13.02.2014

Man will uns den Mund verbieten

Essay von Christoph Lövenich

Die Regulierung privater Lebensgewohnheiten wie Tabakkonsum und Ernährung trägt neopuritanische Züge. Der moderne Gesundheitswahn untergräbt die wissenschaftliche Integrität ebenso wie die gesellschaftliche Vielfalt.

„Schluss mit Rauchen, Fleisch und Alkohol – Will der Staat uns umerziehen?“, lautete die rhetorische Frage, mit der im August 2013 eine Ausgabe der ARD-Talkshow „Menschen bei Maischberger“ [1] betitelt wurde. Damit sind schon drei wesentliche Bereiche benannt, die in zunehmender Weise staatlicher Regulierung unterliegen (sollen), nämlich Essen, Trinken und Tabakrauchen. Dabei handelt es sich um grundlegende Handlungen der privaten Lebensführung, ja der intimen Entscheidung, was man in seinen Körper hineinlässt, die zum Gegenstand der obrigkeitlichen Einmischung geworden sind.

Gegen diese oralen Genüsse des Menschen, ob nun fest, flüssig oder gasförmig, hat sich ein regelrechtes Pharisäertum herausgebildet. Schon in der Bibel steht geschrieben, was Jesus einst den Pharisäern entgegenhielt: „Nicht was in den Mund hineingeht, macht den Menschen unrein, sondern was aus dem Mund herauskommt.“ [2] Bei den Pharisäern unserer Zeit muss die Frage erlaubt sein, wie lauter ihre Absichten und wie rein die angeblichen Wahrheiten sind, die sie ex cathedra verkünden.

Tabakbekämpfung

Für die aktuelle Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte haben wir uns zunächst dem Rauchen zuzuwenden, denn es gilt als Vorbild und Eichmaßstab aller Übel der Welt: „(Fast) so schlimm/schädlich/gefährlich wie Rauchen“ sind nach Eingabe in eine Internet-Suchmaschine etwa: Eigelb, Einsamkeit, Übergewicht, niedriger IQ, Alkohol, Fernsehen, Arbeitslosigkeit, Videospiele, Solarien, Dampfen und Sitzen. Was an den Teufel Tabak heranreicht, kann also nur von Übel sein. Eine andere Wirkung dieser Dämonisierung des Rauchens besteht darin, dass man sich von einem solchen Vergleich ähnlich drastische Regulierungsmaßnahmen erhofft wie beim Tabak. Wie konnte es überhaupt zu dieser Dämonisierung kommen? Schon der erste Mensch, der vor 500 Jahren als Raucher aus der Neuen in die Alte Welt zurückkehrte, wurde von der Spanischen Inquisition in die Mangel genommen. Herrschende haben dann über die Jahrhunderte immer mal wieder die Raucher unter Beschuss genommen, vom englischen König Jakob I., dessen Pamphlete gegen den Tabakgenuss viel an zeitgenössischer Argumentation vorwegnahmen, über die Tötung von Rauchern unter einem osmanischen Sultan, herausgeschnittene Zungen in Persien, turmhohe Strafsteuern bis hin zu diversen Rauchverboten mit unterschiedlichsten Begründungen. [3]

„Der Akt der Selbsttötung durch den Tabakkonsum scheint doch arg in Zeitlupe zu verlaufen, wenn man bedenkt, dass seit Einführung der Industriezigarette in Deutschland sich die hiesige Lebenserwartung immerhin verdoppelt hat.“

