12.06.2015

Essen zwischen Genuss und Sünde

Rezension von Christoph Lövenich

Durch Ernährungsmoral und Lebensmittelpanik bleibt der Genuss oft auf der Strecke. Zwei österreichische Bücher plädieren aktuell für einen unverkrampfteren, vernünftigeren Umfang mit Speis und Trank. Eine Doppelrezension

Früher war man froh, wenn man etwas zu beißen hatte, heute gibt es Veganer, „Foodies“, „Kulinariker“, „Orthodiätiker“ und andere esstechnische Orientierungen. [1] Ernährungswissenschafterin Hanni Rützler und Kulturjournalist Wolfgang Reiter versprechen im Untertitel ihres Buches Muss denn Essen Sünde sein? eine Orientierung im Dschungel der Ernährungsideologen. Die Ernährungspublizistin und -dozentin Marlies Gruber verheißt in Mut zum Genuss gar Gesundheit, Glück und gutes Leben durch Essen und Trinken. [2]

Alle Autoren sind Österreicher, und das muss kein Zufall sein. Der österreichische Philosoph Robert Pfaller hat in den letzten Jahren das Thema Genuss aus einer Perspektive auf die Agenda gebracht, die in seinem Heimatland wohl auf noch fruchtbareren Boden gestoßen ist als anderswo im deutschsprachigen Raum. In beiden Werken werden Pfaller und ältere Philosophen zitiert, beide Bücher beklagen einen verkrampften Umgang mit leiblichen Genüssen in westlichen Gesellschaften. Rützler und Reiter lehnen „Essmarotten mit der Beschwörung von Reinheit“ [3] ab, Gruber stellt sich der „puritanischen Lust- und Genussfeindlichkeit“ [4] entgegen.

Die Moralisierung des Essens und Trinkens überlädt die Nahrungsaufnahme mit Schuldgefühlen. Diese beruhen oftmals auf Fehleinschätzungen, zu denen irreführende Medienberichterstattung und fragwürdige Empfehlungen der Ernährungsgesellschaften beitragen. Dadurch können Essstörungen entstehen. Ferner dient ideologisches Essverhalten als soziokulturelles Distinktionsmerkmal und verleitet zum gutmenschlichen Missionierungseifer. [5]

„Ideologisches Essverhalten verleitet zum Missionierungseifer“

Zu den Unterschieden zwischen den beiden Büchern gehört, dass nur Rützler und Reiter sich der Fleischfrage näher widmen. Sie sehen Veganer als so religiös fixiert wie z.B. orthodoxe Juden, und daher ebenso geneigt, wegen ihrer Speisevorschriften unter sich zu bleiben. Bei Veganern werden häufiger psychische Krankheiten diagnostiziert als in der übrigen Bevölkerung, wobei die Autoren den gestörten Geist weniger als Folge denn vielmehr als Ursache der strikten Essbegrenzung begreifen. [6] Dass sich manche Veggies vom Fleischverzehr anderer so gestört fühlen, wie man dies von militanten Antirauchern kennt [7], bestätigte sich kürzlich durch einen gewaltsamen Vorfall in Deutschland – in Oberbayern bedrohte und attackierte ein Vegetarier im Zug Mitreisende, da diese eine fleischhaltige Mahlzeit zu sich nahmen. [8]

Das ganze Trara um Tierrechte erachten Rützler und Reiter als „Negation der Zivilisation“ [9], deren Errungenschaften nicht zuletzt auf der Nutzung von Lebewesen basieren. Zwar sei die Massentierhaltung im Hinblick auf artgerechtes Leben der Nutztiere problematisch, dies müsse allerdings politisch gelöst werden statt durch individuellen Konsumverzicht. [10] Sie stellen zudem selbst bei Fleischessern einen „zunehmenden Ekel vor Blut, Tod und Fleisch“ [11] fest, der sich im Verzicht auf als erkennbar vom Tier stammende Produkte offenbart. Hier hat sich der Mensch von der überlieferten Selbstverständlichkeit der Tierproduktion entfremdet, will wohl vor dem Archaischen fliehen. [12]

So entsteht auch viel unbegründete Angst und irrationale Panik vor Vergiftung durch Lebensmittel. [13] Bei heutigen Nahrungsmitteln wird oft nicht mehr mit dem vorhandenen Inhalt geworben, sondern mit dem fehlenden. Laktosefrei soll es sein, glutenfrei, vegetarisch oder vegan, fettarm und kalorienreduziert. Die Bezeichnung „Free Froms“ umfasst jene „Essbewegten“, denen es nur darauf ankommt, dass ihre Speise „frei von“ allem Möglichen zu sein haben [14], auch wenn sie selbst über die Bedeutung der verschmähten Stoffe gar nicht orientiert sind. Ein Übel besteht für Rützler und Reiter ohnehin darin, dass wir in einer „Meinungsgesellschaft“ [15] leben, die nicht gerade vor Ernährungswissen strotzt. Laktose, Fruktose und Gluten sind völlig natürliche Stoffe, auf die auch nur die Wenigsten wirklich (und nicht nur eingebildet) allergisch sind, zumal noch die Dosis bzw. die Verteilung über den Tag eine Rolle spielen. [16]

