01.12.2021

Wohnst du, wo du willst, oder wohnst du, wo du musst?

Von Martin Bartholmy

Warum Schwarze und Weiße in den USA nicht zusammenleben.

Früher, das wird vielen bekannt sein, mussten Afroamerikaner in getrennten, ärmlichen Vierteln leben, sei es, weil es ihnen verboten war, anderswo hinzuziehen, sei es, weil sie, versuchten sie es doch, von einem weißen Mob vertrieben wurden. Bekannt waren diese Elendsgebiete als „das Ghetto“. Diesen Begriff hört man heute kaum mehr. Mit den Bürgerrechtsgesetzen der 1960er Jahre fielen viele diskriminierende rechtliche Hürden, und, sollte man annehmen, schwand die Trennung der Wohngebiete nach Rasse – denn weshalb sollte sie weiter bestehen?

Jedoch, dies geschah nicht. In den USA gab es im 19. Jahrhundert und davor mehr gemischte Wohngebiete als heute. Die Trennung der Wohnbevölkerung nach Rasse – speziell was Schwarze und Weiße betrifft – nahm durch staatliche Eingriffe, u.a. durch Stadtplanung und sozialen Wohnungsbau zwischen 1880 und den 1950er Jahren, deutlich zu. Seither hat sich daran, trotz aller rechtlicher Reformen, kaum etwas geändert – beziehungsweise, oft hat sich die Lage verschärft: So stieg zwischen 1993 und 2011 der Anteil schwarzer Schüler, welche Schulen besuchen, an denen der Anteil von Schwarzen 90 Prozent und mehr beträgt, von 2,3 auf 2,9 Millionen und, da der Schulbesuch weitgehend nach Wohngebiet erfolgt, zeigt dies, wie ausgeprägt die Segregation heute ist.

Wie aber kann das sein? Liegt es am oft beschworenen „strukturellen Rassismus“, am immer wieder angeprangerten „alltäglichen Rassismus“? Oder handelt es sich um eine Absonderung, die nicht von Staat und Gesetz erzwungen ist, und zu der es kommt, weil Menschen es vorziehen, jeweils in „ihren Vierteln“ unter ihresgleichen zu leben? Letzteres konstatierte der Oberste Gerichtshof der USA, als er 2007 einer Klage gegen Programme stattgab, durch welche Schüler, um für mehr Integration zu sorgen, per Bus in die Schulen anderer Viertel gebracht werden sollten (bekannt als „busing“). In der Urteilsbegründung erklärte der Vorsitzende Richter John Roberts, wenn die wohnräumliche Trennung der Rassen „nicht Folge staatlichen Handelns, sondern persönlicher Entscheidungen ist, dann hat dies keine verfassungsrechtliche Relevanz.“

Das Amerika der roten Linien

Um zu verstehen, ob das zutrifft oder nicht, ist ein Blick in die Geschichte nötig. Im 19. Jahrhundert, das ist richtig, gab es auch nach dem Ende von Sklaverei und Bürgerkrieg gewisse Schranken, die es im Norden wie im Süden der USA nicht zuließen, dass sich Schwarze nach Belieben niederlassen konnten. Viele dieser Schranken waren klassenspezifisch, das heißt, sie betrafen die Wohnviertel der Wohlhabenderen, während sich in einfachen städtischen Wohnlagen sowie auf dem Lande Schwarze mit armen Weißen und, besonders in den Großstädten, mit neuen Einwanderern aus Europa Häuser, Straßen und Viertel teilten.

„Erst als der Verwaltungsapparat wuchs, der Staat mehr und mehr Aufgaben übernahm und ihre Umsetzung regelte, erst durch diese Bürokratisierung wurden schwarze US-Amerikaner mehr und mehr aus dem öffentlichen Leben gedrängt und systematisch vom Rest der Bevölkerung getrennt.“

Erst als der Verwaltungsapparat wuchs, der Staat mehr und mehr Aufgaben übernahm und ihre Umsetzung regelte, erst durch diese Bürokratisierung wurden schwarze US-Amerikaner mehr und mehr aus dem öffentlichen Leben gedrängt und systematisch vom Rest der Bevölkerung getrennt. Ein deutliches Signal setzte Präsident Woodrow Wilson, als er 1912 begann, in Washington Schwarze aus Ministerien und Verwaltungen zu entfernen. In der Folge bekamen auch hochqualifizierte Afroamerikaner auf Jahrzehnte keine staatlichen Stellen mehr, welche über die eines Kochs oder Hausmeisters hinausgingen.

