03.11.2023

Welt ohne Atomwaffen?

Von Christian Zeller

Titelbild

Foto: US-Regierung via Wikicommons

Die weltweite Abschaffung von Atomwaffen wird zwar gefordert, scheint aber unrealistisch. Es lässt sich auch fragen, ob das so pauschal überhaupt wünschenswert wäre.

Putins Drohungen mit dem Einsatz von Atomwaffen haben dieser Waffengattung wieder große Aufmerksamkeit beschert.

Mit der Atomwaffe hat der Mensch gelernt, die stärksten uns bekannten Naturkräfte zu destruktiven Zwecken einzusetzen: Temperaturen bis zu 100 Millionen Grad, gewaltige Feuerstürme, Druckwellen in Überschallgeschwindigkeit, radioaktive Verseuchung. Mit der Zündung einer Atombombe kann der Mensch gleichsam kleine Sterne, die nukleare Strahlung emittieren, zur Explosion bringen. Die Folge eines Einsatzes dieser Waffengattung über dichtbesiedelten Gebieten wären – je nach Detonationshöhe und Sprengkraft – zehntausende bis Millionen Tote und ebenso immense Zahlen an Verbrannten, Verwundeten, Verseuchten. Die angemessene Versorgung der noch lebenden Opfer eines großangelegten, strategischen Atomangriffs übersteigt schon deshalb die medizinische und technische Infrastruktur sogar hochentwickelter Industriestaaten, weil diese selbst der Vernichtung preisgegeben wird. Darin, in der Zerstörung und heillosen Überforderung menschlicher Solidaritätsketten, kann man ein noch barbarischeres Potential dieser Waffengattung als in der rein physischen Vernichtung sehen – die im größten Elend Dahinsiechenden können nicht mehr auf nennenswerte Hilfe hoffen.

Es ist die Tragik des Lebens von Albert Einstein, dass ausgerechnet er, ein überzeugter Pazifist, im Jahr 1939 den US-amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt dazu aufforderte, ein eigenes Atomprogramm zu initiieren – aus einer tiefen Besorgnis heraus. Im Jahr 1938 hatten die deutschen Chemiker Otto Hahn und Fritz Straßmann (auf der Grundlage wesentlicher Vorarbeiten der Physikerin Lise Meitner, die als Jüdin vor den Nationalsozialisten fliehen musste) die Kernspaltung entdeckt. Der ungarische Physiker Leo Szilárd war mit seinen Kollegen Edward Teller und Eugene Wigner zu der Auffassung gelangt, dass die Nazis auf der Grundlage dieser bahnbrechenden Entdeckung an Atomwaffen forschen könnten und man ihnen damit zuvorkommen sollte. Szilárd verfasste den Brief an Roosevelt, Einstein unterschrieb ihn.1 Kaum einer hatte wohl das destruktive Potential der Kernspaltung so scharf gesehen wie Einstein – der Entdecker des physikalischen Faszinosums, dass sich Masse in Energie umwandeln lässt und bei der Kernspaltung ungeheure Energiemengen freisetzt.2

Von 1942 bis 1945 forschten im durch Einsteins Intervention initiierten Manhattan-Projekt tausende Wissenschaftler unter der Leitung von Robert Oppenheimer an der Bombe. Einstein selbst wurde nicht zur Mitarbeit hinzugebeten, da den US-Amerikanern seine offene sozialistische Gesinnung suspekt war. Am 16. Juli 1945 war es schließlich soweit: Eine grapefruitgroße Plutoniumkugel wurde in einem kleinen, braunen Koffer auf das Testgelände in der Wüste von New Mexiko transportiert und in eine randvoll mit Sprengstoff und Elektronik angefüllte Metallkapsel integriert. Im Vorfeld gab es Stimmen, die befürchteten, dass die Explosion dieser Apparatur die Atomsphäre in Brand setzen könnte. Die Vernichtung allen Lebens auf der Erde wäre die Konsequenz gewesen. Gezündet wurde „the gadget“ (so der Codename für die Bombe) trotzdem. In den ersten Millisekunden nach der Zündung entstand eine Feuerblase von mehreren hundert Metern Durchmesser. Die Atmosphäre verbrannte nicht. Das atomare Zeitalter war geboren.

Als bislang einzigen Städte wurden Hiroshima und Nagasaki in Japan von derartigen Waffen heimgesucht, am 6. und 9. August 1945. Abgeworfen wurden „Little Boy“ und „Fat Man“ von US-Bombern; erzwungen werden sollte dadurch der offiziellen Darstellung zufolge die (letztlich erfolgte) bedingungslose Kapitulation Japans, um das Leben von hunderttausenden US-Soldaten zu schonen, die möglicherweise als Bodentruppen zum Einsatz gekommen wären. Allerdings spricht viel dafür, dass dem zweimaligen Atomwaffenabwurf weitere Motive zugrunde lagen: Intakte Städte – anstatt rein militärischer Ziele – suchte man in der US-Führung auch deshalb aus, um die Wirkung der Bombe möglichst unverfälscht zu testen. Die US-Militärs rückten deshalb nicht nur mit der Bombe selbst, sondern auch mit ihrem Messinstrumentarium zur Datensammlung an. Die Rede des damaligen US-Präsident Harry Truman zur Rechtfertigung der Atomwaffeneinsätze legt nahe, dass auch die Rache für den Angriff japanischer Kampfflugzeuge auf den US-Militärstützpunkt Pearl Harbour am 7. Dezember 1941 eine entscheidende Rolle spielte.

