01.11.2008
Nationalstaat versus Renaissance des Geistes
Essay von Alexander Hans Gusovius
Über deutsche Russlandfreundlichkeit, Amerikafeindlichkeit und die Chancen für plurales Denken.
Es gibt eine neuerliche Russland-Verliebtheit in Deutschland – verständlich insofern, als unser Leben seit 1945 amerikanisch durchfärbt ist, selbst da, wo wir es nicht vermuten; etwa wenn Deutschland den USA in Sachen Umweltschutz oder Völkerrecht auf die Sprünge helfen will. Beide Domänen basieren jedoch auf zutiefst amerikanischem Denken. Das dynamische Jonglieren mit Statistiken und mechanische Analysieren von Relationen ist die eine Seite davon, die andere ist der dahinter wirkende, alles Tun und Handeln antreibende Anspruch auf bürgerliches, individuelles Glück. Dass es flächendeckend zur amerikanischen Einfärbung deutschen Lebens kam, lag an der Verführung durch Bilder. Die GIs hatten im Zweiten Weltkrieg nicht nur militärisch obsiegt, sondern auch zivilisatorisch. Ihr lockerer Lebensstil, ihr natürliches, demokratisches Sein und Gebaren waren der spaßfernen deutschen Unterwürfigkeit sichtbar überlegen. Die grausamen Bilder des zweiten großen Siegers, der sowjetischen Militärdiktatur, wirkten weitaus weniger inspirierend.
Im Laufe von Jahrzehnten hat das nationale Kopieren von Bildern zwangsläufig eine gewisse Langeweile ausgelöst. Und so schauen manche jetzt über den Zaun auf die andere Seite und fragen sich, ob man die nationalen Bilder nicht ein wenig auffrischen könnte. Schnell wird der Blick von der ungewohnten Bildkraft verführt: Russland liefert genau die richtigen macht- und prachtvollen Bilder, um ein bisschen neugierig, ein bisschen verliebt zu werden. Dass aktuelle Bundesminister und ein gewesener Kanzler ihre neue Verliebtheit jedoch, wie jüngst beim Empfang der russischen Botschaft zu Berlin geschehen, nahezu enthemmt ausleben, verwundert dann doch. Auf den zweiten, historischen Blick wird aber auch das verstehbar. Denn nicht zum ersten Mal nimmt der westlich verstörte deutsche Intellekt Anleihen beim russischen Nachbarn, bei jener leidenschaftlichen Verbundenheit russischen Seins mit russischer Kultur, Heimat und Seele. Es ist gerade die Hemmungslosigkeit der russischen Zugewandtheit zu sich selbst, die auf deutsche Geister in gewissen Abständen wie eine Offenbarung wirkt.
Es geschah eingangs des 20. Jahrhunderts, nachzulesen im jüngst erschienenen, die deutsche Geschichte so lehrreich wie amüsant ausleuchtenden Buch Die Diktatur der Kleinbürger von Joska Pintschovius (Osburg Verlag): Nach dem Ersten Weltkrieg lag Deutschland in jeder Hinsicht am Boden, und die schwankenden Erfahrungen in der noch jungen Demokratie riefen Geister auf den Plan, die, angefeuert von Nietzsche und inspiriert durch Begegnungen mit russischen Intellektuellen, für Deutschland ähnlich tief gefühlte Schicksalsverbundenheit und Wesenhaftigkeit ersehnten. Die von demokratischer Nüchternheit abgestoßenen Geister verlangten nach einem mystischen Dritten Reich und darin nach Raum fürs deutsche Volk. Denn man fühlte sich unwohl, dünkte sich uneigentlich in der Welt demokratischen, zivilisierten Maßhaltens und bloß nützlichen Handels und suchte nach Fixpunkten, die dem tastenden Lebensgefühl Perspektive boten. Es musste etwas geben, das den Wesenskern der deutschen Nation aufschloss und den zivilisierten Nationen, am besten der ganzen Welt, ein Licht aufsetzte. Die furchtbaren Folgen, geistig wie moralisch, sind bekannt.
Das Jahr 1945 markiert das einstweilige Ende des kulturdeutschen Sonderwegs, seine Stichworte waren: Innerlichkeit, Naturnähe, Übermensch, Weltrettung. Die zivilisatorische Einebnung, die seither etwas widerwillig vollzogen wurde, bricht inzwischen längst wieder auf. Seit Jahren schon haben die Sinnfelder Naturnähe und Weltrettung Konjunktur, eine neue deutsche Innerlichkeit nimmt gerade wieder Anlauf. Da erheben sich Stimmen im Land, laut und leise, rechts oder links gleichermaßen oft zu vernehmen, die das Ende der geistigen Möglichkeiten ausrufen: Deutschland sei durch die Einbindung in EU und Nato an der Verwirklichung seiner Einsichten und Handlungsräume gehindert, neue Koalitionen müssten geschlossen, neue Realitäten anerkannt werden. Und der Ruf findet in der Bevölkerung großen Widerhall. Nahrung erhält er durch den Irakkrieg, die vermeintliche Klimakatastrophe und die aktuelle Bankenkrise, die nicht nur den einfacheren Geistern einblasen, dass insbesondere in den USA eine Horde ewiggestriger, egomaner Kapitalisten daran sei, sämtliche Werte des Erdballs und diesen gleich mit zu verheizen. Fast will es scheinen, als belegten solche Ansichten unfreiwillig den ausgerufenen geistigen Notstand. Dabei verbirgt sich dahinter nur das Elend des deutschen Nationalstaats, der wohl nicht anders kann, als sich in Abständen durch massive, aggressive Abgrenzung seiner Existenz zu versichern.