In der Zeit um den Ersten Weltkrieg begann in den USA eine staatlich gelenkte Wohnungsbaupolitik, und die Stadtplanung wurde vielerorts systematischer. Anfangs war das Ausmaß dieser Programme bescheiden, doch mit Franklin D. Roosevelts „New Deal“ (ab 1933) nahmen sie Fahrt auf. Politiker und Stadtplaner stießen dabei auf das Problem, dass separate Wohnviertel für Weiße und Schwarze, welche per Verordnung als solche ausgewiesen waren, vor Gericht als verfassungswidrig durchfielen. Man reagierte darauf, indem in Bebauungsplänen Gebiete so kategorisiert wurden, dass man, ohne den Aspekt der „Rasse“ explizit zu erwähnen, dennoch den gewünschten Effekt erhielt.

Zu den Mitteln, die systematisch eingesetzt wurden, um Weiße und Afroamerikaner zu trennen, gehörte das „Redlining“, so genannt, da Planer auf den Karten, die sie verwendeten, Farben benutzten, um Stadtviertel als mehr oder weniger förderungswürdig zu markieren. Rot kennzeichnete jene Gebiete, in denen überwiegend oder teilweise Schwarze wohnten. Für diese wurden weder Zuschüsse noch staatliche Kredite oder infrastrukturelle Hilfen angeboten, während man dort die Ansiedlung von Gewerbe und insbesondere von solchen Betrieben förderte, die verschmutzten oder lärmintensiv waren.

„Rot kennzeichnete jene Gebiete, in denen überwiegend oder teilweise Schwarze wohnten. Für diese wurden weder Zuschüsse noch staatliche Kredite oder infrastrukturelle Hilfen angeboten.“

Bauunternehmer, Projektentwickler und Makler wurden von staatlichen Stellen dazu gedrängt, mit den Käufern von Eigenheimen vertraglich festzulegen, dass diese weder an Schwarze vermieten noch an diese weiterverkaufen durften. Wurden solche Vorgaben nicht eingehalten, dann weigerte sich (ab 1934) die staatliche Wohnbaubehörde (Federal Housing Authority, FHA), die Projektfinanzierung zu versichern – und ohne diese Absicherung war es fast unmöglich, Hypotheken oder Kredite aufzunehmen.

Als nach dem Zweiten Weltkrieg der staatlich geförderte Wohnungsbau weiter zunahm – um die Kriegsrückkehrer unterzubringen –, unterstützten die FHA und die Behörde für Veteranen, welche zusammen landesweit die Hälfte aller Hypotheken und Kredite versicherten, wiederum ausschließlich Wohngebiete, die zu 100 Prozent weiß waren.

Hinzu kam ab den 1950er Jahren die Stadterneuerung („urban renewal“), das heißt Programme, durch welche nominell innerstädtische Infrastruktur modernisiert, marode Gebiete saniert und auf die Abwanderung in die Vororte reagiert werden sollte. In der Praxis wurden hierbei fast immer zentral gelegene, ethnisch gemischte oder schwarze Wohngebiete zerstört und durch Autobahnen und Bürohäuser ersetzt. Die betroffenen Menschen siedelte man in Sozialsiedlungen um, die vollständig segregiert waren, wobei Weiße stets die solider gebauten Häuser und die besseren Wohnlagen erhielten.

Da Afroamerikaner vom Wohnungs- und Finanzierungsmarkt weitgehend ausgeschlossen waren, musste sie für den wenigen Wohnraum, der ihnen auf dem Markt offen stand, stark überhöhte Preise und Mieten bezahlen, und, mangels Finanzierungsmöglichkeiten, beim Kauf Verträge abschließen, die eine Ratenzahlung vorsahen. Konkret bedeutete das: Wurde auch nur eine Rate nicht oder zu spät bezahlt, fiel die Immobilie zurück an den Verkäufer, und zwar ohne dass die bereits bezahlten Raten erstattet wurden.

