07.01.2019

Wir sind mehr als unser Geschlecht

Von Joanna Williams

Die heutigen Genderdeterministen haben vergessen, was uns Menschen ausmacht.

Schon vor Beginn der #MeToo-Panik beförderte die permanente Berichterstattung über sexuelle Übergriffe eine Sichtweise, dass mit den Männern von heute irgendwas nicht stimmt. Sexuelle Belästigung und der Drang, Frauen zu missbrauchen, sei eine fest in Männern verankerte Eigenschaft, denn „männliche Mechanismen der Begierde sind von Natur aus brutal“. Für andere sind Männer zwar keine Monster von Geburt an, aber würden zu Sexualstraftätern „durch den Druck, sich einem geschädigten und schädigenden Bild von Männlichkeit anzupassen“. In diesem Sinn kritisieren sowohl Feministinnen als auch Männerrechtsaktivisten eine „toxische Männlichkeit“. Im Zuge der allgemeinen #MeToo-Empörungswelle entwickelten sich weitere Debatten. So kritisierten einige Feministen, dass z.B. Schülerinnen durch die Bezeichnung als „Mädchen“ ständig an ihr äußerliches, biologisches Geschlecht erinnert würden. Dies sei schlecht, weil man von dem biologischen Geschlecht einer Person nicht auf ihr inneres Wesen schließen könne. Abhilfe könnten hier etwa mehr geschlechtsneutrale Toiletten leisten. Hinzu kommen Debatten darüber, ob man Transgenderfrauen gleichermaßen als Frauen ansehen kann.

All dies wirft eine Frage auf: Ist das Geschlecht reine Überzeugungssache? Wenn jemand glaubt, eine Frau zu sein, ist diese Person dann auch eine Frau wie jede andere? So werden heutzutage ehemals selbstverständliche Grundannahmen in Frage gestellt. Wir können z.B. nicht mehr davon ausgehen, dass ein Kind, das von außen wie ein Mädchen aussieht, tatsächlich auch ein Mädchen ist. Obwohl biologisches (‚Sex‘) und soziales Geschlecht (‚Gender‘) heute zunehmend als getrennt voneinander betrachtet werden, erleben wir, wie bestimmte genderspezifische Persönlichkeitsmerkmale und -attribute, häufig als „männliche Mechanismen“ bezeichnet, zunehmend als fest verwurzelte Eigenschaften eines Menschen dargestellt werden – entweder, weil sie durch Vererbung weitergegeben werden, oder als Produkt einer bösartigen Gesellschaft entstehen. Biologische Einschränkungen und sexistische Stereotypen in Frage zu stellen, kann Männern und Frauen zu mehr Freiheit und Selbstbestimmung in ihrem Leben verhelfen. Doch die heute in der Gender-Debatte dominierenden Orthodoxien drohen unserem Verständnis von dem, was Männer und Frauen sein können, neue Grenzen zu setzen.

Die soziale Konstruktion des Geschlechts

Das Ausmaß, in dem die Biologie nicht nur die soziale Rolle und Position einer Person, sondern auch ihre Persönlichkeit und ihren Charakter prägt, wurde seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend in Frage gestellt. Feministinnen wie Germaine Greer argumentierten, dass Frauen nicht von Natur aus unterwürfiger, weniger intelligent oder emotional fragiler seien als Männern, sondern dass Frauen sich nur so verhielten, weil es gesellschaftlich so erwünscht war. Die Unterscheidung zwischen Sex und Gender – biologischem und sozialem Geschlecht –, also auch zwischen Biologie und weiblichen beziehungsweise männlichen Verhalten und Charaktereigenschaften, wurde im Jahr 1955 von dem Psychologen John Money etabliert. Seine Sichtweise, wonach Menschen zwar als Männer und Frauen geboren werden, Weiblichkeit und Männlichkeit aber rein durch die Interaktion mit Familie und Freunden, durch Erfahrungen in Schule und Arbeit sowie durch den Einfluss der Medien und kommerzieller Werbung geprägt werden, entwickelte eine starke Anziehungskraft auf Feministinnen in den 1960er- und -70er-Jahren. Diese Denkschule ging nicht davon aus, dass es keine biologischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen gab oder keinerlei Beziehung zwischen biologischem und sozialem Geschlecht existiert. Es ging vielmehr darum, dass Rollenerwartungen an Männer und Frauen durch soziale, wirtschaftliche und politische Veränderungen aufgebrochen und erweitert werden können, was sowohl Männer als auch Frauen von ihren biologischen Fesseln befreien würde.

