24.06.2022
Übergewicht durch Pandemie?
Von Uwe Knop
Angeblich sollen Kinder während der Corona-Pandemie „alarmierend“ dicker geworden sein, womit man eine Zuckersteuer und Werbebeschränkungen begründen will. Da ist wenig dran.
Endlich gute Nachrichten. Die Corona-Krise hat nahezu keine Auswirkungen auf die oft kolportierte „Verfettung“ der 3 bis 17-jährigen Kinder, denn: 98 Prozent der lieben Kleinen sind in den vergangenen zwei Jahren nicht deutlich dicker geworden! So lautet das Kernergebnis einer repräsentativen Umfrage der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG) und des Else Kröner-Fresenius-Zentrum (EKFZ) für Ernährungsmedizin an der Technischen Universität München.1 Falls Sie sich jetzt etwas ungläubig fragend erinnern: „Da gab´s doch Anfang Juni eine ähnliche Umfrage überall in den Medien, nur die Ergebnisse, die waren mehr als alarmierend …“ – da haben Sie Recht. Und wie passt das zusammen? Ganz einfach …
Für die Studie hat das Meinungsforschungsinstitut Forsa im März und April 2022 insgesamt 1004 Eltern mit Kindern im Alter von 3 bis 17 Jahren befragt. Dabei sollten die Eltern auch angeben, ob ihr Kind in den letzten zwei Jahren der Pandemie dünner oder dicker geworden ist. Nur 2 Prozent der Eltern gaben an: Mein Kind ist „deutlich dicker“ geworden, 14 Prozent glaubten, der Nachwuchs wurde lediglich „etwas dicker“. Und Simsalabim: Beides zusammen ergibt medienwirksame(re) 16 Prozent. Und an diese Schlagzeile erinnern Sie sich: „Jedes sechste Kind in Deutschland ist seit Beginn der Corona-Pandemie dicker geworden!“ Darüber haben zahlreiche Medien in teils ‚alarmierendem Tenor‘ berichtet.
Da stellt sich absolut die berechtigte Frage: Warum wurde sich nicht öffentlich darüber gefreut, dass nur 2 Prozent der Kinderchen „deutlich dicker“ und nur 1 Prozent „deutlich dünner“ wurden – und mehr als Dreiviertel der Eltern keine sichtbare Gewichtsänderung bei ihren Kindern feststellten? Das sind doch richtig gute Nachrichten, denn: So schlimm die Corona-Pandemie auch war und ist – sie macht(e) die Kinder nicht deutlich dicker! Wunderbar, Wissenschaftler, diesbezüglich bitte einmal kurz entspannt zurücklehnen – und nun kümmert Euch wieder um die wirklich wichtigen Probleme in unserem Land.
„Keine Kiloangabe, keine Grenzwerte, keine Kontrollgruppe, keine Nachprüfbarkeit – mehr Datenlücken als Fakten!“
Doch stattdessen mahnen die Studienautoren auf Basis der Umfrage Sofortmaßnahmen an, so „eine Besteuerung von Zuckergetränken, Werbeschranken für ungesunde Lebensmittel und eine Stärkung der Adipositas-Therapie, die in Deutschland chronisch unterfinanziert sei.“ Unabhängig davon, dass es keine „ungesunden" Lebensmittel per Definition und generell gibt, was gleich siebenfach ökotrophologisch-institutionell verbrieft ist – was hat all das mit den marginalen 2 Prozent „deutlich dickeren“ Kindern zu tun? Gravierende staatliche Einschnitte wie Steuern und Verbote fordern, weil 98 Prozent der Kinder nicht deutlich dicker geworden sind? Den Zusammenhang muss man nicht verstehen – man kann aber mal darüber nachdenken. Bereits bedenklich hingegen ist, über die ‚verdrehte Wahrheit und verkehrte Welt‘ hinaus, der wissenschaftliche Wert, also die Evidenzkraft (oder besser Evidenzschwäche) dieser Umfrage, denn: Keine Kiloangabe, keine Grenzwerte, keine Kontrollgruppe, keine Nachprüfbarkeit – mehr Datenlücken als Fakten!