„Da Afroamerikaner vom Wohnungs- und Finanzierungsmarkt weitgehend ausgeschlossen waren, musste sie für den wenigen Wohnraum, der ihnen auf dem Markt offen stand, stark überhöhte Preise und Mieten bezahlen.“

Hier und da versuchten Schwarze dennoch, in „weiße“ Wohngebiete zu ziehen. Die Reaktionen reichten von Prozessen, Schikanen bis hin zu tätlichen Angriffen. Letztere wurden von oben begünstigt und angeheizt, denn die Polizei schritt nicht nur nicht gegen sie ein, oft stiftete sie sie geradezu an. Die betroffenen Schwarzen wurden anschließend nicht selten als „Unruhestifter“ angeklagt. Sicher hatten nicht wenige Weiße rassistische Vorurteile, verstärkt und begünstigt wurde diese aber allemal vom Staatsapparat, der keinen Zweifel daran ließ, dass Schwarze in den Domänen der Weißen nichts verloren hatten. Hätten Politik, Justiz und Verwaltung versucht, bestehende, durch die Verfassung garantierte Rechte zu schützen und umzusetzen, wäre es zu derartigen Eskalationen kaum gekommen.

Bedenkt man weiter, dass Schwarze von fast allen höheren Laufbahnen ausgeschlossen waren und in den Jobs, die ihnen offenstanden, deutlich weniger verdienten als Weiße, welche dieselbe Arbeit machten, dass es zudem in jenen Branchen, in welchen überwiegend Schwarze beschäftigt wurden (Landarbeiter und Dienstboten) weder Mindestlöhne noch soziale Sicherungsleistungen gab, und dass Afroamerikaner – und das ist oft noch bis heute so – deutlich höhere Grundsteuern und Versicherungsbeiträge zahlten als Weiße, so ist nicht schwer zu verstehen, warum Schwarze in den USA heute beim Haushaltsvermögen auf weniger als zehn Prozent dessen kommen, was Weißen im Mittel zur Verfügung steht (hier 134.000 Dollar – dort 11.000 Dollar).

„Vor einem halben Jahrhundert war vielen bekannt, die Rassentrennung hat rechtliche Ursachen. Seither haben wir diese historische Erinnerung jedoch verdrängt und uns mit der Vorstellung getröstet, der Grund für all dies sei zufällige Fügung oder das irrige Vorurteil Einzelner. Mehrheitsentscheidungen, welche der Oberste Gerichtshof seit den 1970er Jahren fällte und bis heute fällt, propagieren den Mythos, bei der Rassentrennung handele es sich um eine Tatsache des Lebens, und dieser gängigen Vorstellung hängen heute Liberale und Konservative gleichermaßen an.“ (Richard Rothstein: „The Color of Law“ 1)

„Auch bei der Vergabe von Subventionen oder der Höhe von Versicherungsprämien waren und sind Afroamerikaner oft noch heute deutlich schlechter gestellt als ihre weißen Landsleute.“

Wie eingangs erwähnt, wurden viele der diskriminierenden Praktiken vor Jahrzehnten explizit verboten, was die Wohnverhältnisse angeht, nicht zuletzt durch den „Fair Housing Act“ von 1968. In der Praxis dauerte es allerdings oft lange, bis solche Regelungen vor Gericht durchgefochten und dann auch behördlich durchgesetzt wurden. Andere Praktiken, durch welche Schwarze klar benachteiligt werden, setzen sich bis heute fort. Beispielsweise wurde wiederholt nachgewiesen, dass Afroamerikaner um bis zu 70 Prozent höhere Grund- und Eigentumssteuern zahlen als Weiße, etwas, dass sich nur mit großem Aufwand systematisch überprüfen lässt, da der Wert der Immobilien jeweils lokal von Steuerschätzern bewertet wird. Auch bei der Vergabe von Subventionen oder der Höhe von Versicherungsprämien waren und sind Afroamerikaner oft noch heute deutlich schlechter gestellt als ihre weißen Landsleute.

Sollte man aber nicht dennoch erwarten, dass sich die wohnräumliche Trennung zwischen schwarzen und weißen US-Amerikanern in der Zwischenzeit verringert hat? Warum ist dies nicht der Fall – warum hat sie sich, obgleich viele Hindernisse und Schranken fielen, eher noch verschärft?

