22.01.2018

Tand ist das Gebilde von Menschenhand

Von Klaus Alfs

Titelbild

Foto: ThiloBecker via Pixabay CC0

Beim Versuch, ein „naturnahes“ Image zu kultivieren, können Bauern nur verlieren, denn Landwirtschaft ist per Definition unnatürlich. Besser wäre es, die Leistungen der „Agrarindustrie“ hervorzuheben.

„Die Sonne hat nicht den Zweck, die Kohlköpfe wachsen zu lassen.“
Gustave Flaubert

Die moderne, hochtechnisierte Landwirtschaft hat ein offenbar irreparabel schlechtes Image. Dass der rasante technische Fortschritt in der Agrarproduktion seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs erst die Voraussetzungen für den immensen Wohlstand geschaffen hat, von dem die Menschen heute profitieren, wird in der Gesellschaft kaum noch positiv bewertet. Stattdessen ist es schick, von der „Rache der Natur“ zu menetekeln, welche schon bald zu einem ökologischen Super-GAU führe, wenn die Menschheit nicht schleunigst ihr technisches Besteck verkleinere und auf den Tugendpfad einer naturgemäßen Lebensweise zurückfinde.

„Die industrialisierte Landwirtschaft“, behauptet etwa Greenpeace, „erzielt dauerhaft weder höhere Erträge noch gesunde Lebensmittel.“ Geboten sei daher eine „naturnahe Landwirtschaft“, die „natürliche Kreisläufe“ nutze, anstatt Pestizide und Gentechnik zu verwenden. Die simple Tatsache, dass die „industrialisierte Landwirtschaft“ sehr wohl immer höhere Erträge erzielt und Lebensmittel so gesund sind wie nie zuvor, wird durch das Wörtchen „dauerhaft“ verschleiert. Greenpeace gibt etwas als Tatsache aus, was lediglich von einigen Menschen befürchtet wird. Die NGO scheint darauf zu hoffen, dass die Erträge in Zukunft einbrechen, damit die von ihr propagierte „naturnahe Landwirtschaft“ endlich als Sieger dasteht.

„Wo von Natur die Rede ist, fehlt der Dogmatismus selten.“

Greenpeace kann mit derlei irreführenden Behauptungen Eindruck machen, weil es heute ein Allgemeinplatz vermeintlich aufgeklärter Bürger ist, dass die Landwirtschaft sich „von der Natur entfernt“ habe und nicht gegen die Natur, sondern nur mit der Natur möglich sei. Solche Sätze dürfte jeder schon einmal gehört oder gelesen haben. Sie wirken auf den ersten Blick nachdenklich, sind aber so inhaltsleer wie ausgelaugte Böden.

Von Zwecken gezwickt

Der Grund, warum so gerne die Natur bemüht wird, um subjektive Interessen als objektive auszugeben, ist einfach: Kein Mensch weiß genau, was Natur überhaupt sein soll. Deshalb kann jeder in sie hineininterpretieren, was ihm gerade einfällt. Der schier unendliche Variantenreichtum des Begriffs bewirkt leider nicht, dass er mit Bedacht verwendet wird. Im Gegenteil: Wo von Natur die Rede ist, fehlt der Dogmatismus selten.

Dieser offenbart sich zum Beispiel in den lautstarken Bekundungen veganer Tierrechtler. „Kuhmilch ist nicht für Menschen da“, lautet ein typischer Satz von Veganern. „Die Milch erfüllt […] einen ganz gezielten Zweck, nämlich den Aufbau des Immunsystems sowie das schnelle Wachstum und die Kräftigung des Nachwuchses“, heißt es auf der Website von Animal Rights Watch (Ariwa). Die Frage, von wem dieser Zweck gesetzt worden sei, hat sich Ariwa offenbar nicht gestellt. Wer diese Frage nun naiv mit „die Natur“ beantwortet, ist schon hereingefallen. Denn er hat damit auch die These bejaht, dass Natur von sich aus irgendwelche Zwecke setzen könne, als wäre sie eine Person.

„Natur ist nicht zweckhaft, also kann sie auch nicht zweckentfremdet werden.“

Die Milch erfüllt aber nicht den Zweck, das Immunsystem aufzubauen und das Kalb zu kräftigen, sondern sie baut einfach das Immunsystem auf und kräftigt das Kalb. Dass es der objektive Zweck der Milch sei, dies zu bewirken, ist bloß ein Glaubenssatz (Dogma). Der Genuss von Milch verschafft dem Kälbchen auch Wohlbefinden und hat zur Folge, dass deren Rückstände als Kälberschiss hinten wieder herauskommen. Mit demselben Recht wie die Veganer könnte nun jeder behaupten, Milch erfülle den ganz gezielten Zweck, dem Kalb Wonne zu bereiten und die Luft mit Kotgeruch anzureichern.

