19.02.2025
„Stellvertreterkrieg, na und?“
Interview mit Boris Kotchoubey
Der Ausbruch des Ukraine-Kriegs jährt sich bald zum dritten Mal. Was er bedeutet, wo wir stehen und wie es weitergehen könnte, beleuchtet unser aus Russland stammender Autor.
Nach drei Jahren Krieg gibt es große Zweifel an seinem Sinn. Im ersten Jahr haben Sie bei Novo einen Artikel veröffentlicht, dessen Kernaussage war, dass es sich nur oberflächlich um einen Konflikt zwischen dem Westen und Russland handelt. Bleiben Sie bei dieser Einschätzung?
Ja, ich glaube, dass wir niemals verstehen werden, was passiert, wenn wir an den Mythos eines Konflikts zwischen Russland und dem „Westen“ glauben. Dieser Mythos existiert in Russland seit Jahrhunderten, und selbst die Konkurrenz zwischen den beiden Wirtschaftssystemen in den Jahren 1917-1989 wurde als Ausdruck des „ewigen Konflikts“ zwischen der russischen und der westlichen Zivilisation interpretiert. Dem kulturgeschichtlich gebildeten Leser dürfte diese Vorstellung bekannt vorkommen: Sie ist ein Remake der hierzulande zu Beginn des 20. Jahrhunderts modischen Gegenüberstellung der nur in Deutschland existierenden „Kultur“ und der anglo-französischen „Zivilisation“. So wie die Bewegung der Slawophilen im 19. Jahrhundert nichts anderes war als die Übersetzung der deutschen Romantik ins Russische, so ist heute die russische Gegenüberstellung zweier Zivilisationen die Übersetzung des Konzepts „Kultur versus Zivilisation“ aus der wilhelminischen Epoche.
Das Dumme ist, dass wir nach dem Angriff auf die Ukraine 2022 plötzlich diesen Mythos übernommen haben, natürlich mit umgekehrten Vorzeichen: In unserer Version des Narrativs sind wir die Guten und die Russen die Bösen. Aber nicht das Vorzeichen ist falsch, sondern die Erzählung selbst. Selbst im 20. Jahrhundert stimmte es nur teilweise. Nach dem Jahr 2000 wuchsen die sozialen, wirtschaftlichen und finanziellen Verflechtungen und Abhängigkeiten zwischen Russland und vielen westlichen Ländern, allen voran Deutschland. Es gab z.B. einen Bundeskanzler, der für Gazprom arbeitete, und das Triumvirat Merkel - Scholz - Steinmeier, das jahrzehntelang sehr eng mit den russischen und noch früher mit den sowjetischen Eliten zusammenarbeitete. Es machte Putin üppige Geschenke in Form von Nord Stream 2 usw.
Denken wir an die Zeit des Kalten Krieges: War es vorstellbar, dass die Familien von Stalin, Breschnew und ihren Ministern Paläste und Villen in Nato-Ländern besessen, dass ihre Kinder in Oxford und Harvard studiert und nach dem Abschluss im Westen Karriere gemacht hätten? Völlig absurd. Es sind jetzt die einfachen Russen – Austauschstudenten, Wissenschaftler, Musiker – die mit Kriegsbeginn große Probleme in Deutschland bekommen haben, die Reichen (außer einer Handvoll Sanktionsbetroffener) nicht. Die meisten Kinder russischer Politiker leben immer noch in Nato-Staaten, ihre Milliarden liegen auf westlichen Banken und ihre Jachten nicht am Kaspischen Meer, sondern in Italien und Südfrankreich.
Deutsche Topmanager saßen in den Aufsichtsräten russischer Staatskonzerne (de facto Geheimdienstkonzerne). Glaubt man wirklich, dass sie alle von heute auf morgen alle Verbindungen abgebrochen und ihre Ansichten um 180 Grad gedreht haben, dass aus Dutzenden von mit allen Wassern gewaschenen politischen und finanziellen Saulussen plötzlich Paulus geworden ist?