„Eine Wasserstoffbombe von zwei Megatonnen setzt dieselbe Energie frei wie sämtliche im Zweiten Weltkrieg eingesetzten konventionellen Bomben zusammen.“

US-Kriegsminister Henry Stimson gestand zudem nach dem Krieg ein, dass der Einsatz von Atomwaffen von vornherein geplant gewesen sei, um die enormen Kosten des Projekts für die Steuerzahler rechtfertigen zu können. Truman sagte vor dem Atomwaffeneinsatz in Nagasaki: „Da wir diese Waffe haben, haben wir sie auch eingesetzt.“ Nicht zuletzt waren die Atombombenabwürfe eine Machtdemonstration gegenüber dem Sowjetreich Stalins, der sich auf der Konferenz von Potsdam (17. Juli bis 2. August 1945) unbeeindruckt von Trumans Hinweis gezeigt hatte, es sei den USA gelungen, eine Waffe von unglaublicher Zerstörungskraft zu entwickeln. Hätte das nationalsozialistische Deutschland nicht bereits am 7. Mai 1945 kapituliert, wäre es wohl auch hierzulande zu Einsätzen mit dieser Waffe gekommen. Bereits 1943 – noch bevor man wusste, dass die Entwicklung einer Atomwaffe erfolgreich sein würde – gab es Planungen des US-Militärs, Atomwaffen auch im Krieg gegen das nationalsozialistische Deutschland zu verwenden. Mit dem tatsächlichen Einsatz einer solchen Waffe hatte Einstein nicht gerechnet – er war, zumindest in dieser Hinsicht, politisch naiv gewesen. Nach dem Krieg verzichtete Einstein darauf, eine weitere physikalische Entdeckung zu publizieren, da er befürchtete durch deren technische Anwendung erneut zum „Mitmörder“ der Menschheit zu werden. 

Etwa 120.000 Menschen starben infolge der Explosionen in Japan, weitere ca. 100.000 in den darauffolgenden Jahren an den Nachwirkungen der Strahlenschäden. Nach Maßstäben heutiger Atomwaffen war die Sprengwirkung der beiden eingesetzten Bomben eher gering. Die in Hiroshima eingesetzte Bombe hatte eine Sprengkraft von 13 Kilotonnen TNT-Äquivalenten, die auf Nagasaki abgeworfene eine von 21 Kilotonnen. Ein thermonuklearer Krieg – ein Krieg also, der mit der in den 1950er Jahren entwickelten Wasserstoffbombe geführt werden würde – wäre mit höchster Wahrscheinlichkeit das Ende der Menschheit. Die Sprengwirkung von Wasserstoffbomben, bei denen ein Fusionsprozess von Wasserstoffkernen zu Helium wie im Inneren der Sonne ausgelöst wird, kann im Bereich von Megatonnen liegen. Eine Wasserstoffbombe von zwei Megatonnen setzt dieselbe Energie frei wie sämtliche im Zweiten Weltkrieg eingesetzten konventionellen Bomben zusammen.

Durch die apokalyptischen Brände, die die enorme Hitze thermonuklearer Bomben auslöst, würde so viel Ruß in die Atomsphäre geschleudert werden, dass der Temperaturabfall zu massiven Ernteeinbußen auch für denjenigen Teil der Menschheit führen würde, deren Gebiete von dem nuklearen Inferno verschont geblieben sind. Ein Hauen und Stechen um eingelagerte Nahrungsmittel würde einsetzen, Hunderte Millionen oder gar Milliarden Menschen würden verhungern, Staaten unter der Last der Tumulte zusammenbrechen. Für die Überlebenden eines globalen Atomkrieges wäre das Leben nur noch „garstig, tierisch und kurz" (Hobbes).

Die Bombe und die Conditio humana

Die anthropologische und metaphysische Dimension dieser Waffengattung ist grundstürzend: Homo sapiens vermag es, seine intellektuellen Fähigkeiten so einzusetzen, dass er absolut hilflos ist gegenüber den von ihm selbst entfesselten Kräften. Günter Anders hat im Kalten Krieg von der „Antiquiertheit des Menschen“3 gesprochen: Der Mensch erlebt sich selbst als seinen technischen Produkten untergeordnet. Anders sprach von der „prometheischen Scham“, die uns unsere eigenen technischen Fähigkeiten aufnötigen. Die vom Menschen geschaffene Technik vermag Dinge in einer Weise in Gang zu setzen, wie es dem Menschen mit den ihm eigenen Kräften nie möglich wäre. Mit der Atomwaffe erhält die Diskrepanz zwischen der technischen Vollendung einerseits und der menschlichen Schwäche andererseits eine perverse Note: Die Zerstörungskraft einer Atomwaffe ist als Zerstörungskraft perfekt: Leben, das nicht verglüht oder verbrennt, wird von der Druckwelle auseinandergerissen oder von den Splittern, die sie mit sich reißt, durchsetzt; Leben, das diesem Schicksal entgeht, wird nuklear verseucht und erliegt mit hoher Wahrscheinlichkeit dem quälenden Tod als Folge der radioaktiven Strahlung, die mit dem in der Pilzwolke hochgerissenen Staub auf die Erde niederrieselt. In keinem Bereich von Wissenschaft und Technik ist wohl die Rede von einer „Dialektik der Aufklärung“ (Horkheimer/Adorno) angemessener als im Bereich der atomaren Rüstung. Vollendete Naturbeherrschung, absolute Ermächtigung, schlägt in vollendete Unterjochung um.