„Butlers Ablehnung einer Trennung von biologischem und sozialem Geschlecht, markiert einen Bruch zwischen Gendertheoretikern und radikalen Feministinnen.“

Seit dieser Zeit wird die prägende Kraft der Biologie heruntergespielt, während die von Kultur und Gesellschaft zunehmend an Bedeutung gewinnt. Bilderbücher für Kinder, in denen gezeigt wird, wie Väter zur Arbeit gehen, während Mama zu Hause bleibt; die Rede von Männern als Ärzten und Frauen als Krankenschwestern; bis zu dem weit verbreiteten Bild von Jungen, die mit Spielzeugautos spielen, und Mädchen, die sich um eine Puppe kümmern – all dies wurde dafür kritisiert, Jungen und Mädchen in das Korsett stereotyper Männlich- beziehungsweise Weiblichkeitsvorstellungen zu pressen. Aus der Entschlossenheit, mit der diese Stereotype in Frage gestellt wurden, spricht eine Denkweise, die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen und später zwischen Männern und Frauen nicht als von Natur aus gegeben, sondern als Ergebnis der Sozialisation und des Einflusses von Vorbildern begreift. In dieser Sichtweise sind wir zwar von der Biologie befreit, werden aber gleichzeitig zu nichts mehr als einem Produkt unserer Kultur.

Der soziale Determinismus

Die Gendertheoretikerin Judith Butler geht sogar noch einen Schritt weiter und argumentiert, dass nicht nur unser soziales, sondern auch unser biologisches Geschlecht sozial bestimmt ist. Das soziale Geschlecht, so Butler, wird durch „Performance“ zur Geltung gebracht – es steht jedoch kein „Macher“ oder „Willensakteur“ hinter dieser genderbestimmenden Performance. Butler: „Es steckt keine Geschlechtsidentität hinter den Ausdrücken des biologischen Geschlechts; diese Identität wird performativ von genau den Ausdrücken konstituiert, die irrtümlicherweise als ihr Resultat gesehen werden.“ Der gegenwärtige Fokus auf Geschlechterneutralität müsse über den bloßen Kampf gegen Stereotype hinausführen, da – wie Butler nahelegt – jegliche geschlechtsspezifische Unterteilung eine Asymmetrie der Geschlechter und eine daraus entstehenden sozialen Erwünschtheit bestimmter Verhaltensweisen zur Folge hat. In diesem Verständnis ist das biologische Geschlecht nicht länger von Relevanz für unser soziales Geschlecht – das soziale Konstrukt alleine zählt.

Butlers Ablehnung einer Trennung von biologischem und sozialem Geschlecht, und somit des binären Systems der Geschlechterordnung, markiert einen Bruch zwischen Gendertheoretikern und radikalen Feministinnen. Für radikale Feministinnen ist die Trennung von biologisch und sozial konstruiertem Geschlecht ein wichtiges Mittel, die von ihnen empfundene Unterdrückung der Frauen in Frage zu stellen. Nur so können sie argumentieren, dass Frauen den Männern nicht unterlegen sind oder sich von diesen unterscheiden, sondern dass sie durch die Gesellschaft in untergeordnete Positionen gezwungen werden. Männliche Gewalt gegen Frauen wird hierbei als ein zentrales Mittel angesehen, diesen Zwang auszuüben. Für sie bedeutet Frausein, weiblich und daher von Männern bedroht zu sein.

