14.01.2016

Vom Vorbild zum Zerrbild

Essay von Johannes Mellein

Die TTIP-Kontroverse wird vielfach durch antiamerikanische Reflexe befeuert. Die wenigstens Deutschen vertrauen amerikanischen Normen. Dabei vergessen viele die wichtige Pionierrolle der USA in Sachen Klima- und Verbraucherschutz.

In einem Interview mit der Welt sprach die langjährige Beraterin des US-Präsidenten Barack Obama, Karen Donfried, von einem „prinzipiell antiamerikanischen Reflex“ in der TTIP-Diskussion. Dieser äußere sich unter anderem in der Vorstellung, die amerikanische Seite sei stets bestrebt, Standards herabzusenken. 1 Schon im vergangenen Jahr zitierte die FAZ. eine Umfrage, laut der mehr als neunzig Prozent der Deutschen trotz der Lebensmittelskandale der vergangenen Jahre angaben, sie fühlten sich mit den europäischen Normen sicher. Lediglich zwei Prozent der Befragten bekundeten Vertrauen in die amerikanischen Standards. 2

Auf der letzten Massendemonstration gegen das Freihandelsabkommen in Berlin mit mehr als 150.000 Teilnehmern konnte man unter anderem Plakate sehen, auf denen eine stilisierte Freiheitsstatue europäische Flaggen verschlingt. 3 Dabei scheinen weniger die Details eines möglichen Vertragswerkes das Problem zu sein, vielmehr wird deutlich, dass es sich im Kern um eine Frage fehlenden Vertrauens handelt. Bei der Entstehung von Misstrauen spielt neben schlechter Erfahrung stets die mangelnde Kenntnis der anderen Seite eine entscheidende Rolle. Hier kann die Geschichte aufklärend wirken.

Angesichts des modischen Antiamerikanismus ist es nicht ohne Ironie, dass die Abgastricksereien deutscher Autohersteller vor kurzem durch die Kontrollen amerikanischer Behörden aufgedeckt wurden; ausgerechnet jenes Landes also, das sich nach Ansicht grüner NGOs kaum um den Zustand der Umwelt schert und stattdessen Wirtschaftsinteressen den Vorzug gibt. Der eher laxe Umgang mit Autoabgasen hat hierzulande übrigens Tradition: Die Einführung des Katalysators für alle Neuwagen gelang Ende der 1980er trotz grassierender Waldsterbenspanik erst nach jahrelangem Tauziehen mit der Autoindustrie und ihr nahestehenden Verbänden.

„Die Vorstellung von den USA als einer Nation der Umweltsünder ist korrekturbedürftig“

Auf der anderen Seite des Atlantiks war die Technologie dagegen längst etabliert und seit 1975 in vielen Bundesstaaten gesetzlich vorgeschrieben. Kein Wunder, dass sich die damalige EG die Abgaspolitik der Vereinigten Staaten zum Vorbild nahm: Die strengeren US-Standards wurden ab 1993 in Europa verpflichtend eingeführt. 4 Angesichts der Massierung antiamerikanischer Ressentiments im Fahrwasser der aktuellen TTIP-Kontroverse lohnt es sich also, genauer nachzufragen: Wie berechtigt ist die Furcht deutscher Kritiker, dass wir es in den USA mit einer völlig gegensätzlichen Tradition des Umwelt- und Verbraucherschutzes zu tun haben, welche unsere Standards auf diesem Gebiet in Frage stellt? Ich möchte anhand weiterer Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit argumentieren, dass die verbreitete Vorstellung von den USA als einer Nation der Umweltsünder korrekturbedürftig ist.

Amerikanische Errungenschaften

Die Pionierrolle der USA im Umweltschutz begann im 19. Jahrhundert. Auf Initiative des Kongresses wurde schon 1872 der erste Nationalpark der Welt geschaffen: der heute weltberühmte Yellowstone-Nationalpark. In den Jahren darauf folgten 16 weitere Naturschutzgebiete dieser Art. Mit dem „Organic Act of the National Park Service“ wurde 1916 die gleichnamige Behörde gegründet, die bis zum heutigen Tag die großen Naturschutzgebiete des Landes verwaltet. 5 Die USA wurden damit zur ersten Nation weltweit, die ein System von Nationalparks errichtete und damit unberührte Natur und biologische Vielfalt per Gesetz vor menschlichem Zugriff bewahrte.

