02.05.2011
Die therapeutische Verkehrung des Toleranzideals
Analyse von Frank Furedi
Aktuell wird immer wieder gefordert die Tugend der Toleranz durch "Respekt vor anderen Identitäten" zu ersetzen. Dies ist ein Angriff auf die Idee der moralischen Autonomie. Es geht um mehr, als Menschen nur in ihrer Zufriedenheit mit dem von ihnen gewählten Lebensstil zu bestätigen.
Das Buch The Quest for Meaning von Tariq Ramadan ist ein typisches Produkt des aktuellen Zeitgeists. Einer der einflussreichsten intellektuellen Trends unserer Tage ist die Suche nach Sinn in der Natur. Man sucht Sinn nicht mehr in der vom Menschen gestalteten Welt, sondern will ihn in der natürlichen oder biologischen Sphäre entdecken. Symptomatisch dafür sind die aktuellen Moden der Evolutionspsychologie, Neurowissenschaft, Verhaltensökonomik und des Umweltschutzes. Ein anderer starker Trend ist die im 21. Jahrhundert vorherrschende Variante des Perspektivismus, die einseitig die intuitiven und kontingenten Aspekte des Menschseins in den Vordergrund stellt. Und The Quest for Meaning liegt genau auf der Linie dieser weltanschaulichen Moden.
Zwar gibt sich Ramadans Buch als geistige Meditation über existenzielle Menschheitsfragen, doch in Wirklichkeit handelt es sich um eine eklektische Vermischung aktueller intellektueller Vorurteile mit altbackenen Neigungen zu Offenbarungsglaube und Dogmatismus. Das Buch springt in faszinierender Weise von Diskussionen über neuronale Cluster zu poetischen Predigten über das Wesen von Sinn. Aussagen wie: „Wir wollen das Reich des Bewusstseins und des Geistes entdecken; doch sehen wir uns hier durch alle Weisheit letztlich darauf verwiesen, dass, wie der Ozean seine Gestalt allein durch die ihn begrenzenden Ufer erhält, auch die allen Menschen gemeinsame Humanitas erst aus der Vielfalt der von ihm konkret beschrittenen Wege erwächst“, erinnern an die verquasten Botschaften der US-Fernsehserie Lost. Doch seine Aussagen sind klar: Wahrheit ist überaus relativ oder, wie er es formuliert: „Am Anfang steht die demütige Erkenntnis, dass wir nichts haben als Standpunkte“. Für ihn liegt das einzig Verbindende der Menschen in ihrer Differenz und Diversität.
Von der üblichen postmodernen oder postkolonialen Kritik an den Prinzipien der Aufklärung unterscheidet sich Ramadan dadurch, dass er sowohl als Außenseiter als auch als Insider schreibt. Er ist nicht nur ein externer Kritiker des westlichen Rationalismus, sondern treibt auch intern die westliche Ablehnung des eigenen Erbes voran. Mit seiner Synthese aus islamischem Partikularismus und europäischem Multikulturalismus stärkt er die Selbstzweifel des Westens, indem er ihnen positive Bedeutung zuspricht. Ramadan feiert nicht nur die Entfremdung der westlichen kulturellen Eliten von den Ideen der Aufklärung, sondern gibt der Sache auch noch einen islamischen Dreh. Trotz seines internationalen Ansehens als hervorragender Gelehrter des Islam sind seine Argumente jedoch eindeutig durch den europäischen Perspektivismus des 19. und westlichen Multikulturalismus des 21. Jahrhunderts geprägt.
