14.04.2014

Freihandel: Angst vor Chlorhühnchen

Kommentar von Thilo Spahl

USA und EU verhandeln seit Mitte 2013 über ein Abkommen zum Abbau von Handelsbarrieren, die so genannte Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP). Auch wenn es sich häufig so anhört, bedeutet dies nicht den Untergang des Abendlandes. Von Thilo Spahl

Auf der Kampagnenseite campact.de stellt sich die Sache ganz einfach dar: Unter der Überschrift „Keine Geschenke für Monsanto, BASF & Co.“  erfahren wir: „Das TTIP-Handelsabkommen soll Konzernen Profite durch Fracking, Chlorhühner, Gen-Essen und laxen Datenschutz erleichtern – und es bedroht Europas Demokratie. Auf diesen Deal lassen wir uns nicht ein.“ [1] Das leuchtet offenbar vielen Mitbürgern sofort ein. Bis Anfang April haben sich schon fast 500.000 vom mitgelieferten „5 Minuten Info“ überzeugen lassen und die Onlinepetition unterzeichnet.

Von den Kritikern wird die öffentliche Debatte als Kulturkampf inszeniert. In der taz wird in der Überschrift „Chlorfleisch statt Biohähnchen“ [2] in aller Kürze auf den Punkt gebracht, was zu drohen scheint, wenn man sich auf solche Verhandlungen mit Amerika einlässt. Illustriert ist der Artikel mit Fotos von übergewichtigen, fahnenschwenkenden US-Bürgern. Es geht darum, die gefühlte Bürgerherrschaft und Ökoromantik in Europa gegen die gefühlte Konzernherrschaft und Technikgläubigkeit in den USA zu verteidigen.

Der eigentliche Gegenstand der TTIP-Verhandlungen, die wohl noch Jahre brauchen werden, ist weniger spektakulär. Neben dem Abbau relativ weniger, noch verbliebener Zölle wird vor allem die Angleichung von Regeln und Standards oder die gegenseitige Anerkennung der jeweiligen Regulierungen als gleichwertig angestrebt. Ziel ist es, dass Unternehmen ihre Produkte in den Mitgliedstaaten des Abkommens genauso einfach verkaufen können wie in ihren Heimatländern.

„In der EU sind für Fleisch grundsätzliche keine Dekontaminationsmethoden zugelassen.“

Am ominösen Chlorhühnchen kann man verdeutlichen, worum es bei der gegenseitigen Anerkennung verschiedener Verfahren geht. Sowohl die USA als auch die EU achten aus guten Gründen darauf, dass Fleisch, das in den Handel kommt, nicht mit gefährlichen Bakterien belastet ist. In den USA wird dies unter anderem dadurch erreicht, dass Geflügel mit antimikrobiell wirkendem Chlordioxid behandelt wird, das bei Kontakt mit Lebensmitteln zu harmlosen Chlorid-Ionen zerfällt. In der EU sind für Fleisch grundsätzliche keine Dekontaminationsmethoden zugelassen.

Seit 1997 ist die Einfuhr von Geflügel, das mit Chlordioxid behandelt wurde, in die EU verboten, 2009 haben die USA dagegen geklagt, da weder die EU-Kommission noch die Mitgliedsstaaten eine auf wissenschaftliche Erkenntnisse gestützte Begründung für das Verbot vorgelegt hatten. Tatsächlich kam auch die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit efsa 2005 in einem Gutachten zu dem Schluss, dass Chlordioxid und drei andere untersuchte Substanzen unter den vorgeschlagenen Anwendungsbedingungen keinen Anlass zu Sicherheitsbedenken geben. [3] Auch das Bundesinstitut für Risikobewertung lehnt die chemische Dekontaminierung in einer Stellungnahme von 2006 mit Verweis auf weit über 100.000 Erkrankungen durch Salmonellen und Campylobacter nicht ab. [4] Es ist verständlich, dass die US-Geflügelindustrie hier eine protektionistische Maßnahme sieht und die USA versuchen, diese Handelsbarriere loszuwerden.

Bezeichnend ist, dass Ilse Aigner, als sie noch Landwirtschaftsministerin war, die Ablehnung damit begründete, dass sie gegen die „Einfuhr von kontaminierten Geflügel“ sei. [5] Sie war offenbar der Auffassung, dass die Hühnchen durch die Dekontamination kontaminiert wurden. Fürchtet sie sich auch in der Arztpraxis, durch das Desinfektionsmittel infiziert zu werden? Sicher nicht. Sie teilt wahrscheinlich nur mit vielen anderen Europäern eine intuitive Abwehr gegen jede chemische Behandlung von Lebensmitteln und mutete sich nicht zu, lange darüber nachzudenken, was sie sagt, da sie sich der Zustimmung der Mehrheit sicher sein konnte.

