20.09.2016

Wie der Westen sich selbst terrorisiert

Analyse von Frank Furedi

Titelbild

Foto: Anthony Delanoix via unsplash (CC0)

Der Westen muss den Islamismus schlagen. Und zwar auf dem Schlachtfeld der Ideen.

Im Jahr 2015 begann ein größer werdender Teil der Öffentlichkeit, den hausgemachten Terrorismus mehr als zu irgendeiner anderen Zeit seit dem 11. September als Bedrohung wahrzunehmen. Das Massaker an der Charlie Hebdo-Redaktion im Januar schürte bestehende Ängste über eine aufkommende Terrorbedrohung weiter an. Diese steigerten sich, als zwei Menschen Mitte Februar 2015 im dänischen Kopenhagen von einem Islamisten erschossen wurden. Das Massaker an 30 britischen Touristen in Tunesien bewies, dass Dschihadisten alle Nicht-Muslime als Angriffsziel verstehen. Was den Europäern aber wirklich den Angstschweiß auf die Stirn trieb, waren die mörderischen Attacken des 13. Novembers in Paris. Der Mord an vierzehn Menschen im kalifornischen San Bernadino wenige Wochen später erwies sich als amerikanisches Äquivalent.

Global gesehen stellen die vergleichsweise geringen Zahlen terroristischer Aktivitäten in Europa und den USA keine signifikante Bedrohung der westlichen Lebensweise dar. Was diese Angriffe aber bedrohlicher erscheinen lässt, ist ihre Verbindung mit dem weltweiten Aufstieg des Dschihadismus. Man denke nur an die Schlachtfelder in Afghanistan, Nordafrika, Libyen, Irak und nicht zuletzt Syrien. Westliche Interventionen haben sich dort als außerordentlich ineffektiv erwiesen. Die einzigen Kräfte, die erfolgreich dem IS Paroli geboten haben, sind die sehr überzeugten kurdischen Milizen und vom Iran angeführte Kämpfer im Irak.

Die Lage auf dem Schlachtfeld der Ideen ist eher noch beunruhigender. Wie einflussreich der sogenannte Islamische Staat geworden ist, zeigt sich in der Bereitschaft tausender junger Muslime aus westlichen Gesellschaften, nach Syrien zu reisen und dort ihr Leben für den „heiligen Krieg“ zu riskieren. Was sich westliche Regierungen dabei nicht eingestehen möchten: Viele normale und idealistische muslimische Teenager fühlen sich zu einer kulturellen Weltanschauung hingezogen, die westliche Gesellschaften und deren Werte verachtet.

Drohende Niederlage im Kampf der Ideen

Die Reaktion von Teilen der muslimischen Gemeinschaft auf die Attentate in Paris ist von erheblicher Bedeutung. Zweifellos reagierten viele schockiert auf die Massaker, die im Namen des Islams begangen worden waren. Einige junge Muslime beurteilten sie jedoch eher ambivalent.

Dies zeigte sich in den Nachwehen des Charlie Hebdo-Anschlags. In vielen Pariser Banlieus wurde nur wenig um die Opfer getrauert. Zahlreiche französische Lehrer berichteten von einigen Migrantenkindern, die eine zutiefst ablehnende Haltung gegenüber den Opfern der Terroristen zum Ausdruck brachten. Andere sagten, dass sich einige Kinder weigerten, die offizielle Version der Ereignisse zu akzeptieren. Darüber hinaus lehnten es viele dieser Kinder ab, an der Schweigeminute für die Opfer teilzunehmen. Ihre Lehrer wussten nicht, wie sie darauf reagieren sollten.

Diese Reaktion vieler junger muslimischer Schulkinder auf den Charlie Hebdo-Anschlag ist nahezu deckungsgleich mit den Ergebnissen öffentlicher Umfragen bezüglich des IS. In einer britischen Studie aus dem Jahr 2015, für die 2000 Erwachsene befragt wurden, gaben neun Prozent an, eine positive Meinung über den Islamischen Staat zu haben; sechs Prozent vertraten eine „einigermaßen“ positive Sicht. Trotz der Berichte über die zahlreichen vom IS begangenen Gräueltaten ist die positive Einstellung ihm gegenüber im letzten Jahr um zwei Prozentpunkte gestiegen.

