13.05.2016
Zehn Mythen über Schulmassaker
Essay von Kevin Yuill
Amokläufe an amerikanischen Schulen rufen stets eine Welle an Kommentaren hervor, die meist auf Vorurteilen basieren und die Forderung nach schärferen Waffengesetzen beinhalten.
1. Schul-Amokläufe sind in den USA an der Tagesordnung
Amokläufe an Schulen sind äußerst selten. Statistisch gesehen sind Kinder in der Schule weniger gefährdet als zuhause. Die Wahrscheinlichkeit liegt höher, von den eigenen Eltern getötet zu werden als von irgendwelchen Dritten. Dem amerikanischen Kriminologen Gary Kleck zufolge ist es sogar wahrscheinlicher, während der Schulzeit von einem Blitz getroffen zu werden als von einer Kugel. Sogar in Großbritannien, dem Musterland der Waffenverbots-Aktivisten, lag die Tötungsrate an Grundschulen lange etwas höher als in den USA. Die allgegenwärtige Berichterstattung über Schul-Amokläufe bedeutet eben nicht, dass sie sich ständig ereignen.
2. Ein strenges Waffenrecht hätte solche Anschläge verhindert
Der ehemalige britische Innenminister Jack Straw behauptete nach einem Attentat in Connecticut, dass ein restriktiveres Waffenrecht Amokläufe an Schulen ohne jeden Zweifel unwahrscheinlicher werden ließe. Mit seiner Aussage „Je härter das Gesetz, desto geringer das Risiko“ 1, brüstete er sich, dass es solche Taten nicht mehr gegeben habe, seit er in Großbritannien die entsprechenden Gesetze auf den Weg brachte (das Dunblane-Massaker von 1996 war der letzte Vorfall dieser Art). Sich das Ausbleiben dieser unglaublich seltenen Zwischenfälle als Verdienst anzurechnen, zeugt wahrhaftig von Überheblichkeit. Hätte er ein Gesetz über tödliche Attacken durch Elefanten verantwortet, würde er sich dann ebenso damit brüsten, dass es in Großbritannien seit 1990 keine Elefantenangriffe mehr gegeben hat?
Beim Massaker an einer Grundschule in Newton 2012 wurde mehrfach mit einem Gewehr auf die Kinder geschossen. Kein Gesetz, das in der Zeit danach in den USA vorgeschlagen wurde, wollte den Menschen Gewehre wegnehmen; stattdessen stürzte man sich auf Pistolen. Der Mörder, Adam Lanza, hatte zwei bei sich, eine davon nutzte er, um sich selbst zu töten. Die Kinder und Lehrer wurden jedoch mit einer Bushmaster 223, einem halbautomatischen Gewehr, getötet. 2 Die Falschbehauptung, in Newtown seien Pistolen als Mordwaffe verwendet worden, wurde nicht zurückgenommen.
„In den USA werden viermal mehr Menschen mit Messern getötet als mit Gewehren erschossen“
Es gäbe auch gar keinen Grund, ein Gesetz gegen Gewehre zu erlassen, die nur bei 352 Morden im Jahr 2009 in den USA verwendet wurden (eine Zahl, die seit 2000 stetig abnimmt), verglichen mit den 6000 Menschen, die mittels Pistolen getötet wurden. Viermal so viele Menschen wurden in den USA mit Messern getötet, doppelt so viele erschlagen. Außerdem scheint man den Angriff in Whitehaven (England) vergessen zu haben (bei dem Derrick Bird zwölf Menschen getötet hat). Er ereignete sich trotz der einmalig restriktiven Waffenregulierung, wodurch belegt ist, dass Politiker Straw und andere, denen zufolge striktere Kontrollen z.B. die Tragödie in Newtown hätten verhindern können, schlichtweg daneben liegen. Leider wird jeder, der Sechs- und Siebenjährige zu töten beabsichtigt, dazu eine Möglichkeit finden, ganz egal, ob Waffengesetze existieren oder nicht.