Schon 1848, als in Deutschland erste Versuche zur nationalstaatlichen Demokratie unternommen wurden, trat dieses aggressive Element deutlich zutage. Vor allem die bürgerlichen Kräfte sprachen sich lautstark für Krieg aus, einerseits, um der britischen See- und Handelsmacht den Rang abzulaufen, andererseits, um die noch tonangebenden, entweder regional oder international handelnden Adelsfamilien unter das nationale Joch zu zwingen, in dem die Masse der Bürger und Kleinbürger gesteigerte Chancen für sich selber sah. Der Verlust an geistigen Möglichkeiten, der damit verbunden war, ist augenfällig – aber nicht die Folge zivilisierter Nivellierung, sondern ihre Ursache. Denn ins Blühen kam in der relativ kurzen Periode deutscher Nationalstaatlichkeit nicht plurales Denken, das die Vermittlung von Werten wie Freiheit und Prosperität betrieb, sondern die Verengung auf Wohlstandsaspekte und Aufsteigertum. In den aggressiveren Momenten der nationalstaatlichen deutschen Geschichte steigerte sich das zwangsläufig zu immer kritischerer Wahrnehmung demokratischer Freiheitlichkeit; nicht anders als heute, wenn einerseits Seelenanleihen beim russischen Nachbarn gemacht werden und andererseits ignoriert wird, dass Russland nach wie vor eine Militärdiktatur ist, deren Brutalität nach innen und außen zwar auf manche Seelen verführerisch wirken mag, aber kein Ersatz sein kann für die westlichen Bündnisse.
Der gegenwärtige Status Deutschlands, seine partielle Entstaatlichung in Nato und EU führt nämlich genau zurück in jene Konstellation, als die deutschen Lande frei waren von nationaler Verengung. Das Potenzial schöpferischen Denkens und Erschaffens, das weniger auf völkischer Selbstfindung denn auf regionalen Lebens- und Welterfahrungsaspekten beruhte, war durch die Vielstaaterei und das eher geistig denn konkret erfahrbare Heilige Römische Reich deutscher Nationen erheblich größer als jemals danach. Und so gibt es gerade für den deutschen Sprachraum einen kulturellen Zukunftsraum, der, frei von nationalen Zwangsvorstellungen, eben darum einen neuen, auch metaphysischen Aufschwung erwarten lässt; vorausgesetzt, Deutschland erliegt nicht der russischen Versuchung.
Schaut man sich um, sprechen nicht nur die völlig überzogene Verurteilung der amerikanischen Politik und das Schielen auf die russische Machtsphäre dagegen. Vor allem ist es das nörgelnde Zweifeln der Deutschen am Verknüpftsein von Frieden und Freiheit, verbunden mit ihrer geradezu pathologischen Wohlstandsfixation, die befürchten lassen, dass die nationalstaatliche Selbstauflösung doch noch ins Stocken kommt. Dies bedenkend, wird deutlich, wie massiv die kulturellen Zukunftsräume zugestellt sind; von allen jenen, die den deutschen Nationalstaat weiter in den Mantelfalten tragen. Dazu gehören aber nicht nur die vielen globalisierungsfeindlichen, ökoromantischen Politiker rechts und links, sondern auch jene kulturellen Haudegen, die uns mit ihren grimmigen Einsichten immer noch heimsuchen, von Wallraff über Grass bis hin zu Enzensberger. Hinter ihrer Gesellschaftskritik steht nichts anderes als der Geist von 1848: Demokratie sagen und Herrschaft meinen. Der Nationalstaat ist ihre Bühne und ihr Nährboden. Und doch gibt es Anzeichen für einen Wandel, bei den ganz Jungen, die den Nationalstaat kaum noch kennen und darum in der gewohnten, westlichen Freiheit fraglos weiterleben möchten. Man findet sie überall dort, wo die Alten wenig zu sagen haben: in Diskotheken, auf Sportplätzen, selbst beim Flatrate-Trinken, besonders im Internet. Ihre Kultur knüpft sich nur scheinbar an schrille, oberflächliche Bilder und extreme materielle Werte, mit denen sie sich von der zunehmend statischen, vergreisenden Gegenwart nur absetzen wollen – in Wirklichkeit bereiten sie hier wie dort den Boden für eine komplexe, dynamische Lebenswelt, die mit einfachen Formeln nichts mehr anfangen kann. Das Gute und das Böse, Glaube und Wissen, Staat und Heimat, Sicherheit und Freiheit, alles das betrachten sie nicht mehr als widersprüchliche Tatsachen, sondern als relationale Faktoren, die einander befördern und inhaltlich kommentieren. Ihre Welt ist atemberaubend offen, sie haben alles, was es für eine Renaissance des Geistes braucht. Mögen sie sich die Zukunft erobern!