Die heutige Tabakbekämpfung (bei der WHO als „Tobacco Control“ sogar institutionalisiert) basiert gemäß einem führenden US-amerikanischen Antiraucher-Funktionär der vergangenen Jahrzehnte auf folgendem Dreiklang [4]: Raucher töten sich selbst, Raucher stellen eine finanzielle Bürde für die Allgemeinheit dar, Raucher töten andere durch Passivrauch. Nun scheint der Akt der Selbsttötung durch den Tabakkonsum doch arg in Zeitlupe zu verlaufen, wenn man bedenkt, dass seit Einführung der Industriezigarette in Deutschland sich die hiesige Lebenserwartung immerhin verdoppelt hat und wir nicht über Frühableben, sondern über einen Pflegenotstand durch Rekordalterung diskutieren. Hierbei wird auch ganz der Gedanke ausgeblendet, dass Lebensquantität nicht zugleich Lebensqualität bedeutet, welche nämlich eng mit Genuss verbunden ist. Genuss kann auf sehr unterschiedliche Weise ausgelebt werden. Als Feindbild militanter Asketen stellt er typischerweise eine Bürde für die Allgemeinheit dar, so auch der Tabakgenuss. In der eingangs erwähnten Fernseh-Talkshow wurde zum Beispiel die Behauptung aufgeworfen, unter Einbeziehung aller gesellschaftlichen Kosten betrüge der Preis einer Schachtel Zigaretten 43 Euro. Dabei griff man auf eine Berechnung des Hamburger Ökonomen und Juraprofessors Michael Adams zurück, der seit vielen Jahren unter dem Mantel der Wissenschaft einen Feldzug gegen den Alkohol, das Glücksspiel und eben den Tabak führt. Insofern keine neutrale oder objektive Quelle, gehen aber auch dessen Kalkulationen in eine ganz andere Richtung: Bei 39,99 Euro „sozialen Kosten“ [5] pro Zigarettenpackung seien in der Bilanz nur 0,50 Euro Kosten, die der Allgemeinheit/Volkswirtschaft in der Bilanz negativ zu Buche schlagen, während 39,49 Euro fiktive Kosten den Rauchern (und ihren Ehepartnern) entstehen, da Adams von Krankheit und entgangener Lebenszeit ausgeht. Ein Menschleben auf Heller und Pfennig zu berechnen, offenbart ein zynisches Menschenbild, das nach Oscar Wilde „von allem den Preis und von nichts den Wert kennt“. Wie dem auch sei, für Dritte bleiben nur 50 Eurocent an externen Kosten und auch das nur vor den letzten Tabaksteuererhöhungen und bei einseitiger Berechnung. Adams listet nämlich alle möglichen Kosten, wie entgangene Einkommensteuer durch den Tod von Steuerzahlern, auf, vernachlässigt aber sträflich die „Nutzen“-Seite, auf der neben der Tabaksteuer auch die Mehrwertsteuer (die auch auf die Tabaksteuer erhoben wird, genau wie bei der Mineralölsteuer), entfallende Behandlungskosten im Gesundheitswesen sowie entfallende Pflegekosten durch früheres Ableben stehen. Wer die fehlenden Steuereinnahmen durch Tote beklagt, müsste zudem die Nicht-Mehr-Inanspruchnahme steuerfinanzierter Infrastruktur durch Dahingeschiedene in die Rechnung einbeziehen. Andere Studien kommen daher auch zu gegenteiligen Ergebnissen, nämlich der Subventionierung der Nichtraucher durch die Raucher. [6]

„Wer die fehlenden Steuereinnahmen durch Tote beklagt, müsste zudem die Nicht-Mehr-Inanspruchnahme steuerfinanzierter Infrastruktur durch Dahingeschiedene in die Rechnung einbeziehen.“

Ähnlich wie das Schummeln mit den Kosten muss auch der Umgebungsrauch herhalten als Argument für eine vorgebliche Fremdschädigung Dritter, mit der dann Einschnitte begründet werden. In den vergangenen gut 30 Jahren wurde ein gewaltiges statistisches Konstrukt ersonnen, das vor allem nach folgendem epidemiologischen Bauplan funktioniert: Man nehme eine kleine, willkürlich zusammengesetzte Gruppe Menschen, stelle ihnen Fragen zum Rauchen, die länger zurückreichen als ihr Gedächtnis, messe irgendwelche Krankheiten und fabriziere so ein statistisch insignifikantes Risiko, das für eine kausale Zuordnung zu winzig ist, und verbreite dies als unumstößlichen Beweis dafür, dass der Rauch anderer zum frühen Tode führt. [7] Ein anderes Rezept der vergangenen Jahre: Man nehme irgendeine Region oder auch nur ein winziges Krankenhaus, in dem über einen bestimmten nicht sehr langen Zeitraum die Krankenhauseinlieferungen wegen Herzinfarkt gesunken sind, stelle dies in einen Zusammenhang mit einem gesetzlichen Rauchverbot und verschweige, dass im gesamten Land und auf einen längeren Zeitraum völlig andere Entwicklungen abgelaufen sind, die jeden statistischen Zusammenhang zwischen Herz und Paragraphen widerlegen. [8]

Ferner wird Rauchen seit Jahren immer stärker mit dem Begriff der „Sucht“ assoziiert. Dem zu Folge gelten rauchende Menschen als unkontrolliert, willensschwach und krank. Wer angeblich nicht Herr seiner Sinne ist, bedarf nach dieser Vorstellung eines korrigierenden therapeutischen Eingriffs in sein Verhalten. Die Definition von Sucht bleibt dabei recht willkürlich, für den Tabak gilt sie erst seit wenigen Jahrzehnten – vorher firmierte sein regelmäßiger Konsum als Gewohnheit [9] –, aber seitdem viele Raucher sich als „süchtig“ begreifen und beschreiben, haben sie größere Schwierigkeiten, mit dem Rauchen aufzuhören als noch vor einigen Jahrzehnten.