3. Schusswaffen töten Menschen effizienter
Schusswaffen sind weder die einzige noch die effizienteste Möglichkeit, Kindern in einer Schule das Leben zu nehmen. Das sogenannte Schulmassaker von Bath bezeichnet drei Bombenanschläge in Michigan, die am 18. Mai 1927 vom 55-jährigen Kassenwart des Schulkommitees verübt wurden. Der Täter tötete aus Wut über Steuererhöhungen 38 kleine Kinder, zwei Lehrer, vier weitere Erwachsene und sich selbst. Achtundfünfzig Menschen wurden verletzt, die meisten von ihnen Kinder zwischen sieben und vierzehn Jahren. Ein anderes Schulmassaker ereignete sich am 11. Juni 1964 in einer katholischen Grundschule des Kölner Vororts Volkhoven. Walter Seifert, ein 42-jähriger Frührentner, der unter Schizophrenie litt, tötete acht Schüler und zwei Lehrerinnen mit einem aus einer Unkrautspritze selbst gebauten Flammenwerfer, einer Lanze und einer Keule. 22 weitere Personen erlitten Verletzungen.
Die erschreckende Wahrheit: Wo ein Wille ist, Kinder zu töten, findet sich ein Weg.
4. Solche Morde spiegeln die Missstände der amerikanischen Gesellschaft wider
Die Journalistin Dani Garavelli hat in einer besonders gehässigen Kolumne im The Scotsman angemerkt: „In jeder Kultur gibt es gestörte Personen. Aber bei aller Rhetorik der Waffen-Lobby bleibt eine Tatsache unumstößlich: Nur ein Land erlebt Amokläufe mit unschöner Regelmäßigkeit. Es ist das gleiche Land, das seine Bürger hemmungslos bewaffnet.“ 3 Falsch. Wie bereits erwähnt, lag die Tötungsrate in England etwas höher als in den USA, allerdings waren die bisherigen Zahlen so gering, dass der Amoklauf in Newtown 2012 die Statistik umdrehen konnte.
„Es gibt keinen direkten kausalen Zusammenhang zwischen Waffenbesitzen und der Tötungsrate“
Neben den oben genannten beiden Beispielen belegen weitere historische Fälle, dass sich Schul-Amokläufe nicht auf die USA beschränken. Ein Amoklauf trug sich am 20. Juni 1913 in der St.-Marien-Schule in Walle, einem Stadtteil von Bremen zu. Der Schütze, der 29-jährige arbeitslose Lehrer Heinz Schmidt, schoss willkürlich auf Schüler und Lehrer. Er tötete fünf Mädchen und verletzte mehr als zwanzig weitere Menschen, bis er vom Schulpersonal überwältigt wurde. Wenn wir weiterführende Schulen hinzunehmen, muss auch das Massaker in Erfurt vom 26. April 2002 genannt werden. Der Schütze, der 19-jährige Robert Steinhäuser – zuvor von der Schule verwiesen –, tötete sechzehn Menschen, darunter elf Lehrer, eine Referendarin, eine Sekretärin, zwei Schüler und einen Polizeibeamten, bevor er sich selbst hinrichtete. Der Winnenden-Amoklauf an einer Realschule in Baden-Württemberg führte einige Jahre später zu 16 Toten. Im kanadischen Montréal mussten 1989 bei einem Amoklauf an der Polytechnischen Hochschule 14 Menschen ihr Leben lassen, es endete ebenfalls mit dem Selbstmord des Täters. Im Westen Finnlands ereignete sich der Amoklauf von Kauhajoki am 23. September 2008. Der Täter, der 22-jährige Matti Juhani Saari, erschoss zehn Menschen mit einer Pistole, anschließend schoss er sich selbst in den Kopf.
5. Mehr Schusswaffen führen zu mehr Schusswaffen-Opfern
Es gibt keinen direkten kausalen Zusammenhang zwischen Waffenbesitz und der Tötungsrate. In Brasilien, Argentinien und Südafrika besitzen weniger Menschen Schusswaffen als in den USA, es sterben jedoch mehr Menschen durch sie. Während die USA eine höhere Tötungsrate als die meisten europäischen Staaten aufweist, ist diese aber in anderen Ländern mit einer sehr großen Zahl an Schusswaffenbesitzern, z.B. Kanada, Schweiz oder Israel, mit am geringsten. Kriminologe Kleck weist darauf hin, dass in den ersten 30 Jahren des 20. Jahrhunderts der Handfeuerwaffen-Besitz pro Kopf um das Zehnfache anstieg. Anschließend nahm er von 1937 bis 1963 um weitere 250 Prozent zu, die Tötungsrate sank allerdings um 35,7 Prozent.