Öffentliche Meinungsumfragen sind immer schwierig zu interpretieren. Was die Befragungen jedoch nahelegen, ist, dass eine signifikante Minderheit britischer Muslime für einige der Ideale des IS Sympathien hegt. Die Mehrheit dieser Sympathisanten ist wahrscheinlich passiv und wünscht sich nicht, tatsächlich nach Syrien zu reisen. Wie dem auch sei, diese Umfragen zeigen, dass die Ideen radikaler Glaubenskrieger in der britischen Gesellschaft Fuß gefasst haben. Es lässt sich zumindest aus der Studie herauslesen, dass eine nicht unbedeutende Zahl der britischen Muslime ihrem Frust gegenüber der Welt und vor allem gegenüber dem Westen durch Sympathien für den IS Ausdruck verleiht.

In Frankreich und Spanien untersuchten Meinungsforscher ebenfalls den Rückhalt für den IS. Das Ergebnis: „Unter jungen Menschen in den Sozialsiedlungen der Pariser Vororte konnte eine weitreichende Toleranz bis Sympathie für die Werte des IS und selbst für die brutalen Verbrechen in deren Namen festgestellt werden. In Spanien konnte innerhalb einer großen Bevölkerungsstichprobe nur wenig Bereitschaft dafür ausgemacht werden, demokratische Werte gegen Angriffe zu verteidigen.“

Derzeit ist nur eine winzige Minderheit bereit, aktiv für den IS zu kämpfen. Die Tatsache, dass es eine signifikante Zahl passiver Unterstützer gibt, ist jedoch bedrohlich.

„Die europäische Gesellschaft hat Schwierigkeiten, eine adäquate Antwort auf den Krieg gegen ihre eigene Lebensart zu formulieren.“

Nirgendwo ist dies offensichtlicher als in der Art und Weise, wie der 11. September von vielen Sektionen der westlichen Gesellschaften wahrgenommen wird. Weite Teile der muslimischen Gemeinden glauben bereitwillig an 9/11-Verschwörungstheorien, vor allem solche, wonach es sich dabei um ein jüdisches Komplott handelt. Von IS und ähnlichen Gruppen vertretene Weltanschauungen üben heute einen viel größeren Einfluss als noch vor drei oder vier Jahren aus. Es gibt heute viel mehr Menschen, die Anschläge wie jene in Paris klammheimlich begrüßen.

Der wachsende Einfluss radikal-islamistischer Einstellungen wird von einer wachsenden politischen wie moralischen Desorientierung der europäischen Öffentlichkeit begleitet. Die europäische Gesellschaft hat Schwierigkeiten, eine adäquate Antwort auf den Krieg gegen ihre eigene Lebensart zu formulieren. Man erkennt das besonders deutlich, wenn sich Lehrer beklagen, wie schwer es sei, „kontroverse“ Themen wie den 11. September oder den Holocaust in den Klassenräumen anzusprechen. Einige Lehrer meiden diese Themen vollkommen.

Frankreich und viele andere europäische Staaten versagen bei der Sozialisierung eines signifikanten Teils der jungen Menschen. Viele dieser Jugendlichen klammern sich an ein islamistisches Gegen-Narrativ, das die Werte der Aufklärung in Frage stellt und dschihadistische Identitätspolitik zelebriert. Ein Ziel der Pariser Attacken bestand darin, solche antiwestlichen Ressentiments in eine aktivere Kraft innerhalb der europäischen Gesellschaften zu verwandeln.

Für eine Minderheit von jungen Menschen bietet der Dschihadismus ein Ventil für ihren Idealismus. Ferner stellt er eine kohärente und provokative Identität bereit, eine Variante der „coolen“ Narrative anderer Online-Subkulturen. Das Verhalten von Jugendlichen, die sich zu dschihadistischen Websites hingezogen fühlen, unterscheidet sich nicht sonderlich von dem Verhalten nicht-muslimischer Teenager, die sich auf nihilistischen Internetseiten herumtreiben und sich von destruktiven Inhalten und Bildern faszinieren lassen. Die destruktiven Inhalte auf dschihadistischen Seiten sind schlicht und ergreifend mit einem destruktiven politischen Anliegen verbunden.