„Die USA haben im Irak-Krieg den vielleicht leichtesten militärischen Sieg ihrer Geschichte errungen. Aber das politische Ergebnis dieses Sieges war ein Desaster.“
Die Gesellschaft hierzulande ist tief gespalten – zumindest in der Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine. Zunächst die Frage: Kann ein Krieg durch mehr Waffen beendet werden? Führen mehr Waffen nicht automatisch zu mehr Militarisierung?
Zuerst müsste man die Begriffe klären und zwischen (a) militärisch-technischen und (b) politischen Aspekten unterscheiden. Militärtechnisch ist der Westen Russland um Lichtjahre voraus. Schon vor 35 Jahren zeigte sich im Kuwait-Krieg die haushohe Überlegenheit der Nato-Waffen gegenüber den sowjetischen Waffen, mit denen die irakische Armee ausgerüstet war. Dieser Vorsprung ist seither um Potenzen gewachsen. Zehntausende militärtechnische Experten haben Russland seither verlassen, das sowjetische Know-how ist vergessen und verschlungen. Ja, Russland pumpt riesige Summen in die Aufrüstung (die europäischen Diskussionen über die lächerlichen 2 Prozent des BSP würde in Russland niemand verstehen, dort geht es um Drittel oder Viertel), aber Geld allein ohne Technologie kann die Armee zwar quantitativ größer, aber nicht qualitativ stärker machen.
Man kann sich die militärtechnische Situation nach dem 26. Oktober 2024 vorstellen. An diesem Tag hat Israel innerhalb weniger Stunden die gesamte Luftabwehr des Iran zerstört, ohne jegliche Verluste auf der eigenen Seite. Heute hat der Iran keine Luftabwehr mehr und jeder, der auch nur ein paar moderne Bomber besitzt, könnte Teheran dem Erdboden gleichmachen. Technisch ist das kein Problem.
Was aber wären die weiteren Konsequenzen eines solchen Handelns? Diese Frage markiert den Übergang von (a) zu (b), vom technischen Möglichen zum politisch Vernünftigen. Der Irak-Krieg 2003 war ein Paradigma für diesen Unterschied. Die USA haben den vielleicht leichtesten militärischen Sieg ihrer Geschichte errungen. Aber das politische Ergebnis dieses Sieges war ein Desaster.
Die russische Luftabwehr ist technisch etwa auf dem Niveau der iranischen, nur quantitativ stärker. Einfache und billige ukrainische Drohnen fliegen bis zu 1200-1300 KIlometer über Russland, bevor sie (wenn überhaupt) abgeschossen werden. Russland hat seit Beginn des Krieges keine eigenen Flugzeuge mehr hergestellt. Seit Trumps Amtsantritt brennt in Russland jeden Tag eine große Ölraffinerie. Der einzige russische Flugzeugträger ist seit Jahren in Reparatur. Die Lage an der Front ist katastrophal: Selbst Kranke und Verwundete müssen in die Schlacht geschickt werden.
Eine Zahl würde genügen, um den Zustand der russischen Gesellschaft zu beschreiben: Die Zahl der Freisprüche in Strafsachen liegt bei 0,3 Prozent. In Stalins schlimmsten Jahren 1935 bis 40 waren es immerhin 7 Prozent, und die Militärtribunale während des Weltkrieges von 1941 bis 45 sprachen in 10 Prozent der Fälle Freisprüche aus. Die Wahrscheinlichkeit, beim Roulette zu gewinnen (1 zu 36), ist fast zehnmal höher als die Wahrscheinlichkeit, heute von einem russischen Gericht freigesprochen zu werden.
Rein technisch gesehen könnten größere Waffenlieferungen an die Ukraine sehr schnell zu einem völligen Zusammenbruch der russischen Streitkräfte führen. Es ist zum Beispiel erstaunlich, mit welch einfachen Mitteln die einst berühmte russische Schwarzmeerflotte außer Gefecht gesetzt wurde. Eigentlich begann der Streit zwischen Russland und der Ukraine noch in den 1990er Jahren gerade wegen Sewastopol als Basis der russischen Schwarzmeerflotte. Dieser Grund ist entfallen, da die Flotte praktisch nicht mehr existiert.
