24.09.2014

Diversity für die Privilegierten

Analyse von Kevin Fuchs

Gender-Mainstreaming fördert nicht die Vielfalt sondern trägt durch Einebnung bestehender Unterschiede zur Gleichförmigkeit bei. Dabei setzen privilegierte Gruppen ihre Interessen durch, während die wirklich Benachteiligten kaum Gehör finden.

Auf den ersten Blick scheinen die Begriffe Freiheit und Führung unvereinbar – eine Täuschung, wie sich bei näherem Hinsehen zeigt. Denn in Wahrheit bilden sie ein Paar, zwei widerstreitende Pole, die sich wechselseitig bedingen. Freiheit und Führung sind vorderhand entgegenwirkende Paradigmen, die in jeder Form selbstregulierender Systeme, ob ökonomischer, politischer oder sozialer Natur, wirken.

Dieser systemtheoretischen Grundannahme folgend können wir „Freiheit“ auch mit „Selbstorganisation“ und „Führung“ mit „Kontrolle“ übersetzen und erhalten doch dieselbe Bedeutung. „Freiheit“ meint die Möglichkeit des einzelnen Elements, sich in einem System selbstbestimmt zu bewegen und zu entwickeln. „Führung“ beschreibt die Einschränkung des einzelnen zum Wohle und zur Funktion des Ganzen. Es gilt, beide Paradigmen in einem Gleichgewicht zu halten. Ganz danach, was ein solches System zu sein und zu leisten bestimmt ist, gilt es, das Prinzip der Freiheit jenem der Führung oder umgekehrt das Prinzip der Führung dem der Freiheit voranzustellen.

Bei freiheitsliebenden Menschen werden sich bei solchen theoretischen Überlegungen vielleicht Beklemmungen einstellen. Manch einer fühlt sich bei Systemtheorien unwohl, da viele von ihnen von einem strukturalistischen Gesichtspunkt ausgehen. Menschen scheinen darin auf die Funktion reduziert, ihr Handeln so auszurichten, dass es das System erhält. Letzteres – das System – ist dabei offenkundig das Maß, der Mensch hingegen ist dem System untergeordnet.

Solch ein Verständnis liegt uns fern. Wir gehen hier davon aus, dass der Mensch die Systemstrukturen mit- und umformt und nicht allein das System über den Menschen bestimmt. In einem System, das sich den Menschen unterordnet, kann nur wenig Großes erwachsen, da es jedes Potential zur Selbstbildung bis zum Stillstand hemmt.

„In einem System, das sich den Menschen unterordnet, kann nur wenig Großes erwachsen, da es jedes Potential zur Selbstbildung bis zum Stillstand hemmt.“

Vor diesem theoretischen Hintergrund soll im Folgenden anhand eines Beispiels untersucht werden, wie ein System beschaffen sein müsste, in dem sich jeder Einzelne seinen ihm eigentümlichen Anlagen entsprechend entfalten kann. Es geht also darum zu fragen, wie die seit geraumer Zeit vielbeschworene Forderung nach „sozialer Vielfalt“ – auch Diversity genannt – erfüllt werden kann. Dabei setzen wir voraus, dass in einem solchen System der Vielfalt das Paradigma der Freiheit demjenigen der Führung vorzuziehen ist. Es müssten also drei Grundannahmen erfüllt sein: Erstens sollte das System zur Selbstorganisation befähigt sein. Zweitens, und dies bedingt das Erstere, sind Hierarchien flach und wenig streng zu halten, es muss ein Bottom-Up-Prinzip gelten. Drittens muss es möglichst viele Optionen für den Einzelnen geben. Der Einzelne muss über die Freiheit verfügen, frei zu wählen, welcher Pfad ihm der genehmste und passendste ist.

Vielfalt oder Gender-Mainstreaming

Als praktisches Beispiel für meine systemtheoretischen Überlegungen wähle ich den „Geschlechterkampf“. Ein müßiges, breitgetretenes Thema, mag manch einer denken. Aber, wie kaum ein zweites erhitzt es die Gemüter, und nimmt in Politik und Medien viel Raum ein – oft in Form billiger Wiederholungen, so dass man seiner überdrüssig werden mag. Gerade deshalb zeigt sich auf keinem anderen Gebiet so klar, zu welchen Missgeschicken und Irrtümer es kommen kann, wenn die Grundgestalt aller Vielfalt unverstanden bleibt, wenn Lobby-Wirken das vereinnahmt, was eigentlich dem Wohl des Einzelnen dienen sollte. Anhand der gegenwärtigen Gleichstellungspolitik zeigt sich, wie der wohlmeinende Anspruch, die Vielfalt zu fördern, zu einer Politik der Fremdbestimmung entstellt wird.