„Glutamat macht den Reiz der italienischen Küche aus“

Gänzlich zu Unrecht einen schlechten Ruf genießt Glutamat. Dabei handelt es sich nicht automatisch um einen künstlichen Zusatzstoff, der dem bizarren „Natürlichkeitswahn“ [17] und dem „‚Bio-Schmäh‘“ [18] im Wege stünde, sondern um einen normalen Bestandteil vieler Lebensmittel wie Käse, Pilze oder Algen. Der entgegen landläufiger Meinung gesundheitlich unbedenkliche und nicht allergene Stoff wird zwar oft mit ostasiatischen Restaurants assoziiert, Gruber vermutet aber angesichts seines Vorkommens in Champignons, Tomaten, Rohschinken, Parmesan usw., dass Glutamat auch den Reiz der italienischen Küche ausmachen könnte. [19]

Auch mit anderen Mythen räumen die beiden Bücher auf: Zucker macht weder dick noch süchtig noch zuckerkrank. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat kürzlich ihre empfohlene Höchstmenge für den Zuckerkonsum halbiert, obwohl wissenschaftlich überhaupt keine Obergrenze definierbar ist. Energydrinks stehen auf den Abschlusslisten paternalistischer Kreise, obwohl ein 65 Kilogramm schwerer Jugendlicher sich bis zu zweieinhalb Tassen davon pro Tag einverleiben kann, ohne dass gesundheitliche Bedenken bestünden. Von einer salzarmen Ernährung, wie von der Obrigkeit vielfach propagiert, würde die übergroße Bevölkerungsmehrheit wohl gar nicht profitieren, Cholesterin erhöht wahrscheinlich nicht das Schlaganfallrisiko, der BMI-Grenzwert für bedenkliches „Übergewicht“ liegt deutlich zu niedrig, und Fett alleine macht nicht „fett“. [20] Fast Food kann nicht generell als ungesund eingestuft werden, der Nutzen zusätzlicher Vitamineinnahme muss als fraglich gelten, die Angst vor Pestizidrückständen in der Nahrung ist unbegründet. [21] Interessante Fakten, die den Ernährungsaposteln und Diätgurus schwer im Magen liegen dürften.

Das im Zusammenhang mit den Verhandlungen über das Freihandelsabkommen TTIP berühmt gewordene Chlorhühnchen erhält auch die Absolution. Chlordesinfektion bringt eher Gesundheitsnutzen mit sich, diverse Tiertränken werden ohnehin mit Chlordioxid gereinigt (auch im Bio-Landbau). Nicht einmal vom Schwimmbadbesuch (gechlortes Badewasser) muss abgeraten werden. [22]

„Das Chlorhühnchen erhält die Absolution“

Grubers Buch liest sich dabei stärker als Gesundheitsratgeber und wirkt weniger politisch als das Werk Rützlers und Reiters. Andererseits versieht Gruber ihre Empfehlungen häufiger mit empirischem Datenmaterial, auch aus der von ihr initiierten Genussbarometer-Umfrage. Beide betonen ein Verständnis des Kulinarischen bzw. des Genusses als zu erlernende Kulturtechnik. Rützler und Reiter kritisieren in dem Zusammenhang die deutschen Ernährungswissenschaftler Uwe Knop und Udo Pollmer für ihren jeweiligen Ansatz der Kulinarischen Körperintelligenz bzw. des Darmgehirns, der ihnen offenbar zu primitiv erscheint. [23] Statt nur auf den Körper zu hören, soll man in kantianischer Weise sein Geschmacksurteil „in der kulinarischen Praxis und im aufwendigen Diskurs mit anderen“ [24] bilden und dabei die eigene sozialisatorische Vorprägung überwinden können.

Dass sie sich selbst als Teil einer „Genusselite“ [25] begreifen, zeigt die elitäre Schlagseite dieser Argumentation. Man ist offenbar in der Welt der Sommeliers und der Mehr-Gänge-Menüs zu Hause und blickt ein wenig herab auf diejenigen gesellschaftlichen Kreise, denen Sättigung und bodenständigere Genüsse Befriedigung bereiten. Gruber fordert ein „Finetuning der Sinne“ [26], durch das eine „kulinarische Bibliothek im Kopf“ [27] entstünde. Dabei bezieht sie sich auf die Sinneswahrnehmungen schulende sog. Euthyme Therapie. Wer aber wie sie „jede Mahlzeit als kleine Trainingseinheit“ [28] hierfür betrachtet, läuft Gefahr, den Genuss zu überfrachten und therapeutisch zu erdrücken.

Zuzustimmen ist den Autoren jedoch in der grundlegenden Analyse, dass „abgeschliffen, eingepasst, ordentlich und kontrolliert – fremdbestimmt zu leben, gänzlich einem guten Leben [widerspricht]“ [29] und im antipaternalistischen Credo, „[d]en Anspruch auf Freiheit […] wieder zu erheben“ [30]. Das gilt in der heutigen Welt der Ernährungsmoralisierung und Lebensmittelpanik eben auch und nicht zuletzt am Esstisch.

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