19.10.2016

Wie demokratisch ist das Völker- und Europarecht?

Analyse von Ralph Janik

Titelbild

Foto: b1-foto via Pixabay (CC0)

Die Schweizer Volksinitiative „Schweizer Recht statt fremde Richter“ wirft erneut die alte Frage über das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht auf. Ist das Völkerrecht undemokratisch?

Die Frage des Verhältnisses von Schweizer Landesrecht zu Völker- und Europarecht ist auch nach der Ablehnung der Durchsetzungsinitiative alles andere als vom Tisch 1. Die Schweizerische Volkspartei (SVP) mag eine Schlacht verloren haben, der Krieg ist aber noch lange nicht vorbei. Bis September werden Stimmen für die Volksinitiative „Schweizer Recht statt fremde Richter“ gesammelt. Gemeint sind mit den „fremden Richtern“ der Europäische Gerichtshof (EuGH) und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2. Darüber hinausgehend kritisierte der Schweizer Unternehmer und SVP-Politiker Christoph Blocher ganz allgemein, dass „der verfassungsmäßige Gesetzgeber – also Volk und Stände“ – durch internationale Rechtsnormen zunehmend ausgeschaltet 3 werde. Womit er die alte und eigentlich geklärte Streitfrage des Verhältnisses zwischen Völkerrecht und Landesrecht zu neuem Leben erweckt.

Auf der einen Seite stehen jene, denen zufolge das Völkerrecht die nationalstaatliche Souveränität und damit jene des (Schweizer) Volkes aushebelt. Umgekehrt widerspricht das Wesen des Völkerrechts jedoch dem Gedanken freiwilliger Selbstbindung (von Staaten) – ein Kritikpunkt, mit dem sich etwa der große Hans Kelsen auseinandergesetzt hatte. Ihm zufolge ist die staatliche Souveränität insofern relativ, als sie notwendigerweise durch das „Primat des Völkerrechtes“ eingeschränkt wird.

Völkerrecht als „äußeres Staatsrecht“

Derzeit haben „Bund und Kantone“ gemäß Artikel 5(4) der Schweizer Bundesverfassung das Völkerrecht „zu beachten.“ Das lässt theoretisch viel Raum offen: In der Praxis steht das Völkerrecht im Einklang mit dem soeben erläuterten Verständnis relativer Souveränität und aufgrund der Verpflichtung, Verträge nach Treu und Glauben zu erfüllen, derzeit jedoch grundsätzlich über der Schweizer Verfassung. 4

„Das Völkerrecht weist einige Eigenschaften auf, die in einem eklatanten Widerspruch zu einem robusten Demokratie- und Souveränitätsverständnis stehen.“

Die Initiative „Schweizer Recht statt fremde Richter“ würde diese Bestimmung zugunsten der Schweizer Verfassung abändern: „Die Bundesverfassung steht über dem Völkerrecht und geht ihm vor, unter Vorbehalt der zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts“ lautet der strittige Passus. Einzig ausgenommen wären also etwa das Verbot völkerrechtlicher Aggression, die Wahrung des Selbstbestimmungsrechts oder das Verbot von Sklaverei, Völkermord, Apartheid und Folter.

Ein derartiger Vorstoß stößt bei Staats- und Völkerrechtlern natürlich sauer auf. 5 Sie fühlen sich in die Zeit absoluter Souveränität und der Hegelschen Auffassung vom Völkerrecht als bloßes „äußeres Staatsrecht“ zurückversetzt: Völkerrecht wird demgemäß auf nicht-bindende Verhaltensnormen reduziert, als bloße Richtlinien, die sich gegebenenfalls brechen lassen, wenn sie den eigenen nationalstaatlichen Interessen zuwiderlaufen.

Bei aller Kritik weist das Völkerrecht allerdings in der Tat einige Eigenschaften auf, die in einem eklatanten Widerspruch zu einem robusten Demokratie- und Souveränitätsverständnis der Marke Schweiz stehen. Davon zeugt etwa die Praxis im Zusammenhang mit völkerrechtlichen Verträgen und die Herausbildung beziehungsweise Bedeutung des Gewohnheitsrechts.

Verträge

Internationale Verträge sind eine der Hauptquellen des Völkerrechts. Einmal geschlossen, können gerade politisch heikle Verträge oft nur schwer und langsam wieder abgeändert werden. So sehen Staaten (bzw., eigentlich Regierungen) sich oft vor die unattraktive Wahl gestellt, mit unliebsamen, allzu restriktiven oder unzeitgemäßen Bestimmungen entweder zu leben, diese zu brechen oder Verträge komplett zu kündigen. Letztere Option wurde ihrerseits jüngst im Zusammenhang mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus problematisiert; schließlich enthält dieser keine Bestimmungen zur Kündigung, womit allein die Bestimmungen der Wiener Vertragsrechtskonvention anzuwenden sind. Eine Kündigung wäre folglich vor allem einvernehmlich oder aufgrund einer maßgeblichen Änderung der Umstände (diese werden freilich sehr restriktiv gehandhabt) möglich. Angesichts der realpolitischen Schwierigkeiten eines solchen Ausstiegs stehen Verträge wie dieser daher durchaus in einem Spannungsverhältnis mit einem starken Demokratieverständnis – eine einmal gewählte Regierung kann ihre Nachfolger faktisch auf lange Zeit binden und einschränken. Dabei handelt es sich freilich um kein dem Völkerrecht, sondern vielmehr der Demokratie inhärentes Problem – keine Regierung kann ihre Arbeit auf einer weißen Tafel antreten, Verträge sind hier nur eine von vielen „geerbten“ Handlungen ihrer Vorgänger.