Institutionalisierten Verbraucherschutz kennt man in den USA spätestens seit der Gründung der Lebensmittelüberwachungs- und Arzneizulassungsbehörde FDA im Jahr 1927. Vielen Deutschen dürfte der Contergan-Skandal ein Begriff sein: Von 1957 bis 1962 kamen in der Bundesrepublik tausende Neugeborene mit Missbildungen zur Welt, welche auf die Einnahme des Beruhigungsmittels Contergan während der Schwangerschaft zurückzuführen waren. Dabei war das Medikament in der BRD zunächst sogar rezeptfrei erhältlich. In den Vereinigten Staaten wurde eine ähnliche Tragödie verhindert: Die zuständige Prüferin der FDA verwies auf mangelnde wissenschaftliche Folgeuntersuchungen und verzögerte trotz enormen Drucks von Seiten der Industrie hartnäckig die Zulassung. Für ihre Standhaftigkeit wurde sie in den Folgejahren mehrfach öffentlich ausgezeichnet. 6

Ein weiteres Ereignis aus dieser Zeit verdient Erwähnung: Die Veröffentlichung von Rachel Carsons Silent Spring im Jahr 1962. Das gut 300 Seiten starke Plädoyer gegen den Einsatz des Insektizides DDT mauserte sich nach kontroversem Start zum ersten echten Umweltbestseller und sollte sich als bahnbrechend für die Breitenwirkung des Umweltschutzgedankens erweisen. 7 Mit ihrem emotionalen Warnruf stieß die 1964 verstorbene Meeresbiologin Carson in der westdeutschen Öffentlichkeit, die sich zu dieser Zeit ganz im Banne der Fortschritts- und Modernisierungseuphorie befand, auf Unverständnis und verbreitetes Desinteresse. Der Stumme Frühling blieb noch jahrelang ein Ladenhüter.

„Die amerikanische Erfindung des Emissionshandels wurde zu einem weltweit nachgeahmten Instrument der Klimapolitik“

Auf der anderen Seite des Atlantiks entbrannte dagegen eine intensive Debatte über mögliche ungewollte Wirkungen des Einsatzes von Pestiziden. Obwohl die Beweislage gegen DDT von Anfang an dünn war und sich auch in der Folgezeit nicht erhärtete 8, blieb die aufgeheizte Stimmung politisch nicht ohne Folgen: Der Einsatz des Mittels wurde in den Vereinigten Staaten 1972 endgültig verboten, was neben dem Druck von Umweltgruppen als Erfolg der zwei Jahre zuvor gegründeten U.S. Environmental Protection Agency (EPA) gewertet wurde, die sich unter ihrem Direktor William Ruckelshaus für ein Verbot des Pestizids stark gemacht hatte. 9 Andere Länder folgten dem amerikanischen Beispiel, darunter noch im selben Jahr die Bundesrepublik.

Zur politischen Institutionalisierung des Umweltschutzes diesseits und jenseits des Atlantiks gibt es überraschende Fakten: 1969 hatte der Kongress das weltweit erste umfassende Gesetzeswerk zum Umweltschutz verabschiedet, den National Environmental Policy Act (NEPA), welchem zahlreiche weitere Einzelgesetze folgten. Die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt nahm zu Beginn der 1970er-Jahre den Ball auf, wobei den deutschen Protagonisten die fortschrittliche Umweltpolitik der USA explizit als Vorbild galt. Die Wörter „Umweltschutz“ und „Umweltpolitik“ waren den Deutschen zu dieser Zeit nicht bekannt. Es handelt sich um Übersetzungen des amerikanischen Fachvokabulars, welche von Mitarbeitern des Bundesinnenministeriums entwickelt und in die Öffentlichkeit getragen wurden. 10 Die deutsche Seite folgte den Amerikanern u.a. auch mit der Einrichtung eines „Umweltbundesamtes“ (1974) als beratende und überwachende Instanz, wobei das Vorbild der vier Jahre zuvor gegründeten amerikanischen Umweltbehörde EPA ausschlaggebend war. 11