Ein Grund sind die gravierenden Nachwirkungen der früheren Diskriminierung. So konnten viele arme Weiße zwischen den 1930er und 1960er Jahren mit staatlicher Unterstützung Wohneigentum erwerben – Eigentum, das heute auch inflationsbereinigt ein Vielfaches des damaligen Wertes hat. Durch solches Kapital (und ihre höheren Löhne und Gehälter) konnten weiße Arbeiter und Angestellte in die Mittelschicht aufsteigen und konnten es sich leisten, ihre Kinder auf bessere Schulen zu schicken und Studiengebühren zu bezahlen. Schwarzen US-Amerikanern fehlt dieses Kapital, wozu noch kommt, dass seit Beginn der 1970er Jahre die Löhne in Berufen mit niedrigem Einkommen stagnieren oder fallen, während gleichzeitig die Immobilienpreise Höhen erreicht haben, die es Menschen ohne hohes Einkommen oder Vermögen fast unmöglich machen, in diesen Markt einzusteigen. Viele Nachkommen weißer Arbeiter haben nicht nur eine gute Ausbildung bekommen, sie haben auch die Immobilien ihrer Eltern oder Großeltern geerbt. Bei Schwarzen ist dies selten der Fall.

Als ob das nicht gravierend genug wäre, sind auch die Gebühren für Privatschulen und Universitäten dramatisch gestiegen. Zwischen 1978 und 2008 erhöhten sich die Studiengebühren um das Zehnfache, und aktuell steigen sie achtmal schneller als die Löhne. Seit den Zeiten der Bürgerrechtsbewegung in den 1960er Jahren gab es eine weitere dramatische Veränderung – die Justiz. Seit 1970 ist durch drakonische Strafen, die auch bei kleinen Vergehen verhängt werden, die Zahl der Strafgefangenen in den USA um 700 Prozent gestiegen, wobei Schwarze sehr stark überrepräsentiert sind: Während einer von drei schwarzen Männern im Gefängnis saß oder sitzt, ist es bei Weißen nur einer von siebzehn. 2 Dies führt nicht nur dazu, dass schwarze Familien zerstört werden, es verschärft auch die Armut und lässt für die Betroffenen wie für die nächste Generation die Bildungs- und Karriereaussichten schwinden.

„Viele Nachkommen weißer Arbeiter haben nicht nur eine gute Ausbildung bekommen, sie haben auch die Immobilien ihrer Eltern oder Großeltern geerbt. Bei Schwarzen ist dies selten der Fall.“

Zu diesen einzelnen, sich wechselseitig verstärkenden Gründen für die anhaltende Segregation schwarzer US-Amerikaner kommt ein grundlegender Aspekt. Es stimmt, durch die Bürgerrechtsgesetze der 1960er Jahre wurden Afroamerikaner den anderen Bevölkerungsgruppen in vielerlei Hinsicht explizit rechtlich gleichgestellt. Das Recht zu wählen, das Recht, ein Verkehrsmittel zu benutzen oder ein Lokal zu betreten, ist aber kaum zu vergleichen, mit dem Recht auf die freie Wahl der Wohnung und dem Anrecht, angemessenen Wohnraum auch zu bekommen. In allen vier Fällen geht es um Rechte, doch zwischen ihnen besteht ein bedeutender Unterschied: Bei Wahlen, beim Busfahren oder beim Restaurantbesuch ist Gleichberechtigung hergestellt, sobald die zuvor bestehende Diskriminierung verschwindet – das heißt, die Zugangshürde ist immateriell, ist bloße Regel. Beim Wohnraum, bei der gesamten gebauten Umwelt, ist dies nicht der Fall. Sie ist mit erheblichen Investitionen verbunden und in den öffentlichen Raum materiell fest eingeschrieben. Die Stadterneuerung der 1950er und 60er Jahre hatte hier großräumig Fakten geschaffen.

Das farbenblinde Amerika

Viel Infrastruktur, viele Gebäude aus der Mitte des 20. Jahrhunderts sind noch heute allgegenwärtig und bestimmen das Ortsbild, die Topografie der USA. Zwischen dem New Deal der 1930er und dem bis in die 1960er Jahre anhaltenden Nachkriegsboom waren die öffentlichen Mittel vorhanden (und die Steuern entsprechend hoch), um im großen Stil zu bauen. Ab den 1970er Jahren war das weniger der Fall, und so bestimmt dieses, wenn auch bröckelnde Erbe bis heute das Gesicht vieler Orte und Städte.