„Heute wird das biologische Geschlecht als willkürlich betrachtet, während unser soziales Geschlecht angeboren und statisch ist.“

Heutzutage sind es die radikalen Feministinnen (oft als „trans-ausgrenzend“ oder „TERFs“ verspottet), die am stärksten davon ausgehen, das Wesen einer Frau sei mehr als nur eine individuelle Überzeugung. So argumentieren sie, dass Transfrauen nie dieselbe systematische maskuline Gewalt erlebt haben, welche als Frauen geborene Frauen regelmäßig ertragen müssen. Eingeschlechtliche Räume wie Toiletten, Umkleideräume und Gefängnisse sind zu so einem Fokus geworden, weil Frauen – in den Augen radikaler Feministinnen – Orte benötigen, an denen sie vor männlicher Gewalt und Einschüchterung geschützt sind. Solche Räume sind für die Transgenderaktivisten wiederum eine Bedrohung für ihre Fähigkeit, sich unabhängig von beziehungsweise entgegen ihrer Biologie zu definieren.

Die Biologie kommt zurück ins Spiel

Für diejenigen, die im Sinne Butlers argumentierten, dass die Geschlechtsidentität performativ von genau solchen Ausdrücken konstituiert wird, die irrtümlicherweise als ihr Resultat gesehen werden, gewinnt die Biologie wieder an Relevanz. Anstatt der Existenz, die der Essenz vorausgeht, oder der Biologie, die der Performance vorausgeht, wird hier das Verständnis umgekehrt – die Performance prägt die Biologie. Für Peggy Orenstein (Autorin von „Cinderella ate my daughter“) hat die soziale Konstruktion von Geschlecht besonders während der Kindheit eine prägende Wirkung: „Jede Interaktion, jede Aktivität stärkt einige neurale Schaltkreise auf Kosten anderer – und je jünger das Kind, desto größer ist dieser Effekt.“ Mit anderen Worten: Das kindliche Gehirn verändert sich mit geschlechtsspezifischen Erfahrungen, „Anerzogenes wird zur angeborenen Anlage.“

„Die Vorstellung von Geschlecht als sozialem Konstrukt versprach die Befreiung von den Beschränkungen der Biologie.“ Stattdessen ist das Geschlecht heute stärker verankert und essentialisiert als je zuvor. Das Geschlecht ist vielleicht nicht mehr in unseren Genitalien, dafür aber in unseren Gehirnen und seinen Prozessen zu finden. Sowohl Transgenderaktivisten als auch Gendertheoretiker teilen diese Ansicht, dass es grundsätzlich zwei Arten von neuralen Systemen gibt: ein rosa und ein blaues Gehirn. Weil diese stereotypen blauen und rosa Prägungen nicht von Geburt an existieren, sondern durch unser Verhalten entstehen, wird die Handlung, Menschen im Moment der Geburt in eine von zwei Kategorien einzuteilen, zu einer willkürlichen Zumutung. Dies ist eine völlige Umkehr feministischer Positionen aus den 1960er- und -70er-Jahren. Heute wird das biologische Geschlecht als willkürlich betrachtet, während unser soziales Geschlecht angeboren und statisch ist. Das soziale Geschlecht ist in unseren Köpfen zu finden, nicht in unseren physischen Äußerlichkeiten – das, was in unseren Köpfen ist, definiert uns, nicht das, was sich zwischen unseren Beinen befindet.

„Der Evolutionspsychologie prägen die biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern die menschliche Natur.“

Dass das soziale Geschlecht in unseren Köpfen existiert, ist jedoch kein Argument dafür, dass Menschen ihre Genderidentität frei wählen können. So betonen Gendertheoretiker und Transgenderaktivisten stetig, dass das soziale Geschlecht kein bloßes Gefühl oder eine vorübergehende Laune, sondern eine in unseren Köpfen gleichermaßen reale und unveränderliche Eigenschaft wie die Genitalien ist – es ist nur nicht mit bloßem Auge sichtbar. Gemäß dieser Denkweise sind Transgenderpersonen am authentischsten, weil sie auf einzigartige Weise wissen, welche Art von Gehirn sie haben und dementsprechend versuchen, ihre physische Erscheinung in Übereinstimmung mit dieser Vorgabe zu bringen.