Verneint man einfach, dass die Natur als solche zweckhaft sei, läuft die Empörung von Tierrechtlern ins Leere. Denn wo es keine Zwecke gibt, kann auch nichts zweckentfremdet werden. Man kann also getrost Milch trinken oder darin baden, ohne damit der Natur nur einen Millimeter ferner zu stehen als laktoseintolerante Ökopäpste.

Zwei Naturbegriffe

Am Beispiel der Milch wird die Differenz zwischen zwei grundlegenden Naturbegriffen deutlich, welche man vereinfachend als final und kausal bezeichnen könnte. Beim finalen Naturbegriff wird danach gefragt, welches Ziel und welchen Zweck (nicht welchen Nutzen) die Naturerscheinungen haben. Er geht im Wesentlichen auf Aristoteles (384–322 v. Chr.) zurück und prägte bis zur Entwicklung der Naturwissenschaften (Galilei, Newton) die abendländische Naturauffassung, insbesondere die des Christentums.

„Landwirtschaft kann die physikalischen, chemischen, biologischen Naturgesetze in keiner Weise außer Kraft setzen, ist also stets natürlich.“

Aristoteles unterscheidet zwischen physis (Natur) und techné (Kunst). Natürlich ist demgemäß alles, was ohne menschliche Planung, Absicht und Eingriffe von selbst da ist. Künstlich ist alles, was vom Menschen geplant und gemacht wird. Für Aristoteles hat jedes Naturding seinen Zweck in sich selbst, nämlich den, die in ihm liegende Vollkommenheit zu erreichen (Entelechie). Diese Zwecke wurden Aristoteles zufolge vom „unbewegten Beweger“, der Ursache aller Ursachen, festgelegt. Die Entelechie des Haferkorns wäre es beispielsweise, zur ausgereiften Pflanze zu werden. Hafer wäre also ebenso wenig für menschliche Vegetarier da wie Kuhmilch für menschliche Mischköstler. Denn wer das Korn an der Entfaltung seiner Vollkommenheit hindert, indem er es zerquetscht und ins Müsli rührt, handelt naturwidrig.

Der kausale Naturbegriff definiert Natur hingegen nicht im Hinblick auf deren Zweckmäßigkeit, sondern unter dem Aspekt ihrer Gesetzmäßigkeit und Berechenbarkeit. Hier werden die Naturerscheinungen in Wenn-Dann-Konstellationen gebracht. Galileo Galilei (1564–1641) und andere „entdeckten“ die Naturgesetze jedoch nicht einfach, indem sie Löcher in den Himmel starrten, sondern „erzeugten“ sie mit Hilfe von ausgeklügelten technischen Experimenten und Geräten „künstlich“. Der Gegensatz von physis und techné wurde damit aufgehoben. Natur kann nämlich nur erkannt werden, indem man technisch in sie eingreift. Egal ob Menschen, Tiere, Pflanzen, Steine oder „Artefakte“ – alles unterliegt denselben Naturgesetzen.

Natürliche Landwirtschaft?

Vom Standpunkt der modernen Naturwissenschaft ist die Rede von einer „natürlichen Landwirtschaft“ streng genommen sinnlos, denn wo alles Natur ist, kann es nichts Naturwidriges geben. Landwirtschaft kann die physikalischen, chemischen, biologischen Naturgesetze in keiner Weise außer Kraft setzen, ist also stets natürlich und niemals künstlich. Raubbau, Umweltzerstörung und alles Negative, was der Landwirtschaft zur Last gelegt werden kann, verstößt damit nicht gegen objektive Naturzwecke, sondern widerstreitet allein menschlichen Zwecken (die wiederum von den natürlichen Bedürfnissen der Gattung Mensch bestimmt sind). Den „Ökosystemen“ ist es völlig schnurz, ob sie durcheinandergebracht werden, und „Artenvielfalt“ ist nicht der objektive Zweck des Regenwalds.

„Dummerweise verwechseln die Bürger heutzutage meist Agrarlandschaft mit unberührter Natur.“

Legt man seinen Betrachtungen hingegen den finalen Naturbegriff zugrunde, muss streng genommen jede vom Menschen hervorgerufene Veränderung als naturwidrig gelten. „Natürliche Landwirtschaft“ wäre in diesem Begriffsrahmen ein Widerspruch in sich. Nicht umsonst leitet sich das Wort „Kultur“ vom lateinischen cultura ab, was so viel bedeutet wie „Ackerbau“. Landwirtschaft ist aus dieser Perspektive also stets künstlich und niemals natürlich.