Zum einen basieren die Ergebnisse auf den persönlichen Angaben der Eltern, die auf deren eigener Einschätzung beruhen und in keiner Weise überprüft werden können. Ergo: Niemand weiß, ob es stimmt, was die Eltern sagten. Des Weiteren geben weder DAG noch EKFZ eine Auskunft darüber, was konkret „etwas“ und „deutlich“ dicker in Kilogramm oder Gramm bedeuten. Zumal Kinder ja auch pandemie-unabhängig rein biologisch weiterwachsen und dadurch zunehmen. „Etwas dicker“ klingt jetzt nicht sonderlich bedrohlich und kann sehr wenig sein. Auch wird aus der Umfrage und der DAG-PR nicht ersichtlich, ab wann die Eltern „etwas“ oder „deutlich“ dicker angeben sollten. War bis 1 Kilogramm mehr „etwas“ und ab 1,1 Kilogramm „deutlich“ dicker? Oder galt einfach nur die optische Einschätzung „einmal aufs Kind draufschauen und zurückerinnern an vor zwei Jahren“? Ein Gewichtsbuch zum Nachlesen haben ja sicher die Wenigsten. Zudem gibt es immer typische Altersbereiche, in denen zumindest ein Teil der Kinder etwas pummeliger wird (was oft später auch wieder verschwindet).
Das Umfrage-Credo lautet also: Nichts Genaues weiß man nicht, es bleibt diffus-nebulös. Hinzu kommt, jetzt mal wieder wissenschaftlich seriös: Um eine valide Aussage zu treffen, ob die zwei Prozent „deutlich dickere“ Kinder der Pandemiejahre 2020-22 ungewöhnlich viel sind, müsste man eine vorpandemisch gleich befragte Kontrollgruppe zum Vergleich heranziehen, die die Zunahme beispielsweise von 2018-20 zeigt. Dann könnte man vergleichen, also kontrollieren, ob es im diesem Zeitraum weniger oder mehr Dickenzuwachs gab – und damit wüsste man dann, wie die Entwicklung in der Pandemie einzuordnen ist. Aber, welch´ Überraschung: Auch diese Kontrollgruppe gibt es nicht.
„Valide Daten aus bundesweit repräsentativen Gewichtsmessungen in der Altersgruppe 3 bis 17 Jahre gibt es in Deutschland aktuell nicht – weder vor noch nach der Pandemie.“
Stattdessen werden die zwei Prozent in DAG-PR wie folgt präsentiert: „Eine Gewichtszunahme in dem Ausmaß wie seit Beginn der Pandemie haben wir zuvor noch nie gesehen. Das ist alarmierend“. Auch die Deutsche Diabetes Gesellschaft legte direkt am gleichen Tag mit gleichem PR-Framing nach: „Die Corona-Kilos werden zu einer schweren Hypothek für eine ganze Generation. Die Ergebnisse der DAG-Elternbefragung sind alarmierend“.
Und die Moral von der Geschicht´? Genau das ist die Gretchenfrage. Was wird mit einer solchen Kommunikationsstrategie bezweckt, die eine absolute Minderheit in den Fokus konzertiert-‚alarmierender‘ PR stellt? Wobei auch noch unklar ist, wie konkret und wissenschaftlich belastbar die Ergebnisse eigentlich sind, von evidenzbasiert ganz zu schweigen? Und dann wird auch noch darauf basierend ein ganzer Blumenstrauß staatlicher Restriktionsmaßnahmen wie Steuern und Verbote gefordert! Die Antwort kennen die Verantwortlichen bei DAG und EKFZ sicher am besten …
P.S.: Valide Daten aus bundesweit repräsentativen Gewichtsmessungen in der Altersgruppe 3 bis 17 Jahre gibt es in Deutschland aktuell nicht – weder vor noch nach der Pandemie. Gemäß KiGGS-Erhebung des Robert Koch-Instituts aus den Jahren 2014 bis 2017 lag die Quote kindlicher Fettleibigkeit in diesem Alter vor fünf Jahren bei 5,9 Prozent. Gemäß Daten des jährlich erscheinenden DAK-Kinder- und Jugendreports liegt die Adipositasquote seit Jahren unverändert gar deutlich niedriger: bei 3,7 Prozent (hohe Repräsentativität für die Gesamtbevölkerung).