6. Der Zweite Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung ist nicht mehr zeitgemäß und hatte ursprünglich eine ganz andere Bedeutung
Oft bezieht sich die Berichterstattung bei Schul-Amokläufen auf den Zweiten Zusatzartikel der US-amerikanischen Verfassung, der amerikanischen Bürgern das Recht zusichert, Waffen zu tragen. Der britische Talkshow-Moderator und selbsternannte Verfassungsexperte Piers Morgan meinte etwa: „Der Zweite Zusatzartikel wurde in einer Zeit entworfen, als man Flinten im Sinn hatte, keine modernen Pistolen und Sturmgewehre. Das ist Tatsache.“ 4 Nein Piers, das ist es nicht. Im Zweiten Zusatzartikel geht es um Freiheit und Gleichheit, nicht aber spezifisch um Schusswaffen. Historisch kann eine Verbindung zwischen dem Aufstieg des aufgeklärten Menschen – geboren in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – und der Freiheit eines jeden Menschen, Waffen zu besitzen, hergestellt werden. Der Bürgerstatus ist mit dem Recht, eine Waffe zu tragen, eng verbunden.
„Bürgerstatus ist mit dem Recht, eine Waffe zu tragen, eng verbunden“
Besonders berüchtigt ist dabei der Fall des 1857 entflohenen Sklaven Dred Scott, der um seine Freiheit ersuchte, nachdem er kurz vor Ausbruch des Bürgerkriegs in einen freien Staat gereist war. Seinem Anliegen wurde nicht stattgegeben und die Ablehnung damit begründet, dass Schwarze niemals Bürger sein könnten, da, so begründete der Supreme-Court-Richter Roger Taney seine Position, sich freies Bürgertum durch „volle Redefreiheit über alle Themen in der Öffentlichkeit und im Privaten, die Beteiligung an und das Abhalten von öffentlichen Veranstaltungen über politische Fragen und durch das Besitzen und das Tragen von Waffen, wo auch immer man hingeht“ definiere. Piers sollte lieber erst einmal die Federalist Papers lesen, in denen Gründungsvater James Madison niederschrieb, dass Amerikaner den Vorzug genießen, bewaffnet zu sein, im Gegensatz zu Bürgern anderer Länder, „in denen der Staat Angst vor Waffenträgern hat“. 5
7. Amerikaner bewaffnen sich zunehmend
„Bei aller Aufmerksamkeit für die amerikanische Waffenkultur befindet sich der Besitz von Schusswaffen am oder nahe dem historischen Tiefpunkt“, schreibt der Politikwissenschaftler Patrick Egan (New York University). Dieser Rückgang geht aus dem General Social Survey am klarsten hervor, zeigt sich aber auch in Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Gallup. Egan zieht das Fazit, „dass die Langzeit-Trends nahelegen, dass wir in Wirklichkeit gerade ein Abflauen der Schusswaffen-Kultur erleben.“ 6
8. Waffen haben keinen Nutzen für die Gesellschaft
Wer bestimmt, was für die Gesellschaft Nutzen hat? Hier wird davon ausgegangen, dass Menschen über den Kopf anderer hinweg entscheiden dürfen, was für sie Sinn ergibt und was nicht. Ich kann den Reiz, sich ein Pferd oder einen Hund zuzulegen, vielleicht auch nicht nachvollziehen. diejenigen, die diesen Hobbys nachgehen wollen, müssen aber selbst wissen, was ihnen das bringt. Da statistisch gesehen weit über 99 Prozent aller Feuerwaffen nicht für kriminelle Tätigkeiten genutzt werden, finden sie offensichtlich für legitime Zwecke Verwendung. Kaum ein Befürworter der Waffenregulierung stellt die Waffennutzung der Polizei in Frage. Offensichtlich steht grundsätzlich außer Diskussion, dass Waffen notwendig sein können, um für Frieden zu sorgen.