„Die Ukraine hat eigentlich nur ein Problem, aber dieses Problem ist gigantisch: Korruption.“
Steht Russland dann also kurz vor dem Zusammenbruch?
Dies anzunehmen, wäre ein Missverständnis: Zu glauben, dass ein erneuter wirtschaftlicher Zusammenbruch wie Ende der 1980er Jahre unmittelbar bevorsteht, würde das komplexe System Wirtschaft stark vereinfachen. Die gleiche schlechte Wirtschaftslage kann sich über 20 oder 30 Jahre hinziehen.
Manche fragen, warum die russische Armee trotz des desolaten Zustands, in dem sie sich befindet, weiter vorrückt, wenn auch mit enormen Verlusten. Die Antwort lautet: Weil auf der anderen Seite auch nicht alles in Ordnung ist. Die Ukraine hat eigentlich nur ein Problem, aber dieses Problem ist gigantisch: Korruption. Während die einen Ukrainer in den Schützengräben ihr Leben für ihr Land riskieren, haben andere mit diesem Krieg ein Vermögen gemacht. Die friedensliebenden Westler geben der Ukraine lieber Geld als Waffen. Das ist verständlich: Eine moderne Flak zu verkaufen und das Geld in die eigene Tasche zu stecken, ist ungleich schwieriger, als nur das Geld in die eigene Tasche zu stecken.
Im Übrigen gibt es allen Grund, an der Existenz und Einsatzfähigkeit russischer Atomwaffen zu zweifeln. Russland könnte sofort seine Muskeln spielen lassen, wenn es einen öffentlichen Atomtest durchführen würde, wie es die Nordkoreaner regelmäßig tun. Russland hat dazu viel bessere Möglichkeiten als Nordkorea, tut es aber nicht. Das Problem mit diesem Test: Wenn er gelingt, überzeugt er die ganze Welt. Gelingt er aber nicht, erzeugt er statt Furcht und Respekt nur Spott, und man fragt sich, ob all die Drohungen nicht nur das Pokerface eines Spielers sind, der keine guten Karten hat. Der große Alkoholiker Medwedew hat in diesen drei Jahren schon viele rote Linien gezogen, bei deren Überschreitung Russland angeblich sein Atomwaffenarsenal in Alarmbereitschaft versetzen würde. Alle von ihm genannten roten Linien sind längst überschritten.
Zusammengefasst: Ein militärischer Sieg über die russische Armee mit ihrer vollständigen Vernichtung wäre für die Nato eine Sache von wenigen Wochen. Was aber die politischen Folgen dieses Sieges wären, das ist die große Frage. Am paradigmatischen Fall des Irak-Krieges könnte man zum Beispiel argumentieren, dass die negativen Folgen einer Niederlage Putins noch größer wären als die einer Niederlage Saddams. Eine andere denkbare Möglichkeit wäre eine extreme Stärkung der Position Chinas.
Der Westen will die Ukraine also gar nicht wirklich unterstützen – zumindest nicht um den Preis einer ernsthaften Schwächung Russlands?
Wir wissen nicht, welche Überlegungen, Befürchtungen, Vorhersagen in den oberen Etagen der westlichen Eliten herumgeistern. Klar ist nur: Diese Eliten wollen keinen Sieg über Russland. Schon George Orwell hat uns gelehrt, dass das Ziel eines Krieges nicht unbedingt der Sieg ist. Russland schwächen? Ja. Dem russischen Straßenhooligan eine blutige Nase zu verpassen, um ihm seinen verdienten Platz in der kriminellen Hierarchie – ziemlich weit unten – zu zeigen? Ja! Aber diesen Hooligan aus dem Spiel werfen? Nein, auf keinen Fall! Mit ihm kann man noch viele Geschäfte machen, und seine Eliminierung kann, wie oben erwähnt, unabsehbare Folgen haben.