Die Zerstörung, die eine Atomwaffe mit sich bringt, gleicht dem, was Immanuel Kant als das „Erhabene“ beschrieben hat. Das Erhabene ist für Kant „das, was schlechthin groß ist“4; es ist das Große, dem man in seiner Größe nichts mehr hinzufügen kann. Die Atomwaffe ist die nicht mehr steigerbare Zerstörung; es ist – die Waffe als Absolutum. Es vermag deshalb nicht zu überraschen, dass sich im Umfeld des ersten Atombombentests religiöse Assoziationen finden, so am offensichtlichsten in dem Namen der Operation: „Trinity". Die Bezeichnung ist eine direkte Anspielung an den dreifaltigen Gott der Christenheit und ist Robert Oppenheimer zufolge einer Zeile einem Gedicht von John Donne entlehnt: „Zertrümmere mein Herz, dreieiniger Gott.“

Als Oppenheimer das markerschütternde Spektakel der ersten Atom-Explosion ansah, kamen ihm Zeilen aus der indischen Bhagavadgita in den Sinn: „Wenn das Licht von tausend Sonnen am Himmel plötzlich bräch' hervor, zu gleicher Zeit – das wäre gleich dem Glanz dieses Herrlichen."5 Ein anwesender General empfand den Anblick der ersten Atom-Explosion als „eine Warnung vor dem Jüngsten Gericht, das uns spüren ließ, dass wir winzige Wesen in blasphemischer Weise wagen, an die Kräfte zu rühren, die bis dahin dem Allmächtigen vorbehalten waren."6 Wenngleich nicht ihr eigener Schöpfer, so ist die Menschheit durch die Atomwaffe doch ihr eigener potentieller Zerstörer geworden – ein Umstand, der in den konsumistisch-industriegesellschaftlichen Routinen einer an ihre Freiheiten gewöhnte Bevölkerung bisweilen untergeht. Mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ist er seit dem Ende des Kalten Krieges erneut in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit getreten.

Putins Atomdrohungen und ihre Folgen

Es ist in der Tat so, dass Putin seinen verbrecherischen Krieg in der Ukraine nur deshalb ungehindert führen kann, weil die potentielle nukleare Eskalation die Nato beziehungsweise die USA von einer direkten militärischen Intervention abhält. Es ist das erste Mal in der Geschichte, dass ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg durch die manifeste Drohung mit Atomwaffen abgesichert wird. Dieser stellt sich aus der Perspektive der russischen Führung gleichwohl als Reaktion auf eine der „militärischen Hauptgefahren“ dar, auf die das Prinzip der nuklearen Abschreckung ausgerichtet ist. In Abschnitt 12 eines von Putin am 06. Juni 2020 unterzeichneten Dekrets bezieht sich nukleare Abschreckung dezidiert auch auf den „Aufbau durch einen potenziellen Gegner von Gruppierungen konventioneller Streitkräfte, die über Einsatzmittel von Nuklearwaffen verfügen, auf dem Territorium von Staaten, die der Russischen Föderation und ihren Alliierten benachbart sind sowie in den an diese angrenzenden Gewässern“. Die russische Nuklearstrategie soll dabei, so Abschnitt 4 des Dekrets, auch eine „Begrenzung der Eskalation militärischer Operationen und deren Beendigung zu Bedingungen [sicherstellen], die für die Russische Föderation und/oder ihre Alliierten annehmbar sind.“

„Nur weil die russische Führung die Atomdrohung als psychologische Waffe gegen den die Ukraine unterstützenden Westen benutzt, bedeutet dies eben nicht, dass die Gefahr selbst nicht existiert.“

Mit Blick auf den Krieg in der Ukraine heißt das im Klartext: Die russischen Drohungen mit Atomwaffen sind aus der Sicht Russlands dadurch gerechtfertigt, dass die Nato in russischen Nachbarstaaten Streitkräfte stationiert hat oder stationieren wollte, und sie sind darauf gerichtet, die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, in einem Krieg, der sich aus dieser Bedrohungslage ergibt, zu obsiegen. Nukleare Abschreckung beinhaltet dabei laut Ziffer 3 des Dekrets nicht nur militärische, technische und politische, sondern auch diplomatische, wirtschaftliche und informationsbezogene Maßnahmen. Sprich: Atomdrohungen und Propaganda – von der die russische Führung bislang reichlich Gebrauch gemacht hat. Gleich in seiner Ansprache am Tag des Überfalls auf die Ukraine am 24. Februar 2022 drohte Putin in Richtung des Westens mit „nie dagewesenen Konsequenzen“ – eine implizite Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen.

Als Reaktion auf die wirtschaftlichen Sanktionen des Westens versetzte Putin wenige Tage später seine „Abschreckungskräfte“ in Alarmbereitschaft. Im russischen Fernsehen gehören animierte Atomschläge auf Berlin oder London gleichsam zur Routine im Umgang mit den Reaktionen des Westens auf die „Spezialoperation“ in der Ukraine, die erst später vom russischen Führer zum „echten Krieg“ umgewidmet wurde. „Kein Bluff“ sei seine Ankündigung, „alle uns zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um Russland und unser Volk zu verteidigen“, so Putin in seiner Ansprache zur Teilmobilisierung am 21. September 2022. Wenige Tage später legte Premierminister Medwedew nach: „Im Bedarfsfall“ könne Russland auch Atomwaffen einsetzen. Anfang Oktober letzten Jahres rollte dann – in einer durchschaubaren Inszenierung – Putins „Atomzug“ in Richtung Ukraine. Unlängst kündigte die russische Führung an, russische Atomraketen in Belarus zu stationieren.