Dennoch würde man eine zumindest schleichende Abnahme der Rassentrennung in der Wohnbevölkerung erwarten, umso mehr, als sich diese über Jahrzehnte auf mehrerlei Art erheblich wandelte, sei es im 20. Jahrhundert durch den Wegzug (vor allem der Weißen) in die Vororte und Speckgürtel, sei es im 21. Jahrhundert durch die Rückkehr in die Innenstädte der (wiederum vor allem weißen) jungen Erwachsenen und der Rentner („empty nesters“), denen das Haus im Vorort zu groß geworden ist. Eine andere Wanderbewegung hat Bill Bishop in „The Big Sort“ 3 analysiert, nämlich die seit etwa 1980 zunehmende räumliche Polarisierung der US-Bevölkerung nach Ansichten, Vorlieben, Lebensstilen – das heißt, Ökos und Liberale ziehen in Viertel, wo Ökos und Liberale wohnen, fundamentalistische Christen dahin, wo ihre Glaubensgenossen leben, Autoverrückte zu Autoverrückten und Lesben zu Lesben. Neu daran ist, dass Wohngebiete nicht mehr allein in sozialer Hinsicht recht homogen sind (das sind sie auch), sondern aus Gründen der Selbstverwirklichung gewählt werden, quasi als verlängerter Ausdruck der eigenen Identität.

„Seit 1970 ist durch drakonische Strafen, die auch bei kleinen Vergehen verhängt werden, die Zahl der Strafgefangenen in den USA um 700 Prozent gestiegen, wobei Schwarze sehr stark überrepräsentiert sind.“

Was diese wohnräumliche Sortierung der weißen US-Amerikaner von der Segregation der Schwarzen unterscheidet ist, dass sie freiwillig erfolgt, das heißt, es ist eine Wahl, die immer mehr Bessergestellte treffen, denen solche Wahlmöglichkeiten offen stehen. Die große Mehrheit der Afroamerikaner kann, wenn überhaupt, nur zwischen Elendsgebieten wählen, und selbst jene, die den Ehrgeiz und die theoretisch vielleicht ebenso ausreichenden Mittel aufbringen, in eine bessere Gegend zu ziehen – dorthin, wo es Arbeit gibt, Geschäfte, öffentliche Einrichtungen und gute Schulen –, können dies sehr häufig nicht. – Weshalb? Die Antwort heißt „zoning“.

Zoning bezeichnet einen Bebauungs- oder Flächennutzungsplan, das heißt eine Verordnung, welche Regeln für eine bestimmte „Zone“ festlegt. Was das konkret bedeutet, soll am Beispiel von Connecticut gezeigt werden. Connecticut liegt an der US-Ostküste zwischen den Bundesstaaten New York und Massachusetts. Es ist einer der kleinsten und einer der wohlhabendsten Staaten der USA (Fläche und Einwohnerzahl ähneln denen von Schleswig-Holstein).

Fragen der Flächennutzung fallen in den USA per Verfassung in die Zuständigkeit der Bundesstaaten, welche diese aber in der Regel weitgehend an die Gemeinden abtreten. Eine Besonderheit von Connecticut ist, dass dort die (acht) Landkreise nur noch dem Namen nach existieren; als Verwaltungseinheiten wurden sie 1960 abgeschafft. Die 169 Städte und Gemeinden des Bundesstaats legen deshalb jeweils ihre eigenen Flächennutzungs- und Bebauungspläne auf.

Man mag das für eine feine Sache halten, denn warum sollten nicht die unmittelbar Betroffenen bestimmen, wie sich ihr Wohnort entwickelt? Verteilten sich die sozialen Schichten und die Ethnien so auf die Gemeinden, dass dies zumindest näherungsweise dem Durchschnitt für den Bundesstaat entspräche, könnte das auch funktionieren. Doch die tatsächliche Verteilung sieht frappierend anders aus.

Seit einigen Jahren untersucht man, wie sich in Connecticut die Lebensaussichten nach Wohnort unterscheiden. Hierzu gibt es fünf Kategorien, nämlich Gebiete, in denen sie sehr niedrig, niedrig, bescheiden, hoch oder sehr hoch sind. Nur zwei Prozent des Gebiets von Connecticut fallen in die Kategorie „sehr niedrig“, während in 30 Prozent des Staats die Aussichten „sehr hoch“ und in 28 Prozent „hoch“ sind. Das klingt erfreulich.