Rosa und blaue Gehirne

Im Gegensatz zu der Vorstellung, dass das biologische Geschlecht irrelevant sei und das soziale Geschlecht lediglich mit einer von der Gesellschaft erwarteten Performance einhergeht (also trotz des tiefgehenden Einflusses auf die Struktur des Gehirns ein rein soziales Konstrukt ist), wird jedoch nun erneut von inhärenten biologischen und geschlechterspezifischen Unterschieden gesprochen. So kritisiert Stephen Pinker die Idee des „unbeschriebenen Blattes“ bei Neugeborenen und die Annahme, dass „der menschliche Geist keine inhärente Struktur hat und von unserer Gesellschaft beliebig konstruiert werden kann“. In der Perspektive des unbeschriebenen Blattes würden einerseits Überzeugungen und Wünsche durch Reize und Reaktionen ersetzt, und anderseits der Kultur und Gesellschaft zugeschrieben, anstatt sie innerhalb der Köpfe von Individuen zu verorten. Nach Pinkers Überzeugung verklärt diese Sichtweise auf die menschliche Natur die Gesellschaft und treibt die Identitätspolitik an.

Der Evolutionspsychologie zufolge sind wir weit davon entfernt, ein unbeschriebenes Blatt zu sein, da die biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern die menschliche Natur prägen. Der Beweis für die Existenz natürlicher Geschlechtsunterschiede wird im Verhalten von Tieren und in Eigenschaften, die Menschen in sehr unterschiedlichen Kulturen und historischen Perioden allesamt teilen, gesehen. So haben der evolutionäre Druck sowie die Hormone, denen der Fötus im Mutterleib ausgesetzt ist, zwei unterschiedliche Typen von Natürlichkeit hervorgebracht. Laut Simon Baron-Cohen entstanden so zwei Arten von menschlichen Gehirnen, die „in unserer Neurophysiologie begründet sind“. Baron-Cohens weibliches Gehirn zeichnet sich durch mehr Empathie aus, während in dem typisch männlichen Gehirn stärker systematisiert wird. Cohen weist darauf hin, dass nicht alle Männer ein männliches und nicht alle Frauen ein weibliches Gehirn haben, obwohl er im Großen und Ganzen den Gehirntyp mit dem biologischen Geschlecht verbindet.

Cordelia Fine, Autorin von „Delusions of Gender“ und „Testosterone Rex“, hinterfragt die Theorie hinter neuronalen Geschlechtsunterschieden, den rosa und blauen Gehirnen. Sie weist auf Studien hin, bei denen ein Mann und eine Frau zufällig ausgewählt und bezüglich ihrer Empathie getestet wurden. Demnach schneiden Frauen in etwa 40 Prozent der Fälle schlechter ab als Männer. Sie weist darauf hin, dass psychologische Tests von den Annahmen und Verhalten der Teilnehmer beeinflusst werden: Menschen spielen die geschlechtsspezifischen Erwartungen aus, weil sie denken, es sei sozial erwünscht. Fine leugnet nicht alle neuralen Unterschiede, vielmehr argumentiert sie, dass „die bloße Komplexität des Verstands die Interpretation der Bedeutung von geschlechtsspezifischen Unterschieden im Gehirn zu einer fast unmöglichen Aufgabe macht“. Noch komplexer wird, wie Fine anmerkt, die Einschätzung, was geschlechtsspezifische Unterschiede im Gehirn für Unterschiede im persönlichen Geschlechtsverständnis bedeuten.