Wenn die Mehrzahl der in Fernseh-Talkshows auftretenden Ukraine-Krieg-Experten mit dem Gestus der Entschlossenen dazu rät, sich von derartigen Drohungen mit Atomwaffen nicht einschüchtern zu lassen und weiter schwere Waffen an das höchst bedrängte Land zu liefern, so wird nur selten hinzugefügt, dass diese Abschreckungswirkung infolge des russischen Atomarsenals (knapp 6000 Sprengköpfe, darunter etwa 2000 taktische,) längst Gestalt gewonnen hat: in der Weigerung der Nato bzw. der USA nämlich, selbst Soldaten in das Kriegsgebiet zu entsenden oder – wie von der Ukraine im April 2022 gefordert – eine Flugverbotszone über dem ukrainischen Luftraum einzurichten. In dieser Hinsicht arbeitet die Logik der atomaren Abschreckung bereits so effektiv, dass sie als solche kaum mehr ins Bewusstsein tritt.

Während sich also die Nato vor einem direkten Eingreifen ruhig abschrecken lassen darf, soll die Gefahr einer atomaren Eskalation des Konflikts infolge der Lieferung immer schwerer Waffen (Schützenpanzer, Raketenwerfer, jüngst auch: Streumunition) gar keinen Ausschlag geben. Eine konsistente Position ist das nicht. Nur weil die russische Führung die Atomdrohung als psychologische Waffe gegen den die Ukraine unterstützenden Westen benutzt, bedeutet dies eben nicht, dass die Gefahr selbst nicht existiert. Seit der Kuba-Krise im Jahr 1962 war die Welt denn auch nicht mehr so nahe am atomaren Abgrund wie heute.

Die Logik der atomaren Abschreckung

Weit verbreitet ist deshalb der Wunsch, diese Waffengattung von der Erde zu tilgen. Zahlreiche NGOs treten vehement für eine Abschaffung von Atomwaffen ein und auch auf internationaler Ebene wurde mittlerweile von über 90 Staaten der Atomwaffenverbotsvertrag ratifiziert, dem allerdings weder ein Nato-Staat (inklusive Deutschland), noch irgendeine andere Atommacht beigetreten ist. Im Falle Deutschlands wurde von der Bundesregierung argumentiert, dass der Vertrag nicht mit den Verpflichtungen, die aus der Mitgliedschaft im Nato-Bündnis resultierten, zu vereinbaren sei. Konkret geht es dabei um die nukleare Teilhabe der Bundeswehr an US-Atomwaffen, die im rheinland-pfälzischen Militärstützpunkt Büchel gelagert sind, und im Ernstfall von Bombern, die dem Nato-Kommando unterstehen, in ihr Ziel getragen werden würden. Abgesehen von dem pragmatischen Argument, dass eine Welt, in der die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates freiwillig auf ihre Atomwaffen verzichten, wohl noch erst entstehen müsste – auch aus einer ethischen Sicht, die nicht nur die gute Gesinnung, sondern auch die Folgen von Handlungen berücksichtigt, ist es zweifelhaft, für ein weltweites Verbot von Atomwaffen einzutreten. Warum?

Erinnert sei an das Grundmodell atomarer Abschreckung. Spielen wir dazu – zunächst unter Ausklammerung bereits existierender Vereinbarungen – den Fall durch, dass die offiziellen (Russland, USA, Frankreich, Großbritannien, China) und die faktischen Atommächte (Israel, Pakistan, Indien, Nordkorea) erwägen, ihre Atomwaffen vollständig zu demontieren. Auf diese Weise könnte ein zentrales Kollektivgut, nämlich die Befreiung von Tod und Leid, das der Einsatz Atomwaffen über die Welt bringen könnte, erreicht werden. Aus einer je individuellen Perspektive entsteht jedoch sofort das bekannte Dilemma wechselseitiger Vertrauensbeziehungen. Dieses Dilemma zeigt sich dann, wenn das Potential, das A dem B einen Schaden zufügt, genauso hoch ist wie das Potential, das B dem A einen Schaden zufügt.

Vertrauen heißt: Ich gehe davon aus, dass du mir nicht schadest, obwohl du es könntest, und obwohl ich weiß, dass du weißt, dass du es könntest. Je höher der Preis des Vertrauens, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass es entsteht, sofern nicht flankierende Maßnahmen ergriffen werden, um Vertrauen zu generieren. Im Alltag schaffen wir Vertrauen, indem wir „miteinander reden“ und uns „kennenlernen“ – allerdings ist der Preis des Vertrauens, der auf dieser Grundlage entsteht, selten prohibitiv. Bei der nuklearen Frage hingegen ist der Preis schlicht nicht mehr steigerbar; das Preisschild trägt gleichsam die wenig vertrauenserweckende Aufschrift: „Vernichtung". Daraus folgt: A würde nur dann abrüsten, wenn auch B abrüstet, denn A weiß ja, dass er gegenüber dem Potential von B, A zu schaden, sofort machtlos wäre, sobald er die Vereinbarung erfüllt, aber B sich seinerseits nicht an die Vereinbarung hält. In der Logik der atomaren Abschreckung könnte die Lebensversicherung für A nur darin bestehen, dass er ein gleichwertiges Potential hat, B merklichen Schaden zuzufügen wie umgekehrt. Im Kalten Krieg bestand die entscheidende Variable im atomaren Spiel der Großmächte7 in der Zweitschlagskapazität: Wenn mein Gegner weiß, dass ich ihn auch im Falle eines Atomangriffs noch vernichten kann, dann wird er auf den Erstschlag verzichten.