Fragwürdige Normen

Zum Thema Alkohol sei hier nur kurz darauf verwiesen, dass es sich dabei um ein arabisches Wort handelt, in weiten Teilen der arabischen Welt der Alkoholkonsum aber unter Androhung schwerer Strafen verboten ist. Dies möge eine Warnung sein vor der Regulierungsagenda zur Austrocknung durstiger Kehlen auch anderswo auf dem Erdball. [10]

Die Ernährung dient seit Jahrtausenden als Gegenstand für Bevormundung, etwa in Form religiöser Speisevorschriften. Mit der fundamentalen Verbesserung der Ernährungslage in jüngerer Vergangenheit wurde auch für Konsumkritik der Nährboden bereitet, die sich moralistisch an der „Völlerei“ abarbeitet und der großen Ernährungsfreiheit mit den verschiedenen Essstilen wenig Positives abgewinnen kann. Hierbei geht es um Auswirkungen auf den menschlichen Körper, den Versuch, die Essenden in ein fragwürdiges Korsett von „Normal-“ oder „Idealgewicht“ zu pressen, ungeachtet ihrer unterschiedlichen körperlichen, genetischen oder sonstigen Voraussetzungen (bei der Verwertung, den Geschmacksnerven usw.) beziehungsweise ihres Lebensumfeldes. Athletische Jäger müssen die meisten modernen Menschen nicht mehr sein, dennoch wird staatlicherseits zeigefingerschwingend die Körperertüchtigung propagiert. Vermeintliche Risiken des Übergewichts – an sich schon ein normativer Begriff – schmelzen bei wissenschaftlichem Lichte betrachtet wie Schnee in der Sonne. [11]

Fett, Zucker, Salz und Fleisch

Insbesondere geht es der Ernährungsregulierung um das Essen und Trinken selbst, sowohl qualitativ wie quantitativ. „Zu viel, zu fett, zu süß“, schallt es dem Deutschen oft entgegen von denjenigen, die sich berufen oder erwählt fühlen, dem anderen in seine Mahlzeiten hineinzuregieren. Anstelle der Lebensmittelkarten unseligen Angedenkens sind heute Food-Nannys in Medien, Politik und Wissenschaft getreten, die einem das Essen gerne rationieren wollen, darunter nicht zuletzt häufig auffällig magere Ökotrophologinnen, die der Ernährungsexperte Udo Pollmer mal so kommentierte: „Früher war ich drogenabhängig, heute bin ich Dealer“ [12]. Lebensmittel und Mahlzeiten werden dichotomisch in das Schema „gesund vs. ungesund“ eingeteilt, dessen wissenschaftliche Basis in etwa den Begriffspaaren „koscher – treif“ oder „halal – haram“ entspricht. Das Albert-Einstein-Medizininstitut in New York hat vor ein paar Jahren festgestellt, dass die beste Ernährungsempfehlung wohl darin besteht, nicht auf Ernährungsempfehlungen zu hören. [13] Schließlich wechseln da ständig die Moden, und mit den Mitteln der modernen multifaktoriellen Epidemiologie lässt sich für alles ein trügerischer Beleg finden. Der Gegensatz zwischen guter und böser Ernährung hat schon zu einem neuen Krankheitsbild bei den Essstörungen, der Orthorexie, geführt, also der Neigung, sich den vermeintlichen Regeln sittsam folgend zu ernähren.

„Der Gegensatz zwischen guter und böser Ernährung hat schon zu einem neuen Krankheitsbild bei den Essstörungen, der Orthorexie, geführt, also der Neigung, sich den vermeintlichen Regeln sittsam folgend zu ernähren.“