„Menschen sind genau so wenig auf ihre Gehirne wie auf ihre Genitalien zu reduzieren.“

Es ist bemerkenswert ist, wie groß die Übereinstimmungen – trotz aller offensichtlichen Gegensätze – zwischen Transgenderaktivisten und Evolutionspsychologen sind: Geschlechtsunterschiede sind fest und angeboren, sie sind in unseren Neigungen und Veranlagungen sichtbar und stammen von unserem weiblichen oder männlichen beziehungsweise rosa oder blauen Gehirn. Der Unterschied zwischen den beiden Gruppen ist die wahrgenommene Beziehung zwischen Körper und Gehirn. Für Transgenderaktivisten ist jede Beziehung völlig willkürlich. Für die Evolutionspsychologen gibt es nicht nur eine starke Korrelation zwischen weiblichen Körpern und rosa Gehirnen, sondern oft auch eine kausale Beziehung.

Mehr als unsere Gehirne

Fines Unterscheidung zwischen Gehirn und Geist ist entscheidend. Menschen sind genau so wenig auf ihre Gehirne wie auf ihre Genitalien zu reduzieren. Unser Bewusstsein, unsere Fähigkeit, im Einklang oder gegen unsere biologischen Anlagen zu agieren, anstatt sich einfach durch diese determinieren zu lassen, unterscheidet Menschen von Tieren. Die Entwicklungspsychologin Helene Guldberg weist darauf hin, dass „unsere genetische Verwandtschaft zu den Menschenaffen nicht unbedingt viel darüber aussagt, was es heißt, ein Mensch zu sein“, weil die Tiere „keine bewusste Wahrnehmung dessen haben, was sie tun“. „Sie können nicht tiefgehend über die beste Vorgehensweise nachdenken, bevor sie handeln“, so Guldberg, „oder anschließend darüber reflektieren, was sie soeben getan haben“.

Mit dem Verfassen von „Das andere Geschlecht“ warf Simone de Beauvoir die Frage nach der individuellen Handlungshoheit von Frauen, ihr Schicksal selbst zu bestimmen, als Antwort auf die damals vorherrschenden biologischen Weiblichkeitskonstruktionen auf. „Es ist nicht die Natur, welche die Frau definiert“, schrieb sie, „sondern sie definiert sich selbst, indem sie sich in ihrem emotionalen Leben mit der Natur auseinandersetzt“. De Beauvoir leugnete nicht den Einfluss der Biologie auf die menschliche Natur, sondern argumentierte, dass die Art und Weise, wie wir auf die Biologie reagieren, sowohl von der Gesellschaft als auch von den Menschen als Individuen bestimmt wird. Guldberg weist ebenso darauf hin, dass die Menschheit einzigartig sei, weil sie Kultur und Zivilisation – und somit sich selbst als Mensch – geschaffen hat.

„Unterschiede zwischen dem typischen Mann und der typischen Frau werden heute wahrscheinlich eher über- als untertrieben.“

Und so kann eine Frau dank des technologischen Fortschritts heute beispielsweise von Zuhause und nur wenige Tage nach einer vermuteten Empfängnis feststellen, ob sie schwanger ist, und mit diesem Wissen ihre weitere Zukunft entwerfen. Vor nur einem Jahrhundert hätte eine Frau, die entdeckt, dass sie schwanger ist, nur wenige Entscheidungen über die weitere Richtung ihres Lebens treffen können. Ein weibliches Tier kann schwanger sein und sich vielleicht sogar in der Folge anders verhalten, aber es hat keine bewusste Wahrnehmung davon. Heute können Frauen (vor allem wohlhabende, westliche Frauen) entscheiden, ob sie mit der Schwangerschaft fortfahren wollen, ob sie weiterarbeiten oder ob sie Vollzeitmutter werden wollen. Was es bedeutet, schwanger zu sein, ist für Menschen und Tiere unterschiedlich und variiert je nach der von den Menschen geschaffenen Gesellschaft und den Vorlieben und Umständen von Individuen.