„Abschreckung resultiert jetzt nicht mehr aus der gesicherten Zerstörung des Gegners, sondern gerade aus der Unsicherheit, mit der ein möglicher Einsatz von Atomwaffen verbunden ist.“

Aus dieser Konstellation heraus resultierten im Kalten Krieg militärische Systeme wie stark geschützte Raketensilos oder Atom-U-Boote, die gewährleisten sollten, dass auch nach einem nuklearen Erstschlag die Vernichtungskapazität bei einen Zweitschlag für den Angreifer nicht hinnehmbar bleibt. Der Umstand, dass wenige Tage nach Russlands Angriff auf die Ukraine, Frankreich seine Atom-U-Boote auf hohe See schickte, folgt nach wie vor dieser Logik: Der Preis für eine mögliche atomare Eskalation wird für den potentiellen Angreifer durch die Signalisierung von Verteidigungsbereitschaft und die Ungewissheit über den genauen Aufenthaltsort der U-Boote in die Höhe getrieben. Die russische Seite agiert freilich analog: Putins im Jahr 2018 getätigte Äußerung, dass Russland zu einem nuklearen Vergeltungsschlag bereit sei, auch wenn dies das Ende des menschlichen Lebens bedeuten könnte, wurde in deutschen Medien nach dem russischen Überfall auf die Ukraine verschiedentlich als Beleg für seine „Verrücktheit“ gewertet. Wörtlich sagte Putin über einen von seinem Land ausgehenden Vergeltungsschlag: „Ja, das wird eine globale Katastrophe für die Menschheit sein. Es wird eine globale Katastrophe für den Planeten sein. Aber als Bürger Russlands und als russischer Präsident frage ich: Wozu brauchen wir eine Welt, in der es kein Russland gibt?"

Eine derartige Äußerung sollten wir jedoch nicht einfach nach den eingeschliffenen moralischen Maßstäben des alltäglichen Miteinander bewerten: „Was ist denn das für ein Unmensch, der sein eigenes Land und mit ihm die ganze Menschheit vernichten würde?“. Putins Äußerung ist vielmehr ein präziser Zug in dem Spiel der atomaren Abschreckung, das sich von der Logik unserer gewohnten Interaktionsabläufe denkbar stark unterscheidet. Menschen, die sich im Alltag in einer relativ friedlichen Umgebung bewegen, erscheint es selbstverständlich, anderen subtil zu signalisieren, dass man ihnen nicht schaden werde, etwa durch ein Lächeln, durch das Schütteln der Hände, durch gegenseitige Rücksichtnahme. In der Logik atomarer Abschreckung, in der Putin als ehemaliger KGB-Offizier sozialisiert wurde, gilt dieses Prinzip gerade nicht. Wenn Atommacht A nicht möchte, dass Atomwaffen tatsächlich gegen einen selbst eingesetzt werden oder man zu dem Einsatz dieser Waffe gezwungen wird, dann muss dieser Staat zunächst einmal die Bereitschaft signalisieren, auch zu einem Gegenschlag bereit zu sein. Innerhalb der Spielregeln des atomaren Spiels ist also das, was aus einer alltäglichen Perspektive „verrückt" erscheint, durchaus rational. Das Spiel selbst ist es, das krank ist.

Insbesondere zwischen Russland und der Nato bzw. den USA ist diese Logik auch heute (wieder) bestimmend, wenn sich auch die Nukleardoktrinen seit Ende der 1960er Jahre verändert haben und im Falle der Nato nach dem Prinzip der „Flexible Response“ organisiert sind, in der auch begrenzte Atomwaffeneinsätze für möglich gehalten werden. Während in der Frühzeit des Kalten Krieges die Abschreckungswirkung durch die Androhung eines massiven Vergeltungsschlages erzielt werden sollte, wird heute die Abschreckungswirkung gerade darin gesehen, dass auch ein begrenzter Nuklearschlag möglichst glaubhaft angedroht wird. Abschreckung resultiert jetzt nicht mehr aus der gesicherten Zerstörung des Gegners, sondern gerade aus der Unsicherheit, mit der ein möglicher Einsatz von Atomwaffen verbunden ist.

Die Grenzen atomarer Abschreckung

Es wirft ein grelles Licht auf die Hypersozialität unserer Gattung, dass unter diesen Bedingungen überhaupt Ansätze von Vertrauen zwischen den Supermächten des Kalten Krieges entstehen konnten. In den Abrüstungsverträgen seit dessen Spätzeit hat man versucht, das Vertrauensdilemma dadurch zu lösen, dass man vertrauensbildende Maßnahmen, wie etwa die wechselseitige Kontrolle des Atomwaffenarsenals, initiierte. So konnte mit der Zeit eine Atomsphäre entstehen, die beide Seiten dazu motivierte, sich in kleinsten Schritten in die Hände des anderen zu begeben: „Ich verzichte auf mein Potential dich zu vernichten, weil ich die Auffassung gewonnen habe, dass du ebenfalls auf das Potential verzichtest, mich zu vernichten“, ist das Grundmuster der Vertrauensbildung zwischen Atommächten. Derartige Maßnahmen haben allerdings zwei entscheidende Grenzen, die nicht überwindbar scheinen:

„Die Logik atomarer Abschreckung funktioniert allerdings nicht mehr, wenn die Beziehung zwischen den Akteuren asymmetrisch ist, wenn also etwa eine Terroristengruppe über Atomwaffen verfügt.“