Kaum einer kommt umhin, mal hier mal dort einen ganz besonderen Begriff aufzufinden, ein Ungetüm an Sprachverwirrung – das sogenannte „Gender-Mainstreaming“. Übersetzen lässt sich dieses Wortgeschwür nicht wirklich. „Geschlechtliche Gleichströmung“, das klingt schon grausig. So irreführend dieser Begriff erscheint, so löblich ist der dahinter liegende, ursprüngliche Grundgedanke. Zumindest in der Theorie ist der Ansatz des Gender-Mainstreaming ein überaus moderner und in klassischem Sinn ein die Gleichberechtigung tatsächlich fördernder. Es soll, so wird es angepriesen, die Frauenförderung durch ein Konzept ersetzt werden, das die Belange und Bedürfnisse beider Geschlechter gleichermaßen in den Blick nimmt. Aus einer spaltenden Politik der Kompensation von mutmaßlich privilegierten Männern und mutmaßlich schlechter gestellten Frauen soll sich eine zeitgemäßere bilden, die ohne Täter-Opfer-Polarisationen auskommt und strukturelle Benachteiligungen auf weiblicher, wie auch männlicher Seite als systemische Erscheinung versteht. In einem Atemzug wird darum auch von „Diversity“ – Vielfalt eben – gesprochen, nämlich der Vielfalt an Lebenswegen, Lebensumständen und Lebenswelten der Geschlechter.

„Gender-Mainstreaming soll eine ‚Querschnittsaufgabe‘ verkörpern, die ‚Top-Down‘ von der Politik zu implementieren ist.“

Das alles klingt durchaus vielversprechend, ist es aber nicht. Gender-Mainstreaming soll nach politischer Weisung eine „Querschnittsaufgabe“ verkörpern, die „Top-Down“ von der Politik zu implementieren ist. Der aufmerksame Leser wird an dieser Stelle aufhorchen. Schließlich haben wir wohlweislich formuliert, dass ein diversitätstaugliches System das Paradigma der Führung nicht voranstellen darf. Begrifflichkeiten wie „Top-Down“ und „Querschnittsaufgabe“ lassen uns jedoch vermuten, dass es genau darum geht – wenn nicht gar um autoritäre und totalitäre Anwandlungen. Und in der Tat, angesichts der Details und der praktischen Umsetzung des Gender-Mainstreaming zeigt sich wenig Vielfalt, wenig Freiheit, dafür aber jede Menge Arroganz eines bevormundenden, paternalistischen Staates.

Verordnete Einfalt

Das „Top-Down“-Prinzip kann nur eine Führung aus der Vogelperspektive zur Konsequenz haben. Mit dieser Sicht von oben, weit entrückt, sind die individuellen Eigenschaften und Belange – demnach die Vielfältigkeit – von Männern und Frauen nicht mehr zu erkennen. Wer eine ganze Bevölkerung aus solcher Ferne betrachtet, wird unweigerlich verführt, Männer und Frauen jeweils in homogene Gruppen zu entzweien. Das führt zu Pauschalrezepturen für Männer auf der einen und Frauen auf der anderen Seite und einer zwangsläufigen Blindheit für das Besondere, für das der Blick doch gerade geschärft werden sollte: Vielfalt eben und nicht Einfalt in Form fabrizierter Dichotomien von in sich gleichförmigen aber einander entgegenstehenden Gruppen.

Der schwerwiegendste Denkfehler enthüllt sich in der künstlichen Erzeugung einer sozialen Grenze, wo mit großer Gewissheit keine ist: einer Grenze, die – gemäß dem Willen ihrer geistigen Schöpfer – nicht mehr zwischen sozioökonomischen Unterschieden, sondern zwischen Männern und Frauen zu verlaufen hat. Ausgerechnet zwischen Männern und Frauen, die sich seit jeher symbiotisch miteinander arrangierten, soll sich demzufolge die zentrale Kluft auftun, welche – und dies täuscht uns der gegenwärtige Diskurs vor – über alle anderen Gräben, darunter auch die benannten sozioökonomischen Differenzen, hinweg dominiert – ein historischer Bruch im Denken!

Gender Mainstreaming teilt Menschen demnach in homogene Gruppen, verbunden mit simplen Rezepturen jeweils für die einen und die anderen. So werden Frauen ebenso wie Männer gezwungen, sich ihrer individuellen Bedürfnisse und Anlagen zu entledigen und sich mit eben jenen Pauschalrezepturen zu begnügen – Einfalt statt Vielfalt.