Ich bin kein Insider. Ich verstehe die konkreten Mechanismen und Interessen der westlichen Eliten nicht und kann darüber nur spekulieren. Aber wenn ich in einem Marionettentheater sitze, in dem die Tragikomödie „Der Westen kämpft gegen Russland um die Ukraine“ aufgeführt wird, dann muss ich auch nicht genau verstehen, wie und wer in welcher Reihenfolge und mit welchem Ziel die Fäden zieht. Auch ohne dieses Wissen verstehe ich: Das ist Theater und nicht das wirkliche Leben.
Alles andere wäre völlig unlogisch: Die Ideologie des WEF (World Economic Forum) und der EU sieht als wichtigstes Ziel die Schwächung des Nationalstaates an, die Verschmelzung aller Nationen unter der Leitung eines Weltexpertenrats. Dass ausgerechnet diese Leute, die sogar die Begriffe „Grenzen“ oder „Nation“ für problematisch halten („no borders, no nations!“) den ukrainischen Nationalstaat unterstützen sollen und für die Unverletzlichkeit der ukrainischen Grenzen kämpfen sollen, ist vollkommen unglaubwürdig! Wer das glaubt, muss sich zwischen zwei Optionen entscheiden: Entweder er hält die Globalisten für Idioten, die zu konsequentem strategischem Handeln unfähig sind, oder sie halten ihn für einen Idioten.
Ich könnte noch den Glauben ans Theater bei den Menschen nachvollziehen, die voll auf der ukrainischen Seite stehen. Sie klammern sich an die Hoffnung, „der Westen“ würde helfen. Illusorische Hoffnungen zu hegen, ist sehr menschlich, also neigen sie dazu, das schöne Märchen, das auf der Bühne läuft, für wahr zu halten. Ich kenne jedoch leider auch viele Menschen, die die westliche Unterstützung für die Ukraine kritisch sehen, aber nicht erkennen, dass es diese „Unterstützung“ gar nicht gibt, sondern dass sich unter diesem Deckmantel ganz andere Prozesse abspielen.
„Schon die Geschichte in Genesis, Kapitel 4 lässt sich dahingehend interpretieren, dass Kain Abel nur deshalb umbrachte, weil er sich von Gott provoziert fühlte.“
Manche sagen, Russland sei faktisch in diesen Krieg getrieben worden. Dieser Lesart zufolge waren es die Ausdehnung der Nato und die Einmischung des Westens in die inneren Angelegenheiten der Ukraine, die zur Eskalation führten. Können Sie dieser Interpretation etwas abgewinnen? Kann man bei diesem Krieg von nur einem Schuldigen sprechen?
Wenn man einen gewalttätigen Psychopathen fragt, warum er seine Untat beging, bekommt man immer die gleiche Antwort: „Ich wurde provoziert". Das ist ein ewiges Motiv; schon die Geschichte in Genesis, Kapitel 4 lässt sich dahingehend interpretieren, dass Kain Abel nur deshalb umbrachte, weil er sich von Gott provoziert fühlte. Mit diesem Argument kann man jedes Verbrechen „nachvollziehen"; wir bräuchten kein Strafrecht mehr und könnten wirklich niemals von einem Schuldigen sprechen.