Erstens: Die Logik der atomaren Abschreckung funktioniert nur unter Akteuren, die sich hinsichtlich ihrer Interessenlagen symmetrisch zueinander verhalten. Das heißt: Wenn die Regierung von Atommacht A ein ebenso großes Interesse am Erhalt ihres Staates bzw. ihres Einflussgebiets hat wie die Regierung von Atommacht B, dann verhindert ein annäherndes Gleichgewicht der atomaren Bedrohung, dass sich die Länder nuklear angreifen. Die Logik atomarer Abschreckung funktioniert allerdings nicht mehr, wenn die Beziehung zwischen den Akteuren asymmetrisch ist, wenn also etwa eine Terroristengruppe über Atomwaffen verfügt. Terrorbanden haben typischerweise keine Nation im Hintergrund, deren Interessen sie zu schützen haben, und deshalb könnten sie Atomwaffen einfach einsetzen, ohne die spieltheoretischen Überlegungen anzustellen, mit denen Atommächte konfrontiert sind. Mit einem sich zu den eigenen Interessenlagen asymmetrisch verhaltenden Akteur sind also vertrauensbildende Maßnahmen von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Deshalb muss unbedingt verhindert werden, dass derartige Akteure an Atomwaffen gelangen. Von der Terrorgruppe Al-Qaida ist bekannt, dass sie nach Atomwaffen strebte. Zweck des 2015 abgeschlossenen, aber von US-Präsident Donald Trump 2018 gekündigten Atomabkommens mit dem Iran war es, die Anreicherung waffenfähigen Urans, das für den Bau einer Atombombe notwendig ist, zu verhindern. Schließlich hat der Iran nicht nur Israel mit der nuklearen Auslöschung gedroht, sondern es kann, so zumindest die Perspektive der USA, angesichts der Herrschaft des islamistischen Mullah-Regimes auch nicht ausgeschlossen werden, dass waffenfähiges Uran in die Hände etwa von schiitischen Terrorgruppen wandert.

Die zweite Grenze vertrauensbildender Maßnahmen kommt dann ins Spiel, wenn sich insbesondere die großen Atommächte nach einer weitgehenden Reduktion ihrer Sprengköpfe in die Situation begeben würden, tatsächlich ihre letzten Nuklearwaffen aus der Hand zu geben. Stellen wir uns einmal vor, es wäre gelungen, die Zahl der Atomsprengköpfe auf ca. tausend zu reduzieren (derzeit sind es rund 12.500, zur Hochzeit des Kalten Krieges waren es rund 70.000). Diese Staaten stehen nun vor der Frage: Setze ich mich tatsächlich dem Risiko aus, mich durch die vollständige Aufgabe meines Atomwaffenarsenals meiner Zweitschlagkapazität zu berauben und mich somit schutzlos zu machen, einem potentiellen Gegner also die Möglichkeit zu geben, mich mit Atomwaffen anzugreifen, ohne dass meine potentielle atomare Reaktion sein Kalkül diesbezüglich entscheidend zu meinen Gunsten verändert? Spitzt man die Situation auf diese Weise gedanklich zu, ist klar, dass ein Atomwaffenverbot letztlich zum Scheitern verurteilt sein muss.

Kein Verbot in Sicht

Bereits der 1970 in Kraft getretene Atomwaffensperrvertrag verpflichtete die Atommächte auf das Endziel einer vollständigen Abrüstung von Atomwaffen. Im Gegenzug verpflichten sich die Nicht-Atommächte darauf, selbst Atomwaffen anzustreben. Indien, Pakistan, Israel und (in jüngerer Zeit) der Südsudan traten dem Vertrag nicht bei; Nordkorea kündigte ihn 2003. Allerdings ist heute die Zahl der Atomsprengkräfte lediglich reduziert – bei gleichzeitiger Modernisierung des Arsenals – und nicht gänzlich abgeschafft, wie es der Vertrag vorsieht. China, bislang der einzige Staat, der einen Ersteinsatz von Atomwaffen ausgeschlossen hat, rüstet derzeit sogar wieder auf, und Putin hat jüngst das New-Start-Abkommen zur Begrenzung strategischer Atomwaffen ausgesetzt, nachdem die USA bereits 2019 den 30 Jahre alten INF-Vertrag zum Verzicht auf landgestützte atomare Mittelstreckenraketen aufgekündigt hatten. Begründet wurde dies von den USA mit einem Bruch der Vereinbarung durch Russland.

Diese äußerst beunruhigenden Entwicklungen und insbesondere die mangelnde Vertragstreue der offiziellen Atommächte kann man angesichts des für die gesamte Menschheit bedeutsamen Themas skandalisieren. Sie liegen jedoch letztlich in dem oben skizzierten Vertrauensdilemma begründet. Die Reduktion und Nicht-Verbreitung atomarer Bewaffnung können, vertrauensbildende Maßnahmen vorausgesetzt, mit der Logik der Abschreckung in Übereinstimmung gebracht werden. Bei der Abschaffung von Atomwaffen ist dies jedoch nicht der Fall. Bereits aus eigeninteressierter Staatsräson heraus wäre es in höchstem Maße unklug, sein Atomwaffenarsenal aufzugeben, ohne vorab nicht vollkommen sicher zu sein, dass ein potentieller atomar gerüsteter Gegner sein Arsenal ebenfalls vollständig demontiert. Aber perfekte Sicherheit wird objektiv und – vor allem – subjektiv nie erreichbar sein, wenn der Preis darin besteht, dass die monströseste Waffe dieses Globus die eigene Nation treffen könnte. Das Vertrauensdilemma schlägt also ab einem bestimmten Punkt bereits erfolgter Reduktion von Atomwaffen voll durch und unterminiert das Ziel der Abschaffung von Atomwaffen.