Weitaus verhängnisvoller ist allerdings das folgende strukturelle Debakel: Das eigentlich modern gedachte Gender-Mainstreaming wird bis heute von genau jenen Gleichstellungskörperschaften umgesetzt, die bereits während der vergangenen Jahrzehnte nur der klassischen Frauenförderung dienten. Auch die zugrunde liegenden Gleichstellungs- und Chancengleichheitsgesetze der Länder sind nach Duktus und Inhalt nach wie vor Frauenfördergesetze. Zwar ist in den Präludien solcher Gesetze immer euphemistisch von der „Gleichstellung von Männern und Frauen“ die Rede. Im Einzelnen liegt der Fokus jedoch meist ausschließlich auf Frauen. Männer sind hier nur am Rande thematisch. Besonders deutlich wird das angesichts der von den Gleichstellungsbeauftragen passiv wie aktiv getroffenen Wahl. Hier sind Männer im Allgemeinen ausgeschlossen. „Gleichstellung von Männern und Frauen“ wird immer noch als Kompensationsmechanismus zu Ungunsten von Männern und zu Gunsten von Frauen verstanden. Den Männern ist demzufolge etwas zu nehmen, was den Frauen zu geben ist.

So zeigt sich das wahre Gesicht hinter der Maske des vielgelobten Gender-Mainstreaming und der noch mehr gelobten „Diversity“: Ein vordergründig neues, modernes Konzept soll auf Grundlage alter Gesetze, alten Personals und alter Strukturen umgesetzt werden. Letztlich handelt es sich hier nur um eine Reinkarnation der langgewohnten, stupiden Frauenpolitik. Damit wurde außerdem der verstaubte Mythos vom herrschenden Mann und der unterdrückten Frau neu belebt und am Leben erhalten. Die Gleichstellungspolitik durchlief somit nicht die kleinste Spur einer Evolution. Echte „Diversity“ ist nirgends auszumachen. Angesichts dieser Umstände kann man es den Gleichstellungsbeauftragten nicht verübeln, dass sie unfähig sind, Gender-Mainstreaming in seinem eigentlichen Sinne umzusetzen. Sie waren, sind und bleiben Frauenbeauftragte und können sich selbst nur so verstehen. Es kann diesen Frauen kaum abverlangt werden, auch männliche Belange zum Gegenstand ihres Auftrags zu machen und den Männern kann man nicht zumuten, von solchen Frauen vertreten zu werden.

Feministische Elitenförderung

Ein Wandel ist hier per se nicht möglich – dafür gibt es noch einen weiteren Grund: Im Laufe der zurückliegenden Jahrzehnte hat der Feminismus beeindruckende Netzwerke und Strukturen geschaffen, welche zwischenzeitlich zu einem beachtlichen Machtfaktor angewachsen sind. Das große Netzwerk an Gleichstellungsstellen und feministischen Interessenverbänden ist zu einem staatsfeministischen Organismus geworden. Was einst als Graswurzelbewegung begann, ist heute zum elitären Establishment erstarrt, das mehr damit beschäftigt scheint, seine eigenen Territorien zu sichern als wirkliche Veränderung voranzutreiben. Dieses Establishment weiß die „Top-Down“-Gestalt des Gender-Mainstreaming sehr geschickt und effizient zu nutzen. Schließlich sind „Top-Down“-Ansätze in ihrer Architektur ausgesprochen anfällig für die Vereinnahmung durch Lobbyisten.

„Was einst als Graswurzelbewegung begann, ist heute zum elitären Establishment erstarrt, das mehr damit beschäftigt scheint, seine eigenen Territorien zu sichern als wirkliche Veränderung voranzutreiben.“

Wenn nämlich im Kontext einer solchen „Top-Down“-Strategie zwischen Benachteiligten und Privilegierten unterschieden werden soll, so kristallisieren sich nicht diejenigen heraus, die wirklich benachteiligt sind. Vielmehr wird das Merkmal des Benachteiligten jenen aufgesetzt, die sich sowohl in der Öffentlichkeit als auch gegenüber Entscheidungsträgern am lautstärksten und kunstvollsten als benachteiligt darzustellen verstehen. Man darf aber – ganz im Gegenteil – weiterhin annehmen, dass höchst wahrscheinlich gerade diejenigen am stärksten benachteiligt sind, die im öffentlichen Diskurs und gegenüber Entscheidungsträgern am schwächsten vertreten sind und demzufolge die leiseste Stimme haben. Gerade die Privilegierten übertönen in einem solchen System die eigentlich Benachteiligten. Es verwundert darum keineswegs, dass die bedeutendste Grenze zwischen Privilegierten und Unterdrückten heute nicht mehr entlang sozioökonomischer Verhältnisse sondern zwischen Männern und Frauen imaginiert wird. So beansprucht die theatralisch inszenierte und aufgeblähte Benachteiligung von Frauen aus privilegierten Verhältnissen gegenüber Männern aus ebenso privilegierten Verhältnissen, wie man es etwa bei den aktuellen Debatten über Frauenquoten in wissenschaftlichen oder wirtschaftlichen Spitzenpositionen erlebt, übermäßig großen Raum, zumindest im Vergleich etwa zu Migranten, Behinderten oder Armen.