Dummerweise verwechseln die Bürger heutzutage meist Agrarlandschaft mit unberührter Natur. So ist beispielsweise die Lüneburger Heide „ein Produkt des Raubbaus der Hanse, die ganze Eichenwälder verschlang, um ihre Koggen auszurüsten“, wie der Philosoph Gernot Böhme anmerkt. „Die oftmals nur unbewusste, teilweise aber bewusst initiierte Assoziation von landwirtschaftlicher Natur mit unberührter Natur muss folglich als zentrale Konfliktquelle erkannt werden“, resümiert der Philosoph Christian Dürnberger. Landwirtschaft und unberührte Natur unter einen Hut zu bringen gleicht dem Versuch, seinen Pelz zu waschen, ohne nass zu werden. Die falschen Assoziationen erschweren als ideologischer Ballast sachgerechte Lösungen agrarwirtschaftlicher Probleme.

Reine Natur und menschliche Aliens

Definiert man Natur als das, was ohne menschlichen Einfluss seiner eigenen Zweckbestimmung folgt, muss man den Menschen gedanklich aus der Natur herausnehmen und schauen, was übrigbleibt. Dadurch wird es möglich, den Menschen moralisch gegen die Natur auszuspielen. Er kann wie eine Art bösartiger Alien dargestellt werden, der von außen in die unschuldige Natur eindringt und sie zerstört.

„Je fortschrittlicher und ‚künstlicher‘ die Naturbearbeitung wirkt, desto sündhafter erscheint sie.“

Da Menschen der finalen Naturbestimmung zufolge gar nicht anders als naturwidrig handeln können, ist es leicht, sie als per se schuldig zu bezeichnen (Erbsünde). Die Menschen können ihre Schuld jedoch klein halten, indem sie möglichst wenig gegen die Natur handeln. Wenn es eine natürliche Landwirtschaft in diesem Denksystem schon nicht gibt, so scheint es immerhin machbar zu sein, eine weniger künstliche und damit „naturnähere“ Landwirtschaft zu betreiben.

Das Bestreben, möglichst „naturnah“ zu leben, erzeugt eine Art Sog zum „Urzustand“, zu einer Natur ohne Menschen. Je rückständiger die Art und Weise der Naturbearbeitung wirkt, desto näher steht sie dem Ursprung, desto weniger sündhaft ist sie. Im Umkehrschluss bedeutet das: Je fortschrittlicher und „künstlicher“ die Naturbearbeitung wirkt, desto sündhafter erscheint sie. Die moderne Zivilisation überziehe demnach ihr Sündenkonto so sehr, dass letzteres nur durch einen universalen Crash bereinigt werden könne.

Zurück zur Natur!

Eine solche Denkweise nennt man kulturpessimistisch. Für den Kulturpessimismus ist die Parole „Zurück zur Natur“ kennzeichnend, welche vom Schweizer Philosophen Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) formuliert wurde. Ursprüngliche Natur wird bei ihm als das Gute schlechthin angesehen. Je weiter sich die Menschheit von jener Ursprünglichkeit entferne, desto schwächer, kriecherischer und feiger werde sie.

„Eine solche Denkweise nennt man kulturpessimistisch.“

Diese Denkfigur ist besonders beliebt bei Menschen, die von der „unberührten Natur“ (Wildnis) in keiner Weise persönlich behelligt werden, sondern sich den Luxus leisten können, sie schön und edel zu finden. „Die Natur geht mit allen Tieren, die ihrer Vorsorge überlassen sind, mit solcher vorzüglichen Liebe um, woraus zu sehen ist, wie eifrig sie auf ihre Rechte hält“, schreibt Rousseau blauäugig. Erst auf dieser Grundlage konnte die Vorstellung entstehen, dass Natur nicht etwas Bedrohliches ist, sondern ihrerseits durch den Menschen bedroht werde und deshalb geschützt werden müsse. Von dort führt ein direkter Weg zur heutigen Disneyfizierung der Natur (Bambi-Syndrom), zu Veganismus, Tierbefreiung und den Forderungen von Ökofundamentalisten, die Menschheit auszurotten oder zumindest stark zu dezimieren.

Vom Totschlagargument zum Totschlag

Der Kulturpessimismus begleitet als eine Art intellektueller Katzenjammer die gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse. Sämtliche Probleme und Verwerfungen, die bei solchen Prozessen entstehen, werden nur auf eine einzige Ursache zurückgeführt (unstatthafte Entfernung vom Ursprung). Als Patentlösung wird gefordert, irgendeinen „ursprünglicheren“ Zustand wieder herzustellen.