Ein anderer Kritikpunkt betrifft die Art ihres Zustandekommens – rezentes und politisch besonders brisantes Beispiel sind die Verhandlungen zum geplanten Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA: Diese gilt als Paradebeispiel dafür, dass vertragliche Verpflichtungen oft das Resultat eines hinter verschlossenen Türen durchgeführten Kuhhandels 6 fernab der nationalen Parlamente sind; deren Rolle beschränkt sich zumeist auf das Absegnen, nicht aber auf den Inhalt.

Gewohnheitsrecht

Daneben steht das Gewohnheitsrecht, die zweite große Rechtsquelle, in einem noch eklatanteren Widerspruch zu einem starken Demokratieverständnis. Es hat schließlich nur bedingt konsensualen Charakter, da es durch die Praxis einer großen Anzahl von Staaten in Begleitung der dazugehörigen Überzeugung rechtmäßigen Handelns entsteht. Sofern man stillschweigendes Hinnehmen (acquiescence) als Einverständnis wertet, könnten Staaten somit durch die Hintertür verpflichtet werden, ohne es überhaupt zu merken und zu wollen (ein vor allem im US-Diskurs oft angeführter Kritikpunkt). Auch die Auffassung, wonach einige wenige oder gar ein einzelner Staat sich der Anwendbarkeit einer völkergewohnheitsrechtlichen Regel durch anhaltenden Widerspruch – man spricht von einem „persistent objector“ entziehen können, ist im Detail stark umstritten. Obendrein lässt sich eine derartige Haltung im Hinblick auf den äußeren Druck langfristig oft nicht aufrechterhalten.

„Das alte Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Souveränität wird sich nicht auflösen lassen“

Die bereits im Zusammenhang mit Verträgen angeführte mangelhafte Kontrolle über deren Abschluss und Inhalt von völkerrechtlichen Verpflichtungen ist hier folglich noch weniger gegeben. Auf die größten Problembrocken mangelnder Bestimmtheit und dem oftmals inflationären, dessen Wert aushöhlenden Umgang mit dieser Rechtsquelle, sei an dieser Stelle nur am Rande verwiesen.

Was tun?

Eine zufriedenstellende Auflösung des alten Spannungsverhältnisses zwischen Demokratie und Souveränität wird sich auf unabsehbare Zeit nicht verwirklichen lassen. Das in der Bevölkerung immer noch weit verbreitete robuste Souveränitätsverständnis deckt sich schon lange nicht mehr mit der Realität. Realpolitische Notwendigkeiten (um ein sprachliches Ungetüm zu bemühen) lassen sich allenfalls mit einer sehr weiten Auffassung von demokratischer Legitimität begründen. In der gegenwärtigen Debatte wird gerne betont, dass die Schweiz durch eine allzu starke Betonung des Volkswillens auf internationaler Ebene zu einem unzuverlässigen Partner wird 7. Außerdem seien die internationalen Verpflichtungen der Schweiz bei aller Kritik immer noch unter Einverständnis des Souveräns zustande gekommen – wenn auch nicht immer unmittelbar, sondern durch seine gewählten Vertreter.

Dennoch ist gerade in Zeiten der zunehmenden Internationalisierung des Rechts das damit einhergehende weit verbreitete Gefühl der Machtlosigkeit ernst zu nehmen, zumal es sich um kein Schweizer Unikum handelt. Es ist kein Zufall, dass mit Großbritannien ein zweites Land mit einem tiefgehenden Demokratieverständnis besonders hervorsticht. Einerseits durch das „Brexit“ und andererseits betonen so manche britische Juristen immer wieder, dass Urteile des EGMR lediglich „in Betracht“ gezogen werden müssten 8.

Unworte wie „alternativlos“ 9 im Zusammenhang mit Maßnahmen auf europäischer Ebene zeugen von einem Diskurs, in dem zwischen „Wissenden“ auf der einen und dem „Pöbel“ auf der anderen polarisiert wird. Viele Regeln werden als von außen, durch eine fremde Macht aufoktroyiert wahrgenommen. Gänzlich unbegründet ist dieses Gefühl gewiss nicht, soviel gilt es sich einzugestehen. Dass politische Parteien aus diesen Entwicklungen Kapital schlagen und vorhandene Wahrnehmungen verstärken, erscheint wenig verwunderlich. Ob eine Maßnahme wie die tiefgehende Änderung der Schweizer Verfassung hierfür ein probates Mittel ist, steht freilich auf einem anderen Blatt.

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