„Die nuklearen Kapazitäten der Atommächte würden nach wie vor für einen mehrfachen Overkill (also die mehrfache Vernichtung des Gegners) reichen.“

Für die großen Atommächte China, Russland und die USA wird dieser Punkt wohl spätestens der Moment sein, an dem die weitere Reduktion von Atomwaffen es verhindern würde, einer atomar angreifenden Nation einen wirkungsvollen Gegenschlag zuzufügen – denn darauf gründet ja im Kern die Abschreckungswirkung der Atomwaffe. Selbst der New- Start-Vertrag sah lediglich eine Reduzierung des strategischen Arsenals auf 1550 Atomsprengköpfe vor – ein großer Schritt für Atommächte, deren nukleare Kapazitäten nach wie vor für einen mehrfachen Overkill (also die mehrfache Vernichtung des Gegners) reichen würden.

Overkill-Kapazitäten sind jedoch – in der Logik der atomaren Abschreckung – nicht einfach „irrational“ oder „Geldverschwendung“. Vielmehr gewährleisten sie, dass alle relevanten Ziele beim Gegner auch dann sicher getroffen werden können, wenn es durch einen Erstschlag zu einer maßgeblichen Reduktion der Zweitschlagskapazität käme oder eine nennenswerte Zahl von Atomsprengköpfen durch Abwehrmaßnahmen ihren Zielort nicht erreicht. Es muss also demzufolge so viel Overkill-Kapazität vorhanden sein, dass der Gegner immer noch mindestens einmal vollständig vernichtet werden kann. Das Vertrauensdilemma macht es damit maximal unwahrscheinlich, dass eine Reduktion des nuklearen Arsenals der großen Nuklearmächte Russland und den USA unterhalb einer mehrfachen Overkill-Kapazität erfolgt, und zwar selbst dann, wenn sich durch ein Wunder sämtliche geopolitische Spannungen zwischen den USA und Russland in Luft auflösen sollten.

Zur ethischen Dimension

Es ist aber für Atommächte nicht nur unklug, ihr Atomwaffenarsenal preiszugeben, es ist zudem auch mit Blick auf die globale Friedenssicherung und eine möglichst freiheitliche internationale Ordnung nicht verantwortbar. Häufig wird das Argument angeführt, Atomwaffen hätten während des Kalten Krieges letztlich der globalen Friedenssicherung gedient, da der Preis eines Atomkrieges prohibitiv ist und sie deshalb, ein Gleichgewicht des Schreckens („mutual assured destruction") vorausgesetzt, stark konfliktdämpfend wirkten. Die Preisgabe von Overkill-Kapazitäten zwischen Russland und den USA hätte in dieser Logik einen Atomkrieg – oder auch konventionelle Angriffe – sogar befördert, weil durch die Verminderung der Zweitschlagskapazität die Schwellen zum Einsatz von Atomwaffen gesenkt worden wären. Aber auch in heutigen Zeiten stellt die Möglichkeit eines u. u. begrenzten Einsatzes von Atomwaffen aufgrund der überbordenden Zerstörungskraft dieser Waffengattung und des unvorhersehbaren Eskalationspotentials eine extrem hohe Hürde mit potentiell pazifizierender Wirkung dar. Mit einer einzigen Bombe mehrere Million Menschen zu töten, wäre eine so neuartige Situation in der Weltgeschichte, dass kein Akteur weiß, wie andere Akteure auf eine solche Situation reagieren würden: Mit absoluter Unterwerfung? Mit nie gekannten selbstzerstörerischen Rachegelüsten? Die sozialpsychologische Dynamik nach einem Atomwaffeneinsatz, der die Sprengkraft der Bomben in Hiroshima und Nagasaki um ein Vielfaches übersteigt, ist terra incognita – und unbeherrschbar. Dieser maximale Grad an Ungewissheit erhöht die Schwelle einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Atommächten enorm.

Auf dem Weg einer möglichen Abschaffung von Atomwaffen jedoch stellt sich noch eine weitere Problematik. Denkt man nämlich die Forderung eines weltweiten Verbots von Atomwaffen konsequent zu Ende, könnte dies der Weg in eine Welt sein, die von nur einem Staat beherrscht wird, nämlich dem, der am ruchlosesten das Vertrauen aller anderen missbraucht, und sich trotz der Zusicherung, seine Atomwaffen abzuschaffen, nicht an seine Zusage hält bzw. heimlich Vorräte behält. Die Abschaffung von Atomwaffen mag in einer idealen Welt richtig sein – in der wirklichen Welt des geopolitischen Kalküls wäre es eben so wenig wünschenswert, dass das zunehmend sich in eine manifeste Diktatur verwandelnde Russland die einzige Atommacht ist, wie die imperialen USA mit ihren rund 750 über den Erdball verteilten Militärbasen oder das völlig aus der Zeit gefallene, noch immer vom kommunistischen Personenkult infizierte, militaristische Nordkorea.