Während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts war diese Denkweise besonders in Deutschland sehr weit verbreitet. In der „Lebensreformbewegung“ huldigten städtisch sozialisierte Angehörige der Mittel- und Oberschicht einer „naturgemäßen Lebensweise“. Hier entstand der Mythos, dass naturbelassene Nahrung gesünder sei als verarbeitete und dass deren Genuss eine moralische Höherentwicklung der Menschheit herbeiführe.

„Im Nationalsozialismus zeigte sich also in besonders schrecklicher Weise, wozu es führen kann, wenn Natürlichkeit und Künstlichkeit moralisch gegeneinander ausgespielt werden.“

Im Nationalsozialismus schließlich wurde diese Ideologie durch die Ernährungslehre des Hygienikers und Bakteriologen Werner Kollath (1892–1970) zur offiziellen Doktrin. Kollath, Erfinder der Vollwertkost, teilte die Wertigkeit der Nahrung nach dem Grad ihrer Verarbeitung ein. Je geringer der Verarbeitungsgrad, desto höher deren Wertigkeit. Kollaths Lehre halten weite Teile der Bevölkerung auch heute noch für richtig. Die Beliebtheit von „Steinzeitdiät“ und ähnlichen Marotten legt davon beredtes Zeugnis ab.

Die Landwirtschaftspolitik im Nationalsozialismus bemühte sich, die notorische „Fett- und Eiweißlücke“ der heimischen Agrarproduktion zu schließen, um Autarkie zu erlangen. Dabei konnte sie auf moderne Verfahren gar nicht verzichten. Parallel aber wurden Bauern als „Neuadel aus Blut und Boden“ (Walther Darré) aufs Podest gehoben, wurden rückständige bäuerliche Lebensformen gegenüber den städtischen idealisiert. „Landwirt“ galt als Schimpfwort, „Bauer“ als Ehrentitel. Der „knorrige“, „erdverbundene“ und „naturnahe“ Bauer wurde gegen den „feigen“, „kriecherischen“ und „naturfernen“ jüdischen Händler in Stellung gebracht. Im Nationalsozialismus zeigte sich also in besonders schrecklicher Weise, wozu es führen kann, wenn Natürlichkeit und Künstlichkeit moralisch gegeneinander ausgespielt werden.

Wir scheißen auf die Natur!

„Landwirtschaft ist der hartnäckige Versuch, der Natur etwas Essbares abzuringen. Je weiter sie sich dabei von der ‚reinen Natur’ entfernte, desto reichhaltiger, vielfältiger und gesünder wurden unsere Lebensmittel“, schreiben Dirk Maxeiner und Michael Miersch. Wie gezeigt, haben viele Menschen Probleme, diesem Befund zuzustimmen, weil sie unreflektiert dem Naturverklärungs-Mythos huldigen.

„Bei dem Versuch, sich als besonders naturverbunden darzustellen, können konventionelle Landwirte nur verlieren.“

Die konventionelle Landwirtschaft wird allerdings nicht aus der Defensive herauskommen, solange deren Vertreter sich dieser Ideologie bedienen, um ihr Image aufzubessern. Bei dem Versuch, sich als besonders naturverbunden darzustellen, können konventionelle Landwirte nur verlieren. Denn Landwirtschaft ist keineswegs besonders „naturnah“, bloß weil sie von der Wirtschaftswissenschaft zum Sektor der „Urproduktion“ gezählt wird und „Rohstoffe“ produziert (Rohöl wäre nach dieser Logik weniger künstlich als jede Ackerfrucht, die heute geerntet wird). Den Assoziationen, die solche Begriffe wecken, dürfen moderne Landwirte nicht erliegen, sonst werden sie Opfer der selbsternannten Naturapostel.

Flucht nach vorn

Landwirte können den agrarfernen Bürgern zwar viel erzählen von natürlichen Lebensbedingungen ihrer Schweinchen, Kälbchen oder Hühnchen. Doch sobald die Bürger „Natur“ hören, denken sie an Wiesen und Wälder, an Bambi und Schweinchen Babe. Sehen sie dann in den Ställen zu viel Beton, Metall oder Kunststoff, werden sie den Landwirten nicht mehr glauben, dass moderne Ställe tiergerecht sind.

Ein Weg aus der Falle wäre die Flucht nach vorn. Nicht die Natürlichkeit der Landwirtschaft sollte hervorgehoben werden, sondern deren Künstlichkeit, und zwar durchaus im Sinne von Kunstfertigkeit. Einen modernen Betrieb zu führen, ist eine Kunst, das heißt es erfordert eine Menge technisches Knowhow, eine hervorragende Ausbildung und viel Wissen um die Bedürfnisse der gehaltenen Tiere. Man sollte es einmal damit versuchen, jeden Hinweis auf „Naturverbundenheit“ und „Natürlichkeit“ zu unterlassen.

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