Die Tücken des Multi-Moralismus

Warum sind so viele junge Muslime der Gesellschaft feindlich gesinnt, in der sie geboren wurden? Viele geben antimuslimischen Vorurteilen, ökonomischer Benachteiligung oder dem Nahostkonflikt die Schuld dafür. Es mag wohl sein, dass solche Angelegenheiten zu Verbitterung innerhalb muslimischer Gemeinschaften geführt haben. Aber Muslime sind bei weitem nicht die einzige Gruppe, die Vorurteile und Benachteiligungen erfahren musste. Es zeichnet die europäischen muslimischen Subkulturen aus, dass sie relativ autark sind und ein hohes Bedürfnis an der Aufrechterhaltung von Grenzen zwischen sich und anderen empfinden.

Wie soziologische Untersuchungen aufzeigen, sprechen Mitglieder von Subkulturen häufig anders miteinander als die Menschen in der übrigen Gesellschaft und vertreten andere Überzeugungen. Das trifft auf radikale Muslime wie andere Gruppen gleichermaßen zu. Muslimische Gegenkulturen schöpfen Wissen und Werte aus ihrer eigenen Quelle – also Ideen und Haltungen, die solche Kulturen auszeichnen. Unglücklicherweise stellen distinktive, kulturell definierte Wissensquellen auch einen fruchtbaren Boden für die Erzeugung und Verbreitung verstörender Meinungen und Gerüchte bereit. Unter solchen Umständen verwandeln sich Mythen über jüdische oder amerikanische Verschwörungen schnell zu selbstverständlichen Fakten. Hinzu kommt, dass solche „Fakten“ und Überzeugungen kaum in der Öffentlichkeit geprüft werden und so zu tiefsitzenden Vorurteilen werden können.

Das Fehlen einer Debatte über die heiklen Themen, die muslimische Subkulturen vom Rest der Gesellschaft trennen, ist auch eine unbeabsichtigte Folge der multikulturellen Politik. Der Multikulturalismus hat es nicht geschafft, eine moralische und kulturelle Perspektive zu entwickeln, die alle Teile der Gesellschaft miteinbezieht. Stattdessen hat sie eine kulturelle Segregation mit dem Ergebnis eines Multi-Wertesystems gefördert: zahlreiche Wertevorstellungen, die Seite an Seite existieren, von denen aber keine gebührend diskutiert oder herausgefordert wird. Aus diesem Grund kann das Bild einer Enthauptung bei dem einen inspirierend wirken, beim anderen die schlimmsten Albträume auslösen. Solche moralisch polarisierenden Reaktionen auf dasselbe Ereignis sind das Ergebnis einer Gesellschaft, in der sich die kulturelle Segmentierung durchsetzt.

Jahre vertaner Möglichkeiten

Auf den ersten Blick ist die Ursache für den wachsenden Einfluss radikaler dschihadistischer Haltungen auf junge Muslime in westlichen Gesellschaften schwer auszumachen. Im Anschluss an die Aufstände in Oldham, im Nordwesten Englands 2001, sprach ich mit muslimischen Studenten über ihre Eindrücke vom Leben in Großbritannien. Aus den meisten sprach eine große Verbitterung und in Teilen sogar Hass. In den frühen 2000ern war ihre Antwort allerdings in eine Sprache der Desillusionierung und Enttäuschung gekleidet. Ihre Kritik richtete sich nicht gegen „menschengemachte Gesetze“ oder die Demokratie, sondern gegen das Versagen der Gesellschaft, sich an ihre Versprechen zu halten.

Seit 2001 haben sich die Einstellungen der jungen Muslime gegenüber ihrer Gesellschaft verhärtet und in ihrem Wesen verändert. Einige möchten nicht mehr, dass ihre Klagen gehört werden. Sie möchten sich stattdessen in einem anderen moralischen Universum ansiedeln. Es gibt verschiedene Gründe für diesen radikalen Einstellungswandel. Für viele Muslime war der militärische und terroristische Erfolg dschihadistischer Gruppen ermutigend. Geschichten, wie Individuen oder eine Gruppe von „Kämpfern“ – etwa die Boston-Bomber –die amerikanische Öffentlichkeit in Angst versetzt haben, sprechen einige junge Männer und Frauen an, die auf der Suche nach Helden sind.