„Die große Mehrheit der Afroamerikaner kann, wenn überhaupt, nur zwischen Elendsgebieten wählen.“

Da sich die Wohnbevölkerung Connecticuts zu annähernd gleichen Teilen auf die fünf Kategorien verteilt, könnte man meinen, dies treffe auch auf die sozialen und ethnischen Gruppen zu. Bedenkt man, dass nur zwei Prozent des Staatsgebiets in die Kategorie „sehr niedrig“ fallen, dort jedoch etwa ein Fünftel der Bevölkerung lebt, dann erkennt man, sehr viele Menschen leben auf engstem Raum in Armutsvierteln. In Connecticut wohnen etwa 50 Prozent der Schwarzen und der Latinos in solchen Gebieten, aber nur 9 Prozent der Weißen. Fasst man die Kategorien „sehr niedrig“ und „niedrig“ zusammen, kommt man auf einen Anteil von 73 Prozent aller Schwarzen und Latinos. Hier besteht ein Zusammenhang mit der Verteilung der Sozialwohnungen, denn diese liegen zu 90 Prozent und mehr in Gebieten, wo die Lebensaussichten in die Kategorien „sehr niedrig“, „niedrig“ und „bescheiden“ fallen.

Wie hängt dies nun mit dem zoning zusammen? Da sich die Regeln für Landnutzung, die Bebauungspläne von Kommune zu Kommune stark unterscheiden, ziehen Menschen, die es sich leisten können, in Gemeinden, die ihren Wünschen entsprechen, beispielsweise dadurch, dass man dort in attraktiven Wohnlagen große Eigenheime bauen kann, viel Grün hat, Bootsanleger, Golfplätze, gute medizinische Versorgung, viele Geschäfte, ausgezeichnete Schulen, etc. Ist das in einer Gemeinde der Fall, ist sie natürlich auch für ärmere Menschen attraktiv – doch dort hinziehen können sie nicht. Verhindert wird das durch Bebauungspläne, die festschreiben, dass an solchen Orten nicht allein Sozialwohnungen verboten sind, verboten ist auch jede Art von Miets- und Mehrfamilienhaus, und für Eigenheime gelten hohe Mindestwohnflächen und Grundstücksgrößen.

„Die Bau- und Landnutzungsgesetze in Connecticut gehören zu den schärfsten und unflexibelsten in den USA. In 96 Prozent aller Städte Connecticuts finden sich in der jeweiligen Bauordnung keine Bestimmungen für sozialen Wohnungsbau (‚affordable housing‘). In 25 Städten ist der Bau von Mehrfamilienhäusern verboten – und dabei ist dies einer der kostenwirksamsten Ansätze, um günstigen Wohnraum zu schaffen.“ (Connecticut Fair Housing Center, 2013 4)

Sehr oft werden derartige Regeln mit Kinder- und Umweltschutz gerechtfertigt, das heißt, mit Argumenten wie eine dichtere Wohnbebauung führe zu mehr Verkehr und gefährde spielende Kinder, zerstöre wertvolle Biotope, verursache viel Abwasser und Müll. Solche Begründungen sind vorgeschoben. An den entsprechenden Orten werden so gut wie alle Kinder per Auto zur Schule gebracht und es wimmelt hier, wo einst Feuchtgebiete waren, von Golfplätzen und Jachthäfen.

„In Connecticut wohnen etwa 50 Prozent der Schwarzen und der Latinos in solchen Gebieten, aber nur 9 Prozent der Weißen.“

Die Folge ist, dass in kleinen Gebieten und in den ärmsten Städten des Bundesstaats – in Bridgeport, Hartford und New Haven – Sozialwohnungen in Elendsgebieten stehen und weiter entstehen, und um diese reihen sich Obdachlosenheime, Therapiezentren für Drogenabhängige, Resozialisierungseinrichtungen für Strafgefangene, Suppenküchen und Hospize. Eine solche Ballung an wenigen Orten bedeutet nicht nur, dass die Menschen dort kaum Chancen haben und in einer Atmosphäre der Hoffnungslosigkeit leben, durch diese Ballung fehlt auch Gewerbe, fehlen solvente Mieter und Eigentümer, sind die Immobilienpreise im Keller – und den Kommunen fehlt es an Einnahmen aus der Grundsteuer und somit an Mitteln, Abhilfe zu schaffen.

Da die Gemeinden, obgleich in einem sehr übersichtlichen Bundesstaat, ethnisch und sozial weitgehend segregiert sind, viele der richtungsweisenden Entscheidungen aber auf lokaler Ebene fallen, sind die Chancen, dass sich an dieser tiefen Spaltung etwas ändert, ausgesprochen gering – und das umso mehr, als Parlament und Behörden auf Landesebene bislang kaum Anstalten machen, auf die Kommunen Druck auszuüben (was sie durchaus könnten).