Mitte der 1850er Jahre – also vor immerhin 170 Jahren – analysierte Karl Marx in einer Artikelserie in der New York Daily Tribune die russische Außenpolitik und kam zu dem Schluss, dass sie immer dem gleichen, absolut stereotypen Muster folgt: (1) Man sucht die „Provokation", um die eigene Expansion als Reaktion auf etwas anderes darzustellen. (2) Man findet beim Nachbarn „unterdrückte" Bevölkerungsgruppen und bläst die moralische Pflicht des russischen Menschen auf, diese Gruppen zu „befreien". Manchmal (2A) findet man unter diesen Gruppen ein paar Kriminelle, die für Kleingeld laut rufen: „Russland, hilf!" (3) Die Regierung erklärt, dass Russland in Erfüllung seiner „internationalen Pflicht" – leider, leider – gezwungen sei, „begrenzte Truppenkontingente" in das Nachbarland zu entsenden. Das ist natürlich kein Krieg – um Himmels willen, Russland erklärt seinen Nachbarn nie den Krieg! – sondern eine notwendige und streng begrenzte Maßnahme, um Menschen dort zu schützen. (4) Diplomaten zünden massenhaft Nebelkerzen und behaupten, es gäbe keinen Krieg, die Kämpfenden seien keine russischen Soldaten, sondern wildfremde Guerillas, und wenn sie zufällig eine Militäruniform mit russischen Abzeichen tragen, dann hätten sie diese im Supermarkt gekauft. (5) Dabei werden bewusst logisch unvereinbare Aussagen gemacht: Einerseits sind unsere Soldaten tapfere Helden, andererseits gibt es im betroffenen Gebiet keine russischen Soldaten.
Russland nutzte das Kriegsparadoxon in seiner Expansionspolitik schon, bevor Clausewitz es formulierte. Es besteht darin, dass nicht der Angreifer, sondern der Verteidiger mit den eigentlichen Kriegshandlungen beginnt. Der Angreifer wäre froh, das fremde Land zu erobern, ohne einen Schuss abzugeben. Der Verteidiger aber muss schießen, wenn er nicht kapitulieren will. Der Verteidiger, nicht der Angreifer, ist also ein „Kriegstreiber".
Insofern ist die offizielle russische Bezeichnung „Spezielle Militäroperation" kein Begriffsschwindel. Putin hat tatsächlich keinen Krieg geplant, sondern nur einen schnellen Einmarsch von Militäreinheiten in Kiew und den Austausch der dortigen Regierung gegen eine Moskau genehmere. Alle namhaften westlichen Regierungen (die USA, Frankreich und natürlich Deutschland) wussten von diesem Plan, und ihre führenden Militärexperten waren sich sicher, dass er aufgehen würde, weil die ukrainische Armee innerhalb weniger Tage zusammenbrechen musste. So viel zu Experten, diesem Unwort des Jahrhunderts. Dass die Armee keineswegs zusammenbrach, sondern die Ukrainer die Frechheit besaßen, sich effektiv zu verteidigen, war eine völlige Überraschung.
Im Gegensatz zur westlichen Propaganda wirkt die russische Propaganda plump und direkt. Statt mit einer wohlkalkulierten Mischung aus Fakten und Fiktionen, mit der die typischen westlichen Medien arbeiten, wird der Rezipient mit einer absoluten, offensichtlichen Lüge, mit absurden, zusammenhanglosen Aussagen direkt vor den Kopf gestoßen: „Die Krim gehörte schon immer zu Russland". In Wirklichkeit sind die Russen auf der Krim zur selben Zeit erschienen wie die Briten in Indien: 200 Jahre nach dem Erscheinen der Weißen in Südafrika und 600 Jahre nach dem Erscheinen der Deutschen in Ostpreußen und Kurland (Lettland). Würde heute jemand öffentlich erklären, Indien habe „schon immer" den Briten gehört, die Weißen hätten ihr „natürliches Recht" auf Südafrika, oder die westliche Hälfte Lettlands gehöre „von Natur aus" den Deutschen, dann wäre das nicht einmal ein Skandal, sondern ein Fall für die Psychiatrie.
Die Wirkung beruht auf der Überrumpelung des Rezipienten. Das menschliche Gehirn ist (hier wirklich „von Natur aus") so gebaut, dass es überall nach einem Sinn sucht. Wird es mit völlig sinnlosen Redeschwallen Putins überschwemmt, der stundenlang über Themen schwadronieren kann, von denen er keine Ahnung hat, beginnt der Rezipient an seinem eigenen Verstand zu zweifeln, denn „da muss doch etwas dran sein – offensichtlich verstehe ich etwas nicht".