Der größte Einflussfaktor für den Aufstieg des Dschihadismus in der westlichen Welt ist aber die hier vorherrschende Opferkultur. In den vergangenen Jahrzehnten hat das Opfer einen beinahe heiligen Status erhalten. Anspruch auf einen Opferstatus zu erheben, ist weit verbreitet. Es sollte also kaum verwundern, dass eines der stärksten Leitmotive in der radikal-islamistischen Propaganda die Darstellung des Islams als universelles Opfer westlicher Aggressionen ist. Dschihadisten stellen nahezu jedes lokale und globale Unglück, das Muslime trifft, als Folge eines anhaltenden und dauerhaften Kreuzzuges des Westens gegen die muslimische Welt dar.

Dschihadistische Medien präsentieren den Muslim als ewiges Opfer. So gesehen stellt jedes Verhalten, das nicht in Einklang mit der Weltanschauung des politischen Islams steht, einen Akt der Schikane dar, sprich: eine Beleidigung des Islams. Unter solchen Umständen wird die Reaktion auf eine solche Provokation gleichermaßen durch die islamistische Ideologie und durch den westlichen Opferkult legitimiert. Selbst der Anspruch des IS, die goldene Ära des Islams wiederherzustellen, ist mit den Worten des US-amerikanischen Literaturtheoretikers Edward Said von der „scheinheiligen Frömmigkeit der historischen bzw. kulturellen Opferrolle“ durchzogen. So gesehen sind die nach Syrien reisenden Glaubenskrieger ebenso ein Produkt des traditionellen Islams wie sie ein Produkt der westlichen Opferkultur sind, die das Opfersein heiligspricht.

„Wir brauchen keine Reaktion auf die Anschläge und Bedrohungen, sondern eine moralische und intellektuelle Erklärung.“

Und doch reagieren Dschihadisten nicht einfach nur auf die westliche Lebensweise. In den letzten Jahren haben Gruppen wie der IS den Idealismus vieler junger Menschen angesprochen. Was den meisten Europäern barbarisch und mittelalterlich erscheint, verstehen manche junge Menschen als Bewegung, die ihnen Zielstrebigkeit und Bedeutung bietet. Dass einige junge Muslime das Kalifat als etwas Positives empfinden, liegt auch daran, dass der Westen unfähig ist, jungen Menschen seine eigenen Werte und Visionen zu vermitteln.

Bis heute haben sich westliche Regierungen, die Medien und Intellektuelle mehr oder weniger aus dem Kampf um Ideen ausgeklinkt. Bemühungen, der Radikalisierung durch Präventionsmaßnahmen entgegenzutreten, haben sich als erfolglos erwiesen, da sie schon per Definition rückwirkend sind. Wir brauchen keine Reaktion auf die letzten Anschläge und Bedrohungen, sondern eine moralische und intellektuelle Erklärung von Werten, für die es sich zu kämpfen lohnt.

Säkulare Staaten stehen heute vor der Herausforderung, eine breite Unterstützung für die Werte der Aufklärung und für die offene Gesellschaft bewirken zu müssen. Die westliche Gesellschaft muss sich selbst in einem guten Licht sehen können und ihre eigenen Ideale viel ernster nehmen, als sie das heute tut. Darüber hinaus müssen die westlichen Intellektuellen, die bei dieser Sache auffallend schweigsam sind, ihre Berufung und ihre öffentliche Aufgabe viel ernster nehmen. Die letzten 15 Jahre haben gezeigt, dass es vor allem der Mangel an irgendeiner unterstützungswerten Vision ist, der radikalen Dschihadisten den Erwerb von moralischer Autorität in den Augen bestimmter muslimischer Jugendlicher ermöglicht hat.

Dieser Artikel ist zuerst in der Novo-Printausgabe Nr. 121 – I/2016 erschienen. Kaufen Sie ein Einzelheft oder werden Sie Abonnent, um die Herausgabe eines wegweisenden Zeitschriftenprojekts zu sichern.

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