12.09.2018
Antipopulismus und Europas Kulturkampf
Von Alexander Horn
Ob Ungarn und Polen ihr Stimmrecht in der EU behalten, soll heute im Europaparlament entschieden werden. Ein Buch von Frank Furedi rückt den Wert nationaler Souveränität in den Blick.
Die EU droht, die „juristische Atombombe“ nach Artikel 7 des EU-Vertrages gegen Polen und Ungarn zu zünden. Beiden Ländern soll dadurch das Stimmrecht in den EU-Gremien entzogen werden, denn sie würden in „schwerwiegender Weise die Grundwerte der Europäischen Union verletzen“. Der zuständige Ausschuss des Europaparlaments beklagt, dass in Ungarn „Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit und die Freiheit akademischer Organisationen“ so gravierend eingeschränkt seien, dass dies die Anwendung von Artikel 7 als letztes Mittel rechtfertige. Am heutigen Mittwoch könnte das Europaparlament mit einer Entscheidung die Eskalation des Konflikts weiter vorantreiben.
Die von den EU-Eliten vorgetragenen Vorwürfe berühren, wie der aus Ungarn stammende britische Soziologe Furedi in seinem brillanten Buch „Populism and the European Culture Wars“ darlegt, nur die Oberfläche des Konflikts zwischen der EU und der ungarischen Regierung. In der Sache laufen die Anschuldigungen der sich als liberal begreifenden politischen Eliten vollkommen ins Leere, denn die Praxis in den anderen EU-Staaten weicht in der Substanz nicht von den kritikwürdigen Praktiken der ungarischen Regierung ab, wie Furedi unter anderem am Thema Presse- und Meinungsfreiheit zeigt.
Auch ignorieren viele links-liberale Kritiker gerne, dass das ungarische Grundgesetz in einem parlamentarischen System entwickelt wurde, das aus freien Wahlen hervorgegangen ist und von einer Regierung mit einem überwältigenden demokratischen Mandat beschlossen wurde. Zwar bekräftige Ungarns Verfassung traditionelle sowie konservative Werte und sei in Teilen explizit illiberal, so Furedi. Entgegen der Ansicht vieler Kritiker ist sie jedoch keineswegs antidemokratisch, sondern begründet eine parlamentarische Republik mit einer Kammer, die auf Gewaltenteilung und der Wahrung demokratischer Grundrechte beruht.
Des Kaisers neue Kleider
Wie also erklären sich die heftigen Attacken der EU gegen Ungarn und speziell Viktor Orbán, den Ministerpräsidenten und Parteivorsitzenden der nationalkonservativen Fidesz? Furedi zeigt, dass die europäischen Eliten einen Kulturkampf führen, der die Form eines antipopulistischen Kreuzzugs angenommen hat. Im Zentrum dieses Kulturkampfs steht die Frage nach nationalstaatlicher Souveränität. Fidesz stellt einen positiven Bezug zur ungarischen Nation her und baut damit einen direkten Gegenpol zum Kosmopolitismus der EU auf. Hinzu kommt die Besetzung konservativer Werte, von denen sich die westlichen christdemokratischen Parteien seit Jahrzehnten sukzessive entfernt haben.
„Die EU ist gegenüber vielen Werten, die von der europäischen Renaissance oder der Aufklärung hochgehalten wurden, regelrecht feindlich eingestellt.“
Das Problem für die EU besteht dabei nicht nur darin, dass die Ungarn explizit auf traditionelle Werte setzen. Alleine durch die Tatsache, dass sie die EU in eine Wertediskussion hineinziehen, haben die Ungarn in ein Wespennest gestochen. Um dies zu verdeutlichen, analysiert Furedi die extrem schwache Legitimationsbasis der europäischen Institutionen. Die EU und deren institutionelle Vorläufer nach dem Zweiten Weltkrieg waren nicht in der Lage, ihre Rolle normativ zu legitimieren. Es fehlt an einer expliziten auf überzeugenden Werten basierenden moralischen Fundierung ihres Projekts. Stattdessen beruht die Zustimmung der Europäer zur EU im Wesentlichen auf der Gewährleistung von wirtschaftlichem Wohlstand und der Autorität einer sachverständigen Technokratie. Typisch hierfür ist die Formulierung des ehemaligen Präsidenten der EU-Kommission, José Manuel Barroso, der von einer „impliziten Zustimmung“ der Bürger gegenüber der EU sprach. In Furedis Augen reicht das nicht aus, um eine politische Ordnung dauerhaft zu sichern.