Die bösen Drei, Fett, Zucker und Salz, stehen vielfach auf der Abschlussliste, gelten als ungesund, schädlich, gefährlich und – selbstverständlich – suchterzeugend. In diesem Zusammenhang können dann auch die Produzenten als Verursacher angeblicher Probleme gebrandmarkt werden, was den Ess-Störern die Gelegenheit gibt, sich als mutige Kämpfer gegen brutale Konzerninteressen aufzuspielen. Alles mit Erfolg vorexerziert am Beispiel der Tabakindustrie, und genau wie diese unter der einschlägigen Regulierung weniger leiden als viele Klein- und Mittelständler aus betroffenen Branchen sowie vor allem die Konsumenten, werden auch die zunehmenden Eingriffe ins Essen und Trinken eher diesen Gruppen schaden und nicht den Ernährungsmultis, die sich auf staatliche Einschränkungen besser einstellen können. Diese verändern schon die Rezeptur ihrer Angebote, um hinter dem Rücken der Verbraucher auf die politischen und ideologischen Anforderungen zu reagieren. Zwar konnte die „Lebensmittel-Ampel“ mit den Farben Grün (gut), Rot (böse) und Gelb (Achtung, Achtung) auf EU-Ebene einstweilen noch verhindert werden, es bestehen aber bereits Vorschriften zur gesundheitsbezogenen Werbung, die das Informations- und Wahrheitsmonopol über Zutaten und gesundheitliche Qualität bei den Regulierungsbehörden ansiedeln will. Die EU-Kommission möchte auch gern den Salzgehalt des Brotes reduzieren. Übrigens sind Hersteller von so genannten Schlankheitsprodukten wie Diätpillen, darunter auch einige Pharmakonzerne, an einseitiger Verklärung des Essens interessiert und fördern dies finanziell.

Neben den genannten Substanzen richtet sich der Fokus auch immer wieder auf Fleisch. Während aus Sicht der Gesundheitsapostel-Speisevorschriften wenig und „weißes“ Fleisch noch akzeptabel sind, stellt sich das für militante Vegetarier und sogenannte Tierrechtler ganz anders dar, die nämlich das gegenseitige Sich-Auffressen im Tierreich noch tolerieren, dem Menschen aber vergleichsweise weniger Freiheit lassen möchten. Tierrechtsextremisten kämpfen zum Beispiel gegen Wildtierhaltung in Zoos, Massentierhaltung (als könne die Welternährung ausschließlich durch romantische Kleinbauernhöfe erfolgen), Tierpelze und eben für eine Transformation im Essverhalten, bei der der von den Grünen seit längerem geforderten obligatorische „Veggie Day“ in öffentlichen Kantinen nur ein Anfang wäre. Wie etwa beim Tabak hat man auch hohe Strafsteuern im Sinn. Der Veganismus geht noch darüber hinaus: Wenn dereinst in der Kantine von montags bis donnerstags nur noch vor sich hin „vegetiert“ werden darf, wird aus dem Freitag bestimmt der „Vegan Day“.

Gesundheitswahn und Sanitarismus

Macht fungiert neben Geld und Ansehen nämlich als wesentliche Triebfeder menschlichen Handelns und bei den Bevormundern auf allen hier behandelten Gebieten zeigen sich derartige Motivationen: Der Wunsch, die Mitmenschen zu steuern, das Geld des Steuerzahlers in Form staatlicher Förderung oder das Geld der – insbesondere pharmazeutischen – Genuss-Substitutions-Industrie [14], und die vermeintliche moralische Erhabenheit durch den Kampf gegen die Lasterhaftigkeit und die Sündenpfuhle der „einfachen“ Menschen, einzeln oder in Kombination.

Der neopuritanische Gesundheitswahn, als neue Gesundheitsreligion, bei der beim Tanz ums goldene Kalb Diäten das Fasten und der Fitnessstudio-Besuch den Kirchgang abgelöst haben, – oder ideologisch als Sanitarismus zu bezeichnen –, bedroht die Gesellschaft in mehrerlei Hinsicht. [15] Erstens gefährdet er die politische und wissenschaftliche Integrität, wenn Gesetze und Studien auf seinen Zielen und Dogmen basieren. Das politisch Akzeptable und das wissenschaftliche Erlaubte werden so auf ein schmales Spektrum reduziert, Skeptiker und Kritiker werden in die Isolation gedrängt. [16] Zweitens lehnt er die gesellschaftliche Vielfalt ab, wenn Individuen nicht mehr nach ihrer je eigenen Façon essen, trinken, rauchen und auf andere Art selig werden können, sondern der Einheitsmensch geschaffen werden soll, der sich etwa durch Tabakabstinenz, weitreichenden Alkoholverzicht und diszipliniertes Essverhalten für einen gesunden Tod empfiehlt. Drittens stellt er die Demokratie auf den Kopf, wenn nicht mehr von unten entschieden werden soll, was „die da oben“ so treiben, sondern umgekehrt die Obrigkeit das Verhalten der Menschen durch ihre Bürokratien, von diesen bezahlten Studien und von diesen finanzierten Lobbyorganisationen, immer weiter zu formen versucht. Viertens bedroht er vor allem die Freiheit des Einzelnen, des Verbrauchers, des Anbieters bis hin zum Kantinenbetreiber, des Elternteils, das zu tun und zu lassen, das herzustellen, das den Kindern auf den Weg zu geben, was ihnen in eigener Verantwortung beliebt.

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