Für die Entwicklung von Umweltbewusstsein und Umweltbewegung waren „The Limits to Growth“ (dt. „Die Grenzen des Wachstums“) von zentraler Bedeutung. Die 1972 erschienene, u.a. von der Volkswagenstiftung finanzierte Studie des Club of Rome hatte zunächst die amerikanische Öffentlichkeit, schließlich aber auch die Medien in Westeuropa und anderen Teilen der Welt in helle Aufregung versetzt. Ein Team junger Wissenschaftler des Massachusetts Institute of Technology (MIT) hatte unter Einsatz damals bahnbrechender computergestützter Prognosemethoden die Behauptung aufgestellt, dass die Menschheit auf eine globale Katastrophe zusteuerte, wenn die gegenwärtigen Wachstumstendenzen (d.h. die der frühen 1970er-Jahre) anhielten. Diese bereits damals wissenschaftlich zweifelhafte Kritik am Wachstum blieb zwar beiderseits des Atlantiks erstmal ohne größere politische Resonanz, munitionierte die aufkommende Umweltbewegung aber mit starken, neuen Argumenten und mündete auf längere Sicht in die Debatten über Lebensqualität und Nachhaltigkeit, die unsere Gegenwart prägen.

„Dass es sich bei den ‚Grenzen des Wachstums‘ um einen Ideenimport von jenseits des Atlantiks handelte, ist nur noch wenigen klar“

Noch heute liefert das Ideenarsenal der „Grenzen des Wachstums“ ideologische Orientierungspunkte für die großen Umweltdebatten unserer Zeit. Und das, obwohl sich viele der Szenarien aus heutiger Sicht als unhaltbar erwiesen haben. Dies gilt insbesondere für die weltweite Entwicklung des Verbrauchs von Ressourcen und Energie sowie die Annahmen bezüglich der auf unserem Planeten verfügbaren Rohstoffreserven. Einzig die Prognosen zum Wachstum der Weltbevölkerung erwiesen sich im Nachhinein als tragfähig, freilich ohne, dass die katastrophalen Konsequenzen der angstvoll beäugten „Überbevölkerung“ jemals eingetreten wären. 12 Die These von den schädlichen Folgen des Wachstums ist hierzulande dennoch Teil des bürgerlichen Bildungskanons geworden. Dass es sich bei den „Grenzen des Wachstums“ um einen Ideenimport von jenseits des Atlantiks handelte, ist dagegen nur noch wenigen klar.

Zankapfel Vorsorgeprinzip

Das Feindbild USA, welches Verbraucherschützer und grüne NGOs der deutschen Öffentlichkeit mit ermüdender Regelmäßigkeit vorhalten, dürfte einen großen Teil seiner Überzeugungskraft aus der Erinnerung an die Umweltpolitik der Bush-Ära ziehen. Insbesondere die Verweigerungshaltung der ersten Bush-Administration bei der Ratifizierung des Kyoto-Protokolls zur Begrenzung der globalen CO2-Emissionen stieß hierzulande auf Ärger und Unverständnis. Um Sinn und Unsinn des Klimaschutzes wie des gesamten Vorsorgegedankens erschöpfend zu diskutieren, fehlt an dieser Stelle der Raum. Es sei aber zumindest angemerkt, dass die Bilanz westdeutscher Vorsorgepolitik auch ihre Schattenseiten hat.

Einen Präzedenzfall hierfür bietet der Umgang mit dem sogenannten „Waldsterben“: Noch heute meinen deutsche Umweltschützer und Politiker, Mitte der 1980er durch einen umweltregulatorischen Kraftakt, insbesondere die Novelle der Großfeuerungsanlagenverordnung (1983), eine gewaltige Umweltkatastrophe verhindert zu haben. Neuere Forschung und nicht zuletzt das Beispiel anderer Länder deuten aber darauf hin, dass die Wälder durch den Einfluss von Luftschadstoffen („Saurer Regen“) längst nicht so stark gefährdet waren, wie aus den Prognosen einiger Wissenschaftler abzulesen war. 13 Da nie eine adäquate Entwarnung erfolgte, glaubte die bundesrepublikanische Öffentlichkeit noch bis in die frühen Neunziger hinein an das baldige Ende des deutschen Waldes.