Gender-Mainstreaming ist wohlgemerkt nur eine, wenngleich hervorstechende Facette von etwas Allgemeinerem, Größerem. Es ist Teil einer kardinalen, relativ jungen Strategie – den sogenannten „positiven Maßnahmen“. Hiernach gilt es als Pflicht des Staates, benachteiligte Gruppierungen auszumachen und sie zwecks Kompensation zu privilegieren, sie letztlich also „positiv“ zu diskriminieren. Alles Ungleiche soll so zur Gleichung eingewogen werden.

Jedoch – und das ist eine Frage von einiger Tragweite – wer soll in den Genuss dieser „positiven Maßnahmen“ kommen? An wen soll das Etikett der „Benachteiligung“ vergeben werden? Und wer mag berufen sein, über all dies zu urteilen? Etwa der Staat? Wie soll dieser sich ein objektives Urteil bilden können? Wie weiß er die Benachteiligten von den Privilegierten, die Würdigen von den Unwürdigen zu unterscheiden? Die Antwort hierauf ist so simpel wie enttäuschend. Er kann es nicht.

Führung schlägt Freiheit

Wie bei der Gleichstellungspolitik, erringen diejenigen, mit den weitesten und effektivsten Netzwerken, Deutungshoheit. Die Gewinner sind dieselben, die im Stande sind, sich auf politischer und medialer Bühne am eindrücklichsten als Opfer zu inszenieren. Sie sind es, die im Diskurs am besten repräsentiert und munitioniert sind. Zwangsläufig bestimmen Pressure-Groups, wer als diskriminiert zu gelten hat und wem in der Folge Kompensation in Gestalt von Vorteilen einzuräumen ist. Die Stillen und Schwachen dürfen sich der Aufmerksamkeit und Hilfe der Gemeinschaft keineswegs sicher wähnen. Viel eher sind es eher die Starken und Lauten, denen – auf Kosten ersterer – eine wohlige Sänfte geschenkt wird. Der Unbegriff der „positiven Maßnahme“ bleibt eine Täuschung, eine Camouflage wenig Benachteiligter, die uns vormachen, indem wir sie stärken seien wir keineswegs durch ihr Eigeninteresse manipuliert, sondern vollbrächten ein mildtätiges Werk.

„Die Stillen und Schwachen dürfen sich der Aufmerksamkeit und Hilfe der Gemeinschaft keineswegs sicher wähnen. Viel eher sind es eher die Starken und Lauten, denen – auf Kosten ersterer – eine wohlige Sänfte geschenkt wird.“

Alledem liegt der unbedachte Irrglaube zu Grunde, Vielfalt und Gleichberechtigung könne von oben verordnet und nach unten hin durchgestaltet werden, wofür es lediglich einer wohlmeinenden Führung bedürfe. Das speist sich aus der Utopie einer allwissenden, alles sehenden Regierung, allzeit imstande, jede Ungerechtigkeit aus der Ferne zu erkennen und zugleich das Gegenmittel in der Hand zu führen.

Dazu kommt die kindlich naive Annahme, „positive Maßnahmen“ seien bar jeder Gefahr einer Okkupation durch Fremdinteressen. Jedoch sind sie, wie alle Top-Down-Ansätze gerade dafür besonders empfänglich, ja geradezu prädestiniert. Früher oder später sind sie unweigerlich von Fremdinteressen getragen. Somit sind Top-Down-Strategien wie Gender Mainstreaming, beziehungsweise „positive Maßnahmen“ generell vor allem Mechanismen zur Durchsetzung von zweckfremden Interessen. Sie sind damit Herrschafts- und Führungsinstrumente – Führung steht hier also über Freiheit. Folgerichtig werden auf diesem Wege Vielfalt und Gleichberechtigung nicht vermehrt sondern erstickt.

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