Aber es gab doch Einmischungen westlicher Länder in der Ukraine, z.B. während der Maidan-Revolution?
Von all den Hunderten von nationalen Befreiungsbewegungen, die es in der Weltgeschichte seit der Antike gegeben hat, soll mir bitte jemand eine einzige zeigen, die ohne die Unterstützung einer damaligen Großmacht erfolgreich war. Ohne das Interesse von KGB und CIA gäbe es heute fast keine afrikanischen Staaten, der Kontinent wäre immer noch zwischen Großbritannien und Frankreich aufgeteilt. Ohne die Unterstützung Roms für die radikalen Juden im 2. Jahrhundert v. Chr. gäbe es heute keinen Monotheismus, d.h. auch kein Christentum. Ohne das Interesse anderer europäischer Mächte an der Schwächung des Habsburger Weltreichs im 16. Jahrhundert gäbe es keine Niederlande, und ohne die Ressentiments Frankreichs und Preußens gegen England im 18. Jahrhundert hätten wir – horribile dictu – keine USA.
Natürlich hat auch Deutschland in seiner Geschichte nationale Befreiungsbewegungen (z.B. die irische) unterstützt und sich damit in die inneren Angelegenheiten seiner Gegner (England) eingemischt. Russland hat das immer getan, wenn es konnte. Tatsächlich begann die Geschichte der Beziehungen zwischen der Ukraine und dem Moskauer Zarenreich (das als Vorläufer der Russischen Föderation angesehen werden kann) mit dieser Einmischung, u.a. in der Form vom Kolomak-Vertrag 1687. Seit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 mischte sich die russische Regierung immer wieder in die ukrainische Politik ein, ohne dass sich jemand darüber empört hätte. Die Krise 2013 begann damit, dass der damalige Präsident Janukowitsch dem Volk ein Handelsabkommen mit der EU versprach, dieses Versprechen aber nach einer Drohung aus Moskau wieder zurücknahm.
Alle halbwegs starken Mächte haben seit Jahrtausenden ausnahmslos jede Gelegenheit genutzt, verschiedene (u.a. nationale, religiöse) Oppositionsbewegungen bei ihren Gegnern zu unterstützen, um sie (die Gegner) zu schwächen. Das ist so universell wie die Politik selbst.
„Bis 2022 grenzten nur 1,5 Prozent der russischen Staatsgrenze direkt an die Nato.“
Und was ist dann mit den Nato-Erweiterungen?
Das jüngste Beispiel Schwedens und Finnlands zeigt, dass die Nato-Erweiterung eine Folge des russischen Expansionismus ist und nicht dessen Ursache. Die gebildeten Schichten Finnlands sind traditionell sehr pro-russisch eingestellt, denn im 19. Jahrhundert retteten die Russen die nationale Identität Finnlands. Selbst die barbarischen Angriffe der UdSSR auf Finnland in den Jahren 1939/40 konnten an dieser grundsätzlichen Affinität der Finnen zu Russland nichts ändern. Man musste schon eine große Gefahr sehen, um in Finnland eine antirussische Politik entstehen zu lassen. Bemerkenswert ist, dass in beiden skandinavischen Ländern die rechtsnationalen, d.h. globalisierungskritischen Parteien besonders russlandkritisch sind.
Die Schweiz ist von Nato-Staaten umgeben; fast die gesamte Schweizer Grenze verläuft innerhalb der Nato. Von der nächsten Nato-Grenze bis Zürich – Luftlinie – sind es kaum 25 Kilometer, und Basel könnte im Prinzip in wenigen Minuten von Nato-Armeen besetzt werden. Kennen Sie einen Schweizer, der deshalb Angst hat? Im Gegenteil: Bis 2022 grenzten nur 1,5 Prozent der russischen Staatsgrenze direkt an die Nato, und die Entfernung zwischen Moskau und der nächsten Nato-Grenze (Lettland) betrug fast 500 Kilometer. Warum sprechen alle russischen Politiker von einer Bedrohung durch die Nato, aber kein Schweizer Politiker?