Viele der Monitoring- und Regulierungsmaßnahmen, welche als politische Konsequenz aus dem Waldsterbensalarm erwuchsen, lassen sich aus heutiger Sicht als überzogen und unnötig teuer kritisieren. Die sogenannten „Waldschadensberichte“, denen aufwendige Datenerhebungen im ganzen Land zugrunde lagen, galten schon kurz nach ihrer Einführung in Forscherkreisen als wenig aussagekräftig und wurden doch jahrelang unverdrossen fortgeführt. 14 Hätte man einen kühlen Kopf bewahrt und den weiteren Lauf der Forschung angemessen rezipiert, anstatt vorsorgend „das Schlimmste“ zu verhindern, wären intelligentere Reaktionen möglich gewesen. So wurde der „Saure Regen“ in den USA ebenso erfolgreich bekämpft, aber ungleich effizienter: Bereits in den 1970er-Jahren hatten einige Bundesstaaten mit „Emission Reduction Credits“ experimentiert. Um 1990 wurde dann ein Handelssystem für Schwefeldioxid-Emissionsrechte eingeführt, welches die angestrebten Umweltziele erreichte, inklusive Kosteneinsparungen in Milliardenhöhe. 15 Im Zusammenhang mit Kohlendioxid avancierte die amerikanische Erfindung des Emissionshandels zu einem weltweit gefragten und nachgeahmten Instrument der Klimapolitik.

Von Amerika lernen, heißt?

Es ging in diesem historisch-politischen Abriss nicht darum, den amerikanischen Weg in die ökologische Moderne auf einen Sockel zu heben: Obwohl die USA in vielerlei Hinsicht ein Vorreiter waren, ist der Input von jenseits des Atlantiks keineswegs über jeden Zweifel erhaben, wie u.a. die Beispiele der „Grenzen des Wachstums“ und des DDT-Verbotes zeigen. Es lassen sich mit Sicherheit auch Fälle finden, in denen Deutsche und Europäer sinnvollere Umweltschutzmaßnahmen initiiert haben. Dennoch: Die aufgeführten Fakten genügen vollkommen, um ein Klischee zu stürzen, welches bereits viel Schaden angerichtet hat und weiterhin droht, eine sachliche Debatte über den transatlantischen Freihandel zu verhindern. Was Umwelt- und Verbraucherschutz angeht, brauchen wir die Amerikaner nicht mehr zu fürchten als andere europäische Staaten, mit denen wir seit langem unter dem Dach der europäischen Einigung kooperieren.

„Im Umgang mit den Vereinigten Staaten ist es an der Zeit, Arroganz und Ängste gleichermaßen herunterzufahren“

Auch Frankreich und Großbritannien weichen in ihrer Kultur des Umweltschutzes von unserem deutschen Idealbild ab (Atomkraft!), trotzdem wird niemand behaupten, der freie Warenverkehr innerhalb der EU hätte unseren Standards geschadet. TTIP-Gegner dämonisieren die Vereinigten Staaten und unterstellen ihnen unheilbare ökologische Ignoranz sowie umfassend niedrigere Schutzstandards für Umwelt und Verbraucher. Solche Zerrbilder sind nicht nur fern der Realität, sie zeugen auch von einer hierzulande verbreiteten Überheblichkeit in ökologischen Belangen, gepaart mit einem offensichtlichen Mangel an historischem Bewusstsein bezüglich der Entstehung des modernen Umwelt- und Verbraucherschutzes.

Im Umgang mit den Vereinigten Staaten ist es an der Zeit, Arroganz und Ängste gleichermaßen herunterzufahren. Wenn beide Seiten in den laufenden Verhandlungen mit gutem Willen nach Gemeinsamkeiten suchen, werden sie mit Sicherheit fündig werden, und zwar jenseits fauler Minimalkompromisse. Wenn sich am Ende eines (durchaus verbesserungswürdigen) Verhandlungsprozesses die Chance bietet, dem Welthandel des 21. Jahrhunderts einen gemeinsamen europäisch-amerikanischen Stempel aufzudrücken, sollten wir sie nicht aus den falschen Gründen verstreichen lassen.

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