De Beauvoir betonte so die Fähigkeit einer Frau, ihr eigenes Schicksal zu gestalten. Heute wird diese Sichtweise aus allen Richtungen angefochten. Für einige sind wir ein Produkt der Gesellschaft – der Spielzeuge, die wir bekommen, der Bücher, die wir lesen, und der Medien, die wir konsumieren. Für andere sind wir ein Produkt unsere Gehirne, das manchmal mit unserem physischen Körper korrespondiert und manchmal nicht.

Biologische Geschlechtsunterschiede gibt es sicherlich. Wir können sehen, dass Männer im Durchschnitt größer, schwerer und stärker als Frauen sind. Wenn wir uns die Durchschnittswerte von großen Gruppen von Männern und Frauen ansehen, legt ein Großteil der Studien nahe, dass es noch weitere Unterschiede gibt: „Frauen sind etwas einfühlsamer als Männer, während Männer die Gefühle sexueller Eifersucht stärker wahrnehmen [...]. Männer neigen dazu, in ihrer Vorstellung ein dimensionales Objekt besser rotieren zu können und umgekehrte Eigenschaften zu identifizieren, während Frauen ein Objekt in einem visuellen Feld besser lokalisieren können.“ Im Durchschnitt gibt es also Unterschiede zwischen dem typischen Mann und der typischen Frau, obwohl diese zu einer Zeit, in der wir zunehmend jedes Thema durch das Gender-Prisma zu sehen, wahrscheinlich eher über- als untertrieben werden.

„In dem heute vorherrschenden Verständnis von Geschlecht kommt das persönliche Gefühl der Freiheit zu kurz.“

Die Ursache für diese Unterschiede, das genaue Gleichgewicht zwischen Anlagen und Umwelt, in der Praxis zu bestimmen, ist jedoch eine quasi unmögliche Aufgabe.

Menschen existieren nicht unabhängig von der Gesellschaft als rein biologische Einheiten. Kinder werden in eine bereits existierende Welt mit konstruierten Gegebenheiten geboren, und ihre biologische Natur wird von Beginn an in Interaktion mit anderen Menschen gebracht. Menschen können Sozialisation nicht vermeiden, aber sie können – bis zu einem gewissen Maß – entscheiden, ob sie diese akzeptieren oder ablehnen.

In dem heute vorherrschenden Verständnis von Geschlecht kommt das persönliche Gefühl der Freiheit, über sein eigenes Leben bestimmen zu können und die eigene Persönlichkeit zu formen, zu kurz. Weder die biologische Natur noch unsere Gehirne noch die Gesellschaft legen einfach fest, wer wir sind – wir bestimmen individuell und kollektiv, wie wir auf sie reagieren. Wie Guldberg es formuliert: „Wir sind die einzige Spezies, die nicht durch unsere Biologie eingeschränkt ist. Unsere biologische Natur ist die Voraussetzung für unsere Menschlichkeit, aber unsere Instinkte werden durch menschliches Bewusstsein und Kultur zu etwas weit Bedeutsameren.“

Natürlich kann nicht jeder auf Einflüsse der Natur und Gesellschaft unter selbst gewählten Bedingungen reagieren, und wir werden wahrscheinlich nicht immer die Entscheidungen anderer nachvollziehen können. Die Geringschätzung, mit der viele Feministinnen von Müttern reden, die ihre Töchter rosa kleiden, oder von jungen Frauen, die bei sich eine Schönheits-OP haben durchführen lassen, verdeutlicht jedoch, dass es einige geschlechterspezifischer Entscheidungen gibt, die heutzutage stärker wertgeschätzt werden als andere. Germaine Greer schrieb im Jahr 1970: „Es braucht viel Mut und Unabhängigkeit, ein eigenes Selbstbild zu entwerfen, und nicht der gesellschaftlichen Vorschrift zu folgen – aber es wird mit zunehmenden Fortschritt einfacher“. Heute müssen wir die Sichtweise der vielen verschiedenen Deterministen angreifen, wonach unser soziales Geschlecht definiert, wer wir sind.

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