Multikulturalistische Kritik der Toleranz
Äußerlich hält Ramadan zwar das Ideal geistiger Offenheit aufrecht. Doch es ist eine Offenheit, die kritisches Denken und Urteilen meidet. Sein Aufruf zur Anerkennung von Vielfalt und Diversität ist letztlich ein Appell zur Kapitulation vor der Herausforderung intellektueller Klärung und moralischem Urteilen. Zudem ist sein Lob der Diversität trügerisch, denn Beifall für Differenz spendet Ramadan nur Standpunkten, die ohnehin ein Echo seines eigenen sind. Das klassische liberale Denken ist von seiner Akzeptanz „aller Entwürfe“ selbstverständlich ausgenommen, und bezeichnend ist vor allem, dass die einzige starke Argumentation seines Buchs eine Kritik der liberalen Tugend der Toleranz ist.
Heute werden liberale moralische Prinzipien wie Freiheit und Toleranz von multikulturalistischen Denkern gern als illusorisch oder ungenügend verworfen. Die Behauptung, Toleranz reiche irgendwie nicht aus, fußt auf der Vorstellung, dieses Prinzip sei ungeeignet zur Verwaltung der Konflikte zwischen den diversen Lebensstilen und Gruppierungen der heutigen Gesellschaft. Laut Ramadan mag Toleranz in der Vergangenheit zwar durchaus von Bedeutung gewesen sein, doch würden von ihr heute keinerlei positive Wirkungen mehr ausgehen. Aus seiner Sicht hat die Toleranz ihren positiven Inhalt verloren, seit sie nicht mehr darauf zielt, Machtverhältnisse in Frage zu stellen. Für ihn beinhaltet der Ruf nach Toleranz Einverständnis mit den herrschenden Machtbeziehungen. „In der Vergangenheit zielte der an die Mächtigen gerichtete Aufruf zur Toleranz darauf, sie zur Mäßigung ihrer Stärke und Begrenzung ihrer Fähigkeit, Schaden zuzufügen, zu bewegen“, schreibt er. Und er folgert dann: „Damit implizierte er faktisch die Akzeptanz der Machtbeziehungen, wie sie zwischen dem Staat und den Individuen, der Polizei und den Bürgern, oder zwischen den Kolonialmächten und den Kolonisierten bestehen mögen“. (S. 47)
Es ging den Theoretikern der Toleranz – etwa Locke oder Mill – nicht darum, Machtbeziehungen in Frage zu stellen, sondern die staatliche Regulierung der Standpunkte und Meinungen der Menschen zu beschränken. Sie wollten die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und der Rede gewährleisten, denn nach ihrer liberalen Auffassung erstrebt jeder Mensch seinen eigenen Zugang zur Wahrheit, was sich nicht mit deren Verordnung von oben verträgt. Daher zielte der Aufruf zur Toleranz nicht auf Machtbeziehungen überhaupt, sondern lediglich darauf, wie die Macht des Staates einzusetzen ist. Ramadan selbst kritisiert die Tugend der Toleranz allerdings nicht etwa, weil er Machtverhältnisse hinterfragen, sondern weil er Akte des Urteils, der Bewertung oder der Unterscheidung unterbunden sehen möchte – also Akte, die in Wirklichkeit integraler Bestandteil der Tugend der Toleranz sind.
Für Ramadan ist Toleranz eine Form des Paternalismus; er verurteilt sie als „intellektuelle Mildtätigkeit“ der Mächtigen. Aus seiner Sicht erscheint Toleranz als Kränkung, denn „ wer mit anderen auf Augenhöhe agiert, will keineswegs nur toleriert oder widerwillig akzeptiert werden“ (S.47). Im Einklang mit den Werten der im Westen heute verbreiteten Therapiekultur fordert Ramadan nicht Toleranz sondern Respekt, Bestätigung und unkritische Akzeptanz. Daher lehnt er wie viele andere Multikulturalisten Toleranz als bevormundend und „nicht ausreichend“ ab.