„Es ist schwer vorstellbar, dass die Abschaffung sämtlicher Atomwaffen etwas ist, das wir auch dann gemeinsam wollen können, wenn auch die verallgemeinerungsfähigen Konsequenzen dieses Wollens bedacht werden.“

Wenn Macht korrumpiert und absolute Macht absolut korrumpiert, wie Lord Acton gesagt hat, dann muss man unbedingt verhindern, dass es nur eine einzige Atommacht gibt. 20 große atomare Sprengköpfe in den Händen einer einzigen Nation würden ausreichen, um die restlichen Staaten dieses Erdballs unter dem Joch der Androhung so empfindlicher Atomschläge zu halten, dass diese Nation gleichsam die unumschränkte Weltherrschaft an sich reißen könnte. Damit allerdings kommt der Frage der Abschaffung von Atomwaffen nicht nur eine rein instrumentell-strategische Bedeutung zu, sondern ihr wohnt zudem eine ethische Komponente inne. Wenn wir nicht unter dem ungebrochenen Einflussbereich eines einzigen geopolitischen Akteurs leben möchten, sollte man den Atomwaffenverbotsvertrag oder die bereits von Barack Obama eingebrachte Vision eines „Global Zero“ nicht weiterverfolgen. Es ist schwer vorstellbar, dass die Abschaffung sämtlicher Atomwaffen etwas ist, das wir auch dann gemeinsam wollen können, wenn auch die verallgemeinerungsfähigen Konsequenzen dieses Wollens bedacht werden.

So pervers es also auf den ersten Blick klingen mag, drängt sich der Schluss auf: Eine Abschaffung sämtlicher Atomwaffen zu vermeiden, ist – in der von Interessen und Unsicherheit geprägten „echten“ Welt – nicht nur eine Frage des nationalen Egoismus von Atommächten, sondern sie liegt auch im kollektiven Interesse, und zwar selbst der Staaten, die derzeit keine Atomwaffen besitzen und diese auch nicht anstreben. Zugleich liegt es im Interesse aller, dass die Hürden zum Einsatz von Atomwaffen auf keinen Fall gesenkt werden, wie dies die USA seit 2016 mit der erneuten Entwicklung von „mini nukes“, die deutlich unterhalb des Zerstörungspotentials der Hiroshima-Bombe liegen, anvisieren.   

Die Absurdität der Bombe

Die Menschheit wird also bis auf weiteres mit der Geißel der Atomwaffe leben müssen. Sie kann nicht mehr tun – aber dies immerhin kann sie tun – als peinlichst darauf zu achten, dass sich die verschiedenen Besitzer dieser Geißel wechselseitig so in Schach halten, dass für alle die unter diesen Bedingungen maximal mögliche Freiheit resultiert; eine Freiheit, die jeden Tag dem Potential totaler Vernichtung abgerungen ist. Eine wahrhaft absurde Note hat in diesem Zusammenhang der Umstand, dass die Hölle auf Erden nicht nur durch einen unvernünftigen, wildgewordenen oder rücksichtslosen geopolitischen Akteur angestoßen, sondern sogar durch Zufälle, Unfälle, menschliches Versagen oder Missverständnisse zur furchtbaren Realität werden könnte.

1985 etwa explodierte in einem US-Militärstützpunkt in Heilbronn-Waldheide das Triebwerk einer Pershing II-Atomrakete. Drei US-Soldaten starben – und Heilbronn wäre vollständig vernichtet worden, hätte ein von der Explosion nur 250 Meter entfernt gelagerter Sprengkopf durch den Brand gezündet. Zwei Jahre zuvor wurde dem russischen Oberst Stanislav Petrow durch das Frühwarnsystem gemeldet, US-Atomraketen befänden sich im Anflug auf Russland – er vermutet (richtigerweise) einen Fehlalarm und löst keinen Gegenschlag aus. Wiederum drei Jahre zuvor, im Jahr 1980, fiel einem Techniker im US-Bundesstaat Arkansas eine vier Kilo schweres Werkzeugteil in das Raketen-Silo und durchschlug die Außenwand der sich darin befindlichen Titan II-Rakete. Daraufhin entzündete sich der Treibstoff, was schließlich nach einem stümperhaften Notfallmanagement zur Explosion der Rakete führte und einem Soldaten das Leben kostete. An der Spitze der Rakete befand sich ein Sprengkopf mit 9 Millionen Tonnen TNT-Äquivalenten. Der ganze Bundesstaat wäre ausgelöscht worden, hätte der Sprengkörper infolge der Raketenexplosion gezündet. Eine solche Zweck-Mittel-Kette muss man erst einmal aushalten können: Das Potential für den Tod und das Siechtum von Millionen aufgrund einer heruntergefallenen Ratschen-Nuss!

Ist all das eine nicht mehr steigerbare Zumutung? Ja, selbstverständlich ist es das. Die weitere Verbreitung solcher Waffen zu verhindern, ist ebenso ein Gebot der Vernunft wie es richtig ist, auf die Reduktion dieser Waffen bei einzelnen Atommächten hinzuarbeiten, was wiederum dem Ziel der Nicht-Proliferation in die Hände arbeitet. Auch die Forderung eines totalen Atomwaffenverbots wird angesichts der grotesken Beinahe-Katastrophen schnell erhoben und wird gerne mit der entsprechenden moralischen Verve unterlegt. Aber bei näherer Betrachtung handelt es sich dabei wohl eher um eine „glänzend organisierte Werbekampagne, die ohne Rücksicht auf die widrigen Realitäten trotzig mit dem Gefühl moralischer Überlegenheit sicherheitspolitische Wolkenstürmerei betreibt.“8 Das Spannungsverhältnis zwischen dem wünschenswerten Guten und der bitteren Realität des Erträglichen, das sich an diesem Guten misst, ist nirgendwo so stark ausgeprägt wie in der Frage, wie die Menschheit mit ihrem Potential zur Selbstvernichtung umgeht. Für die vollständige Abschaffung von Atomwaffen einzutreten, mag zwar auf den ersten Blick gut erscheinen – ist aber letztlich nicht zu verantworten.

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