Die schwache Legitimationsbasis der EU wird bereits lange als Problem erkannt und thematisiert, ohne jedoch einer Lösung näher zu kommen. Bis in die 1990er Jahre resultierte daraus kein akutes Autoritätsproblem, da die Systemkonfrontation im Kalten Krieg – vor allem das Negativbespiel Sowjetunion – dieses Legitimationsdefizit überdeckte. Trotz vieler Anläufe gelang es der EU nicht, dieses Legitimitätsproblem durch die Anknüpfung an positiv empfundene europäische Traditionen und Werte zu lösen. Im Gegenteil war das Projekt der europäischen Einigung von dem Wunsch geprägt, das geschichtliche Erbe zu verwerfen. Diese Herangehensweise wird von Verteidigern der EU wie dem Philosophen Jürgen Habermas ideologisch untermauert. Er betont die Wichtigkeit eines post-nationalen und post-traditionellen Politikverständnisses als Lektion aus Erfahrung zweier Weltkriege, von Faschismus und Holocaust. Dieser Ansatz – so Furedi – habe in verhängnisvoller Weise dazu beigetragen, mögliche positive Anknüpfungspunkte zur europäischen Geschichte vor 1945 in Frage zu stellen.
Die EU ist gegenüber vielen Werten, die von der europäischen Renaissance oder der Aufklärung hochgehalten wurden, regelrecht feindlich eingestellt, was sich etwa in ihrer Skepsis gegenüber dem demokratischen Ideal der Volkssouveränität oder ihrer Unterstützung der anti-individualistischen Identitätspolitik ausdrückt. Aber auch Tradition und Nation werden per se als problematisch betrachtet, so dass über diese Werte keine fruchtbare oder konstruktive Auseinandersetzung möglich scheint. Die aggressive Reaktion der EU gegenüber Ungarn erklärt sich demnach nicht aus kontroversen politischen Auffassungen etwa zur Meinungsfreiheit oder zu verfassungsrechtlichen Fragen. Sie resultiert vielmehr aus der kaum vorhandenen moralisch-historischen Fundierung der EU-Eliten, die Orbans selbstbewusst artikulierten christlich-konservativen und „illiberalen“ Nationalismus als Bedrohung ihrer schwachen Position fürchten.
„Bewegungen, die Werte-Fragen aufwerfen oder gar die demokratische Volksherrschaft als Wert betonen, werden typischerweise als populistisch stigmatisiert.“
Hinsichtlich ihrer moralischen Legitimation erinnern die EU-Eliten an den nackten Kaiser in Hans Christan Andersens Märchen „Des Kaisers neue Kleider“. Da der moralische Bezugsrahmen der EU-Protagonisten brüchig und auch in den eigenen Reihen kontrovers diskutiert wird, gilt es, die Diskussion alternativer Wertvorstellungen möglichst im Keim zu ersticken. Bewegungen, die Werte-Fragen aufwerfen oder gar die demokratische Volksherrschaft als Wert betonen, sind daher eine unmittelbare Bedrohung für die Legitimität der EU und werden typischerweise als populistisch stigmatisiert. Der Soziologe Furedi nennt dieses Vorgehen einen „anti-populistischen Skript“.
Kosmopolitismus statt Nationalismus
Einen wesentlichen Einfluss auf das post-nationale Selbstverständnis der EU-Eliten hatte der in den 1990er Jahren aufkommende Kosmopolitismus. Die Theoretiker des Kosmopolitismus, zu denen neben dem bereits erwähnten Jürgen Habermas auch der einflussreiche deutsche Soziologe Ulrich Beck gehörte, betonten die Minderwertigkeit des nationalen gegenüber dem transnationalen Bewusstsein. Der Kosmopolitismus betont die kulturelle Diversität als einen Wert, der gegen die veraltete und vermeintlich monolithische nationale Identität in Stellung gebracht wurde. Wie Furedi erklärt, wurde Diversität zu einem zentralen europäischen Wert, der später zur Schwächung nationaler Kulturen diente. Nationalbewusstsein wird aus dieser Warte als Bedrohung für Minderheitengruppen interpretiert und gilt seitdem als potenzielle Vorstufe für nationale Rivalitäten, Krieg oder Faschismus.
Für das Selbstverständnis und das Wertegefüge der EU ist daher die von Fidesz vorangetriebene Revitalisierung nationaler Identität und nationaler Souveränität eine extreme Herausforderung. Die EU-Eliten, wie auch die EU-freundliche ungarische Opposition, haben lange versucht, die Rückbesinnung auf die ungarische Geschichte zu vereiteln. Wie Furedi ausführt, war es nach dem Zusammenbruch des Stalinismus in Osteuropa ein wesentliches und durchaus angstgetriebenes Anliegen des kulturellen und politischen Establishments, die Rückkehr zum Nationalismus zu verhindern und die Entwicklung der Demokratie voranzutreiben. In der Zeit nach dem Regimewechsel versuchten linke und liberale Politikzirkel Ungarns ihre Autorität durch ein enges Verhältnis mit dem Westen zu stärken, was auch für lange Zeit gelang. Die antinationalistische Kultur einer informellen Allianz zwischen der EU-Führung und den links-liberalen ungarischen Kreisen, entfernte diese aber zunehmend von den gesellschaftlichen Realitäten und provozierte eine Reaktion konservativer Nationalisten. Die Feindschaft der ungarischen Linksliberalen gegenüber nationalen Empfindungen passte gut zur Neigung der EU, Diversität und die Rechte von Minoritäten voranzubringen, um so ein Gegengewicht zur Autorität der Nation zu bilden. Die Bekräftigung der Identitätspolitik, gepaart mit der Abwertung der nationalen Gefühle, konstituierte den Dreh- und Angelpunkt eines zunächst „nicht erklärten Kulturkrieges“ (S. 109) in dem sich nun die EU-Eliten gemeinsam mit der links-liberalen ungarische Opposition der Fidesz feindlich gegenüberstehen.