„So ist der Widerstand gegen die TTIP wesentlich durch die Sorge motiviert, die europäische Ökolobby könnte dadurch geschwächt werden, dass die Verbraucher plötzlich ungehindert, unbesorgt und unbeschadet Sachen kaufen, vor denen man sie bisher heroisch geschützt hat.“

Näher an einer ökonomischen Betrachtung ist die Vorsitzende der Europäischen Grünen Fraktion, Rebecca Harms. Sie betrachtet die europäische Landwirtschaft gegenüber der US-amerikanischen „Agro-Industrie“ einfach nicht als konkurrenzfähig. [6] Aber was sollte die tüchtigen Europäer daran hindern, ebenso effizient Ackerbau zu betreiben wie die Amerikaner? Ihnen stehen schließlich dieselben Technologien zur Verfügung. Sie könnten wohl schon wettbewerbsfähig sein. Wachsende Effizienz würde aber das bedrohen, was Rebecca Harms als „bäuerliche Landwirtschaft“ bezeichnet. Letztlich erweist sich also die vermeintliche ökonomische Bedrohung wieder als kulturelle. Und dann stellt sich die Frage: Was genau ist eigentlich „bäuerliche Landwirtschaft“ und wer will sie warum erhalten?
Die Gegner von Chlorhühnchen, Gen-Mais, Klonrindern, Hormonfleisch und wie die amerikanischen Schocklebensmittel alle heißen haben nicht Angst um ihre Gesundheit. Sie brauchen ja keine amerikanischen Hühnchen zu essen, und es gibt auch keine wissenschaftlich begründeten Gesundheitsbedenken. Sie haben Angst, dass viele Europäer die US-Produkte einfach kaufen würden, weil es in Europa schlicht keine Mehrheit gibt, die solche Produkte nicht nur in Meinungsumfragen, sondern auch an der Supermarktkasse ablehnt. So ist der Widerstand gegen die TTIP wesentlich durch die Sorge motiviert, die europäische Ökolobby könnte dadurch geschwächt werden, dass die Verbraucher plötzlich ungehindert, unbesorgt und unbeschadet Sachen kaufen, vor denen man sie bisher heroisch geschützt hat.

Diese Angst ist unbegründet. Bei all den Aufregerthemen werden die verhandelnden Parteien darauf achten, sich nicht die Finger zu verbrennen, und sie deshalb außen vor lassen. EU-Handelskommissar Karel De Gucht formuliert es so: „Wir werden zwar über die bestehenden und zukünftigen Schranken zwischen Europa und Amerika im Zusammenhang mit der Regulierung sprechen. Aber wir werden nicht alle diese Schranken abschaffen. In vielen Bereichen sprechen gute Gründe für unsere unterschiedlichen Regelungen. Es geht nicht um die Frage, wer Recht hat und wer nicht oder wer besser oder schlechter ist. Manchmal sind die politischen Präferenzen auf beiden Seiten des Atlantiks sehr unterschiedlich aus kulturellen Gründen, Überzeugungen oder gesellschaftlichen Differenzen. Aber wo es möglich ist, wollen wir Lösungen finden, die im Interesse beider Seiten liegen, ohne dabei unsere Werte aufzugeben und ohne unser Schutzniveau zu senken.“ [7]

„Ein Freihandelsabkommen ist nicht der richtige Weg, kulturelle Vorbehalte und antiamerikanische Ressentiments zu überwinden.“

Die Kritiker werden also sehr wahrscheinlich Erfolg haben. Die TTIP wird sich auf Vereinbarungen beschränken, die niemanden in seiner kulturellen Identität bedrohen: gemeinsame Regeln für die Rückverfolgbarkeit von Medizinprodukten, für Sicherheitstests bei Autositzen und dergleichen. Das ist gut so. Denn ein Freihandelsabkommen ist nicht der richtige Weg, kulturelle Vorbehalte und antiamerikanische Ressentiments zu überwinden. Amerikanische Landwirte werden auch in Zukunft damit leben müssen, dass gentechnisch veränderte Lebensmittel in der EU gekennzeichnet werden, und europäische Hersteller von Rohmilchprodukten werden darauf verzichten müssen, ihre Produkte an Amerikaner zu verkaufen. Der Abbau von unnötiger und unsinniger Regulierung in der EU und Deutschland muss in erster Linie durch eine offene Debatte hier bei uns erfolgen, nicht durch intransparente Verhandlungen mit den USA.

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