Eine Gesellschaft im Sinne eines Gemeinwesens, eines „Commonwealth“, das heißt einer Gemeinschaft von unterschiedlichen Einzelnen, die ein Sozialvertrag verbindet, ist in den USA kaum mehr vorhanden. Nicht nur ist das Land gespalten in Schwarz und Weiß, hinzu kommen freiwillige und unfreiwillige Unterteilungen zwischen sozialen Schichten, zwischen Lebensstilen und Identitäten, und diese gehen oft so tief, dass man meinen könnte, man habe es mit Bewohnern unterschiedlicher Planeten zu tun, mit Lebensformen, die Lichtjahre voneinander entfernt existieren.

Überwinden lässt sich diese kleinteilige Spaltung nur durch mehr Einheit – und durch größere Einheiten. Für Connecticut bedeutete dies, Entscheidungen darüber, wer wo leben darf und soll, müssten zumindest auf Ebene der Landkreise, wenn nicht auf bundesstaatlicher Ebene getroffen werden, denn auch die Großstädte sind politisch nicht etwa eine Stadt: Der Ballungsraum um die Hauptstadt Hartford mit seinen gut 1,2 Millionen Einwohnern besteht aus 54 Gemeinden, die sich nach Wohlstand und Sozialstruktur dramatisch unterscheiden.

„Eine Gesellschaft im Sinne eines Gemeinwesens, eines ‚Commonwealth‘, das heißt einer Gemeinschaft von unterschiedlichen Einzelnen, die ein Sozialvertrag verbindet, ist in den USA kaum mehr vorhanden.“

Ohne eine – aktuell nicht absehbare – gesellschaftliche Erschütterung ist die Chance für grundlegende Veränderungen gering. Zwar ist in den letzten Jahren durch Black Lives Matter (BLM) über solche Probleme zumindest wieder berichtet und diskutiert worden, aber das ist nur ein Anfang, und ohne eine große, zielgerichtete politische Bewegung wird er versanden. Hoffnung macht, dass BLM im Jahr 2020 viele Unterstützer außerhalb der schwarzen Community fand (und diese – das war nicht immer so – auch akzeptierte); wenig Hoffnung macht, dass die Bewegung nach wie vor sehr diffus ist, sich ganz überwiegend auf momentane Empörung stützt sowie auf rückwärtsgewandte Symbolpolitik (Statuen etc.), die an den hier umrissenen, riesigen Problemen nicht rüttelt.

In den USA ist nicht nur die soziale und wohnräumliche Trennung sehr tief, so tief, dass die meisten Gruppen und Mikrogruppen sich kaum begegnen und sich oft nur als Fremd- und Feindbild kennen. Im Alltag merkt man dies an den quasi biologischen Begriffen, die verwendet werden, um vermutete Bedrohungen zu beschreiben: Menschen, Beziehungen, Arbeitsplätze sind da „toxisch“ und ein guter Teil der weißen Mittel- und Oberschicht war (lange vor Covid) „germaphobe“ (dt.: „mysophob“), vermeidet im öffentlichen Raum jede Berührung und trägt stets ein Fläschchen Desinfektionsmittel bei sich.

Verschärft wird die soziale, ethnische und geografische Dimension der gesellschaftlichen Spaltung durch Identitätspolitik. Gerechtigkeit sollte bedeuten, durch allgemeingültige Mechanismen wird rechtliche und soziale Gleichberechtigung angestrebt, das heißt, Menschen unterschiedlicher Herkunft, anderer Bildung, ungleichen Einkommens und verschiedenster Ansichten sollen zumindest potentiell die gleichen Chancen haben – was Bildung, Arbeit, Erfolg, Gesundheit und Wohnverhältnisse angeht. Wird Gerechtigkeit umdefiniert in Identität, das heißt in ein „Lass 1000 Blumen blühen, nur blühe eine jede, ihren Wurzeln gemäß, im eigenen Beet“, dann schreibt man die real existierende tiefe Teilung der Gesellschaft fest, erklärt sie zu unserer Natur, und statt Gleichberechtigung bekommt jeder sein eigenes, individuell abgestimmtes Tribal-Tattoo.

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