Die moralische Abwertung des Demos
Furedi spürt in den abschließenden Abschnitten des Buches den tieferen Wurzeln des aggressiven Antipopulismus der etablierten Eliten nach. Bereits während des Zweiten Weltkriegs wies der österreich-ungarischen Philosoph und Soziologe Karl Mannheim auf eine Wertkrise und die Schwierigkeiten hin, die das liberale Denken mit Bezug auf Werte hatte. Mannheim glaubte, dass die Gesellschaften an etwas Greifbares glauben müssten und dass die Demokratie mit überzeugenden Argumenten aufwarten müsse, welche Werte für das Leben der Menschen relevant wären. Bis heute, so Furedi, sei kaum der Versuch gemacht worden, die von Mannheim aufgeworfenen Fragen zu beantworten. Im Gegenteil wurde ihnen ausgewichen, so dass wir heute an einem Punkt angekommen seien, wo die von Mannheim noch als selbstverständlich verankert angenommenen „Traditionen westlicher Zivilisation“, heute nicht mehr als gegeben vorausgesetzt werden können. Wie die politische Philosophin Hannah Arendt erkannte, hatte sich daraus bereits in den 1950er Jahren eine Krise der Autorität entwickelt. Diese manifestierte sich dann in den 1960er Jahren, als die westlichen Gesellschaften nicht über die moralischen Ressourcen zur Verteidigung ihres Lebensstils verfügten und es zu einer weitreichenden, alle Lebensbereiche erfassenden antiautoritären Revolte kam. Bereits der Begriff der Autorität als solcher galt nunmehr als problematisch.
„Die größte Gefahr für die Demokratie geht heute von denjenigen aus, die die nationale Souveränität unterminieren.“
Aus der fehlenden Fundierung von Autorität erklärt sich, wie Furedi analysiert, die antipopulistische Gesinnung. Das antipopulistische Ethos besteht in dem Versuch, das Problem der Autorität abzuschwächen, indem der moralische Status der Masse in Frage gestellt wird, also derer, die die Autorität akzeptieren sollen. Typisch hierfür war die nach dem 2. Weltkrieg ausgetragene Auseinandersetzung um den „autoritären Charakter“. Der Philosoph Theodor Adorno, einer der Gründer der Kritischen Theorie, argumentierte, dass Menschen unvermeidlich Autoritäten folgen, selbst wenn diese gegen deren eigene Interessen agieren. Dieses Denken klingt bei vielen heutigen antipopulistischen Kommentatoren nach, die davon überzeugt sind, dass das Volk kaum in der Lage ist, die eigenen Interessen zu verstehen, und dass dessen irrationale Emotionen mit Leichtigkeit von populistischen Demagogen manipuliert werden. Furedi weist darauf hin, dass antipopulistisches Denken so alt ist wie die Demokratie selbst. Die antipopulistische Theorie entwickelte sich ursprünglich in der Athener Polis. Bereits Denker wie Aristoteles oder Platon warnten vor „zu viel“ Demokratie. Die „Herrschaft der Wenigen“ (Oligarchie) sei der „Herrschaft der Vielen“ vorzuziehen, weil letztgenannte zu leicht von Demagogen zu manipulieren seien.
Die heutige EU-Oligarchie wird ebenfalls von diesem antipopulistischen Ethos getrieben, der den Bürgern, insbesondere wenn sie nationale Souveränität einfordern oder auf einer nationalen Kultur beharren, die moralische Reife abspricht. Typisch für diese Abwertung ist die Gleichsetzung der Ablehnung der EU mit folgenschwerem Nationalismus, der vermeintlich notwendigerweise zum Krieg führt, wie der damaligen EU-Ratspräsident, Herman Van Rompuy 2010 in einer Rede in Berlin mutmaßte. Er sagte, der größte Feind im heutigen Europa sei die Angst. Diese wiederum führe zu Egoismus, „Egoismus führt zum Nationalismus und Nationalismus führt zum Krieg.“ Furedi setzt dem entgegen, dass nationale Souveränität trotz ihrer Beschränkungen einen wesentlich demokratischeren und sinnstiftenderen Rahmen bietet, als dies durch die transnationalen Institutionen möglich ist, die von den Kosmopoliten der EU favorisiert werden. Die größte Gefahr für die Demokratie geht heute daher nicht von denjenigen aus, die auf nationaler Souveränität beharren, sondern von denjenigen, die sie unterminieren.