04.11.2011

Wutbürger beim Essenentlarven

Kommentar von Thilo Spahl

Auf der Internetplattform lebensmittelklarheit.de können Verbraucher, die sich von Informationen auf Verpackungen getäuscht fühlen, Dampf ablassen. Der Erkenntniswert des steuerfinanzierten Onlineprangers geht dabei gegen null.

100 Tage nach dem Start der Internetplattform lebensmittelklarheit.de, die Teil der BMELV-Initiative “Klarheit und Wahrheit bei der Kennzeichnung und Aufmachung von Lebensmitteln” ist, zog Ministerin Ilse Aigner am 27. Oktober 2011 eine positive Zwischenbilanz: “Die überwältigende Resonanz zeigt, dass es richtig und wichtig war, dieses Portal zu fördern”. Die Freude ist begründet, denn die Nutzer waren fleißig und haben am Online-Lebensmittelpranger in drei Monaten beachtliche 3.800 Produkte bemängelt. An Mängeln scheint kein Mangel zu herrschen. Ich bin beeindruckt. Ich wäre wahrscheinlich schon überfordert, wenn man mir die Aufgabe stellte, schlappe 380 Produkte - ganz egal, ob täuschende oder mustergültige – aufzulisten. Weil es so klasse läuft, hat Frau Aigner die Finanzierung für den Betrieb der Webseite erhöht. 975.000 Euro dürfen die Steuerzahler nun dafür bezahlen, dass sie anderen öffentlich mitteilen können, von welchen Lebensmitteln sie sich getäuscht fühlen.

Der triviale Hintergrund der ganzen Angelegenheit besteht in der schlichten Tatsache, dass Lebensmittel, wie alle anderen Produkte auch, von ihren Herstellern, in ein möglichst positives Licht gerückt werden. Dies geschieht nur vordergründig in der Absicht, Werbetextern und Verpackungsdesignern ein bescheidenes Auskommen zu sichern. In Wirklichkeit beabsichtigen die Multis, unschuldige Verbraucher dazu zu verlocken, ihre Produkte zu kaufen. 

Nun gibt es Menschen, wie den Autor, die ihre wertvolle Zeit nicht damit verbringen, Verpackungen zu studieren, sondern vor allem darauf achten, dass der Inhalt schmeckt, und dabei ein paar grundsätzliche Kenntnisse im Hinterkopf behalten, die sich anzueignen nicht schwer ist, nämlich, dass Süßigkeiten Süßigkeiten sind, Fertigprodukte Fertigprodukte, Gemüse Gemüse und Fleisch Fleisch. Solche Sorglosigkeit kann die Sache der Ministerin nicht sein, denn sie hat ja, wie der Titel verrät, den Job, Verbraucher zu schützen. Wovor? Vor Ärger.

Mit Lebensmittelsicherheit hat „Lebensmittelklarheit“ nichts zu tun. Es geht nicht darum, dass irgendwelche Lebensmittel gesundheitlich bedenklich sind. Dass solche erst gar nicht angeboten werden, ist durch umfangreiche Zulassungsregularien gewährleistet. Es geht um das „Ärgerpotenzial“, wie es Gerd Billen, Chef der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv), die mit dem Betrieb der Plattform beauftragt ist, formulierte. Jemand ärgert sich zum Beispiel darüber, dass „Sylter Salatfrische Topping“ nicht auf Sylt hergestellt wird oder dass allerlei Brühwürfel Hefeextrakt enthalten, der den Geschmack verstärkt, obwohl auf der Packung „ohne Geschmacksverstärker“ steht. (Das lässt sich leicht dadurch erklären, dass Hefeextrakt - ebenso wie z.B. Zucker und Salz - lebensmittelrechtlich nicht als Geschmacksverstärker eingestuft wird.) 

Nun ist Ärger eine natürliche menschliche Regung. Und wenn sich denn einer, aus welchem Grund auch immer,  über zu groß oder zu klein Gedrucktes auf Lebensmittelpackungen ärgert, dann mag er sich Luft machen. Ist es aber die Aufgabe der Bundesregierung dieses Luftmachen zu organisieren, zu dissemminieren und zu subventionieren?
Und ist es überhaupt der Ärger, der zu den Klagen im Internet führt? Ist es nicht vielmehr bei den meisten eine große innere Leere, die in ihnen das Gefühl aufkommen lässt, berufen zu sein, ahnungslose Mitmenschen davor warnen zu müssen, Kinderschokolade im falschen Glauben zu verzehren, eine Extraportion Milch zu sich zu nehmen? Und sollen die Verbraucher überhaupt vor Ärger geschützt werden? Zielt die ganze Chose nicht vielmehr darauf, Millionen von Menschen auf bisher verpasste, weil unerkannte Gelegenheiten, sich zu ärgern, hinzuweisen und damit die Menge des Ärgers im Lande zu erhöhen?

Und wozu brauchen wir eigentlich lebensmittelklarheit.de, wo wir doch Foodwatch haben?
Thilo Bode, selbst ernannter Cheflebensmittelbeobachter, findet es natürlich nicht knorke, dass jetzt Hinz und Kunz so tolle Enthüllungen machen darf, wie dass Tütensuppen nicht aus lauter frischem Gemüse bestehen, obwohl es auf der Packung abgebildet ist. Solche Sensationen an die dankbare Presse und durch diese an die dankbare Konsumentengemeinde zu vermelden, ist sein bewährtes Geschäftsmodell. Deshalb analysiert und kritisiert er messerscharf: Verbraucherministerin Ilse Aigner verfahre nach dem Motto: „Wenn der Verbraucher eine Täuschung entdeckt, dann kümmern wir uns darum. Wenn aber die Täuschung so überzeugend ist, dass der Verbraucher sie nicht entdeckt, dann ist offensichtlich alles in Ordnung.“ (zitiert nach dapd)

Wir lernen: Das Pfefferkuchenhaus aus Lug und Trug ist ein komplexes Gebäude. Da mag der eine oder andere gewöhnliche Esser Unsauberkeiten entdecken. Aber in die dunkelsten Ecken, die mit Schliche getarnt sind, dringt nur der Blick des Profis, des gelernten und geübten Foodwatchers. Aber wahrscheinlich braucht sich Herr Bode keine Sorgen zu machen. Wahrscheinlich sind es ja die 21.000 Förderer von Foodwatch, die die 3800 Beschwerden auf lebensmittelklarheit.de gepostet haben. Wir dürfen doch annehmen, dass wenigsten jeder fünfte der getreuen Sponsoren, sich gerne die Mühe gemacht hat, ein kleines „Sahneeis“-mit-zuwenig-Sahne-Ärgernis zum Besten zu geben.

Gibt es eigentlich einen Bedarf für noch mehr „Lebensmittelklarheit“? Wenn man die Kombination „Hefeextrakt“ und „Geschmacksverstärker“ googlet, erhält man 173.000 Treffer. Wir können also davon ausgehen, dass uns schon heute auf etwa 172.000 Webseiten enthüllt wird, dass Hefeextrakt ein Geschmacksverstärker ist. Ich nehme mal an, die gäbe es nicht in solcher Zahl, wenn nicht viele Menschen nach dergleichen Informationen dürsteten. Da kann eine mehr sicher nicht schaden.

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