Bestätigung von Identitäten
Wenn Ramadan schreibt, die Menschen wollen nicht toleriert werden, so heißt dass letztlich, dass sie nicht beurteilt werden wollen – sie wollen Bestätigung. Damit bekräftigt der Autor die dem heutigen therapeutischen Menschenbild inhärente Ablehnung von Werturteilen überhaupt. Sie geht Hand in Hand mit den therapeutischen Werten der Affirmation und Förderung des Selbstwertgefühls. Und diese Vorstellungen führen wiederum unweigerlich zur Bestätigung der Identitäten von Individuen und Gruppen, die in den letzten Jahren gewissermaßen zu einer Art heiligen Pflicht geworden ist. Die leere Geste des „Respekts auf Bestellung“ ist indes heute das eigentlich Kränkende und Paternalistische, denn sie nimmt Menschen nicht ernst. Statt sich mit anderen wirklich auseinanderzusetzen, will man einfach, dass sie sich „gut“ fühlen. Hier liegt heute die eigentliche Bevormundung durch „intellektuelle Mildtätigkeit“.
Der offenkundige Widerspruch zwischen Tolerierung und Bestätigung hat zur Folge, dass sich die heutige Kultur und Gesellschaft mit der Tugend der Toleranz nicht recht wohl fühlen. Als Strategie zur Überwindung des Widerspruchs empfiehlt die multikulturalistische Doktrin, den Begriff der Toleranz semantisch auszuweiten, so dass er auch die Ideen der Akzeptanz und des Respekts umfasst. Indem man Toleranz auf diese Weise gleichsetzt mit unkritischer Anerkennung ändert sich die Bedeutung des Begriffs grundsätzlich. Aus der für die Aufklärung wesentlichen Tugend der Toleranz wird die Forderung nach unbedingtem Respekt vor allem.
Ramadan ist immerhin konsequent. Er verzichtet darauf, den Wert der Toleranz umzudeuten, sondern verwirft ihn gleich ganz. Er überantwortet ihn dem Mülleimer „kultureller Dominanz“ und insistiert: „für die Beziehungen zwischen freien und gleichen Menschen, autonomen und unabhängigen Nationen oder Zivilisationen, Religionen und Kulturen ist der Aufruf zur Toleranz gegenüber anderen nicht mehr relevant“. Warum? „Wir wollen uns in der Begegnung unter Gleichen gegenseitig nicht mehr nur Toleranz einräumen, sondern darüber hinauswachsen und uns selbst zum Respekt gegenüber anderen erziehen“ (S.48). Auch die Toleranzidee des traditionellen Liberalismus umfasste ein Konzept des Respekts – aber nicht in dem heute geltenden Sinn unbedingter Bestätigung, sondern in der liberalen Bedeutung des Respekts vor der Fähigkeit der Menschen, moralische Autonomie wahrzunehmen.
Und hier liegt der springende Punkt. Es ist letztlich Abneigung gegen die Idee der persönlichen Autonomie und moralischen Unabhängigkeit der Individuen, die Ramadan treibt, Toleranz nonchalant als intellektuelle Mildtätigkeit der Mächtigen zu verwerfen. Dabei ist Toleranz in Wirklichkeit alles andere als mildtätig. Sie besteht darauf, dass auch als falsch beurteilte Standpunkte nicht unterdrückt werden, denn Erkenntnis der Wahrheit ist letztlich nur erreichbar, wenn das Individuum in der Ausübung seiner Autonomie nicht gehemmt wird. Letztlich nützt Toleranz allen, denn allein durch die Auseinandersetzung mit einander widersprechenden Standpunkten kann die Gesellschaft neue Einsichten gewinnen und zu intellektueller und moralischer Blüte kommen.
Ramadan lehnt Toleranz ab, weil er letztlich die Idee des kritischen Urteils nicht schätzt. Aber was kann ein „Streben nach Sinn“ ohne Urteilskraft sein? Es drängt sich der Schluss auf, dass Ramadan mit seiner Ermahnung zum „Verzicht auf Urteile“ bloß allen ernsthaften Entscheidungen zwischen verschiedenen Lebenskonzepten aus dem Weg gehen will. Vielleicht wäre „Avoiding Meaning“ (dt. “Vermeidung von Sinn”) ein besserer Titel für sein Buch gewesen.