Der Logik der Regulierungs-Anhänger folgend, hätten die Afro-Amerikaner im 19. und 20. Jahrhundert bereitwillig ihre Waffen niederlegen sollen, als sie von den Weißen der Südstaaten dazu angehalten wurden. Denn welchen legitimen Grund hätten sie haben können, solche Waffen zu tragen? Die schwarze Journalistin und Menschenrechts-Aktivistin Ida Wells Barnett gab zu, bewaffnet zu sein, seit einer ihrer Freunde gelyncht wurde: „Lieber im Kampf gegen Unrecht sterben als wie ein Hund oder eine Ratte in der Falle.“ War das ein legitimer Grund?
9. Die Waffen-Lobby ist zu mächtig
Mit jeder Tragödie, die in den USA durch eine Waffe angerichtet wird, werden der National Rifle Association (NRA) und anderen waffennahen Interessensverbänden plötzlich Superkräfte zugesprochen. Trotz der Tatsache, dass die meisten Amerikaner, abgesehen von der urbanen Elite, kein wirkliches Interesse an einem Waffenverbot haben, muss es wohl die unglaublich reiche und mächtige NRA sein, die „vernünftige“ Vorstöße, wie das Verbot von Hochleistungswaffen, unterbindet.
„Nach der Logik der Lehrerbewaffnung müssten Kinder einen blitzableitenden Kopfschutz tragen“
Eigentlich sind solche Haltungen kultureller Snobismus, als ob man mit der Art Menschen, die Waffen besitzen, ohnehin nicht diskutieren könne. Eine Autorin des Guardian schrieb einmal: „Was mich bei den Auseinandersetzungen um die Waffenregulierung am meisten beunruhigt, sind die Radikalen, die sich private Arsenale angehäuft haben und über erhebliche Wutvorräte verfügen.“ 7 Ein wunderbares Beispiel für Emotionalisierung unter dem Deckmantel pseudo-intellektueller Präzision lieferte der snobistische amerikanische Autor Gary Wills. Er sprach Schusswaffen „die Kraft“ zu, das „Urteilsvermögen“ zu zerstören. Sie hielten seiner Meinung nach Menschen davon ab, „logische Schlüsse zu ziehen“. 8 Vielleicht ist das der Grund dafür, dass die böse NRAin der Lage ist, die Kräfte des Guten zu besiegen.
10. Durch bewaffnete Lehrer könnten Schulmassaker verhindert werden
Nach einem Schulamoklauf konnte man Äußerungen des Geschäftsführers der Lobby-Gruppe Gun Owners of America, Larry Pratt, lesen, die selbst den hysterischsten unter den Waffenregulierungs-Fanatikern Konkurrenz machten: „An den Händen der Unterstützer von Waffenregulierung klebt das Blut kleiner Kinder. Nationale und Bundesstaatsgesetze haben zusammen bewirkt, dass kein Lehrer, keine Sekretärin, ja überhaupt kein Erwachsener in der Schule, wo die Kinder ermordet wurden, über eine Waffe verfügte.“
Pratt war nicht der einzige, der das so sah. 2008 wurde es im Harrold-Independent-Schulbezirk in Texas als erstem Schulbezirk der USA Lehrern erlaubt, mit einer staatlichen Genehmigung im Klassenzimmer Schusswaffen mit sich zu führen. Jene Lehrer mussten ein zusätzliches Training belegen und Munition mit einem speziellen Querschläger-Schutz verwenden. Wenig überraschend: Diese Lehrer mussten ihre Waffen bisher noch nicht benutzen.
Während einerseits viele sinnlose Forderungen von denjenigen aufgestellt werden, die eine stärkere Regulierung verlangen, findet andererseits diese Position, die Lehrerbewaffnung, bei Menschen Gehör, die sich gegen solche Eingriffe sträuben. Sie übersehen aber die Seltenheit, mit der diese Amokläufe überhaupt stattfinden und bekräftigen so die Haltung derer, die nach einem Verbot des Schusswaffengebrauchs rufen. Sie berufen sich nämlich auf dieselben Ängste. Nach der gleichen Logik müssten Kinder einen blitzableitenden Kopfschutz tragen. Aktionismus nach einem solchen Unglück kann verführerisch wirken, aber manchmal ist eine Tragödie einfach nur eine Tragödie. Ein schreckliches Ereignis, das niemand vorhersehen oder verhindern konnte. Lassen wir in einem solchen Fall die Angehörigen in Ruhe trauern, anstatt politische Schlüsse zu ziehen, die zwar einfach und passend scheinen, aber schlichtweg falsch sind.