Welche Hinweise gibt es, dass die Nato Russland erobern oder zerstören wollte oder will? Der Westen hat Russland im 20. Jahrhundert mindestens dreimal aus dem Sumpf gezogen. Zuerst retteten die USA das russische Volk 1922 vor der Auslöschung durch die Politik des Militärkommunismus. 20 Jahre später, als sich die USA nach Pearl Harbour um ihre eigene Lage sorgen mussten, wurde der Slogan „Russia first“ geboren, und kein seriöser Historiker kann sich vorstellen, dass die Sowjetunion ohne die fast 15.000 Militärflugzeuge, über 200 Militärschiffe, über 4 Millionen Tonnen Lebensmittel, über 2,5 Millionen Tonnen Stahl, über 400.000 Autos und zahlreiche andere Geschenke der USA auch nur die geringste Chance gegen die deutsche Wehrmacht gehabt hätte. Anfang der 1990er Jahre stand Russland erneut am Rande des totalen Zusammenbruchs. In allen drei Fällen hätte der Westen, wenn es sein Ziel gewesen wäre, Russland zu ruinieren, gar nichts tun, sondern nur zuschauen müssen, wie die (damals sowjetischen) Regierungen das Land auseinanderbrechen und das Volk aushungern ließen. Aber in allen drei Fällen haben vor allem die USA, im letzten Fall auch Deutschland, alle notwendigen Maßnahmen ergriffen, um Russland vor dem Zerfall zu retten.
Das Traurige ist, dass es in der Welt tatsächlich existenzielle Bedrohungen für Russland gibt, die von den russischen Eliten aus ideologischen Gründen ignoriert werden. Das ist v.a. der militante Islam, der in der jüngsten Zeit für blutige Terrorakte in russischen Großstädten mit (insgesamt) Hunderten Opfern Verantwortung übernahm. Und in China werden Landkarten gedruckt, in denen Hunderttausende Quadratkilometer Sibiriens als chinesisches Land gezeigt werden. Aber der Mythos vom Gegensatz der russischen und westlichen Zivilisationen schließt die Augen vor diesen Gefahren.
Woher kommt das Interesse des Westens an der Ukraine? Warum haben die USA, aber auch Deutschland und andere Länder nicht ebenso protestiert, als Russland Krieg gegen Georgien oder auch in Tschetschenien führte? Ist das ein Stellvertreterkrieg?
Ja, warum haben Frankreich und Großbritannien 1936 nicht sofort nach der Remilitarisierung des Rheingebietes Deutschland den Krieg erklärt? Rechtlich waren sie dazu in der Lage, und technisch waren ihre Armeen den deutschen zu diesem Zeitpunkt so weit überlegen, dass Hitler spätestens nach einigen Wochen (eher Tagen) eine Niederlage hätte eingestehen müssen. Wahrscheinlich wäre dies sogar das Ende des Nationalsozialismus gewesen. Warum wurden der Anschluss Österreichs und die Besetzung der Tschechoslowakei 1938 widerstandslos hingenommen? Kann man sich vorstellen, dass für Frankreich Polen so viel wichtiger war als das unmittelbar an Frankreich grenzende Rheinland, dass man wegen des Rheinlandes nicht einmal gegen ein schwaches Deutschland Krieg führen wollte, aber wegen Polen einem sehr starken Deutschland den Krieg erklärte?
Woher kam, um Ihre Frage zu wiederholen, das Interesse Englands und Frankreichs gerade an Polen, im Gegensatz zu Österreich und Böhmen? Oder ließen sich die damaligen Westmächte gar nicht von geostrategischem Kalkül leiten, sondern von einfachster Psychologie? 1936 hoffte man, Hitler durch Kompromisse ruhigstellen zu können, 1939 war die Geduld am Ende.
