geschaffene „Traumwelt“ zu glauben, und nahmen offenbar wirklich an, die westlichen Gesellschaften seien stabil und entwickelten sich in eine aus ihrer Sicht positive Richtung. So eingeigelt hatten sie sich in Schicht über Schicht von Vereinfachungen und Halbwahrheiten, dass sie laut Curtis auch das Aufkommen des Populismus nur durch die Brille einer simplizistischen Verschwörungstheorie interpretieren konnten: Putin hätte die Wähler mittels „Fake News“ in den sozialen Medien aufgestachelt.

Doch auch die Populisten, die das Establishment herausfordern, leben für Curtis in einer Art Traumwelt. Die vermeintliche Vision von konservativen Vordenkern wie dem ehemaligen Trump-Berater Steve Bannon, dem Brexit-Party-Anführer Nigel Farage oder dem in Ungnade gefallenen Chefstrategen von Boris Johnson, Dominic Cummings, sei wenig mehr als nostalgische Sehnsucht nach den „guten alten Zeiten“, im Falle von Cummings gepaart mit einem utopischen Glauben an die Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz. Auch rechts gediehen Verschwörungstheorien, etwa die Vorstellung, führende Politiker der Demokraten seien Pädophile, die sich das Blut von Kindern injizierten.

„Wir müssten gegen psychologische Theorien rebellieren, die uns sagten, wir seien schwach und manipulierbar.“

Wohin treibt die Welt? Für Curtis steht der Westen in der Coronakrise an einem Scheideweg. Der Filmemacher befürchtet die Entstehung einer Gesellschaftsordnung, in der die Ideen von „Individualismus“ und individueller Freiheit vollständig verschwinden – wie in China. Eine andere Möglichkeit ist die Restauration des linksliberalen Paternalismus (die Wahl Joe Bidens deutet in diese Richtung). Oder es entsteht etwas komplett Neues. Aber was?

In einem ziemlich radikalen Schlussplädoyer, bei dem ich ein wenig überrascht bin, dass es von der BBC überhaupt gesendet wurde, ruft der Filmemacher zu Selbstbewusstsein und Mündigkeit auf. Wir müssten gegen psychologische Theorien rebellieren, die uns sagten, wir seien schwach und manipulierbar: „Vielleicht sind wir tatsächlich viel stärker als wir denken.“ Curtis schließt mit einem Zitat des kürzlich verstorbenen Kulturanthropologen und anarchistischen Publizisten David Graeber: „Die ultimative, verborgene Wahrheit der Welt ist, dass sie etwas ist, das wir machen, und ebenso gut anders machen könnten.“

Mit „Can’t Get You Out of My Head“ hat Adam Curtis eine Dokureihe in seinem typisch impressionistischen, zum Teil leider etwas vagen und zusammenhangslosen Stil geschaffen, die allerdings dennoch eine klare Botschaft hat. In einer Welt gesichtsloser Bürokratien, orientierungsloser, weltfremder und immer autokratischer agierender Regierungen und vermeintlich „alternativloser“ Markt- und Globalisierungsimperative bricht der Filmemacher eine Lanze für die Freiheit und Mündigkeit des Individuums und für demokratische Politik als kollektive Selbstbestimmung. Prädikat: Sehenswert.

„Can't Get You Out of My Head: An Emotional History of the Modern World - Part 1: Bloodshed on Wolf Mountain“, BBC Film, Februar 2021.

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