Ja, der Krieg in der Ukraine ist ein Stellvertreterkrieg, na und? Was die Juden als Chanukka feiern, war ein Stellvertreterkrieg zwischen der Römischen Republik und dem Seleukidenreich, und was die Geschichte als Amerikanische Revolution von 1776 bis 1783 bezeichnet, war ein Stellvertreterkrieg zwischen den kontinentaleuropäischen Mächten und Großbritannien.
In diesem Zusammenhang ist noch mit einem weit verbreiteten Mythos aufzuräumen: Dass nämlich der Artikel 5 des Nato-Vertrages jedem Nato-Mitglied automatischen militärischen Schutz durch das gesamte Bündnis garantiert. Der Originaltext liest sich weit weniger eindeutig: Im Bündnisfall ergreift jede Partei „die Maßnahmen, die sie für die Wiederherstellung und Wahrung der Sicherheit des nordatlantischen Gebiets für notwendig erachtet“. Ein Angriff auf ein Nato-Land wie Estland oder Lettland kann für den Angreifer zu einem Krieg gegen die USA führen, muss es aber keineswegs.
„Die überwiegende Mehrheit der russischen Bevölkerung ist, wie in vielen anderen Ländern auch, absolut passiv.“
Wie sehen Ihrer Meinung nach die meisten Russen diesen Krieg? Gibt es eine Chance für einen innerrussischen Widerstand gegen das Regime und gegen den Krieg?
Einen innerrussischen Widerstand gibt es nicht. Man schätzt, dass im September 2022 etwa eine Million junger Menschen, die gegen den Krieg waren, das Land verlassen haben. Am 29. September bildete sich eine kilometerlange Schlange am Grenzübergang nach Georgien. Dieser liegt auf ca. 2300 Metern Höhe. Dort ist es Ende September sehr kalt, die Menschen standen im Schnee und es gab keine Toiletten. Der Wunsch, Russland zu verlassen, war stärker als all diese Unannehmlichkeiten.
Während man in Russland von Anfang an sofort verhaftet wurde, wenn man das Wort „Frieden“ in den Mund nahm, war es im ersten Kriegsjahr noch erlaubt, die Regierung von der anderen Seite zu kritisieren: Dafür, dass sie den Krieg nicht konsequent genug und insgesamt falsch führte. Inzwischen aber sitzen auch die Führer dieser ‚rechten‘ Opposition im Gefängnis. Wenn sie dort mit den Vertretern der ehemaligen ‚linksliberalen‘ Opposition eine Baracke teilen, kann es abends zu spannenden Diskussionen kommen. Gefängnisse sind in Russland traditionell geeignetere Diskussionsorte als das Parlament.
Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung ist, wie in vielen anderen Ländern auch, absolut passiv. In den durchschnittlichen Gesprächen der Russen ist der Krieg überhaupt kein Thema. Wenn man von den Orten, an denen Menschen (auch Russen) massenhaft getötet werden, so weit entfernt ist, dass man die Kanonade nicht mehr hört, merkt man den Krieg nicht. Ich erinnere mich, wie groß der Schock in der UdSSR war, als man erfuhr, dass 15.000 sowjetische Soldaten im Afghanistankrieg gefallen waren. Die genauen Verluste beider Seiten in diesem Krieg werden geheim gehalten, aber die bescheidensten Schätzungen gehen davon aus, dass Russland mindestens 150.000 Mann verloren hat, also im Verhältnis zur Bevölkerung fast zwanzigmal mehr als die UdSSR in Afghanistan, und das nicht in zehn, sondern nur in drei Jahren. Aber diesmal gibt es keinen Schock, die Zahl der Opfer (wohlgemerkt: eigene Opfer, von Ukrainern ist nicht die Rede!) ist der breiten Bevölkerung völlig egal.
Die Familien werden gut entschädigt. Allein die Unterzeichnung eines Vertrages mit der Armee wird in einigen Regionen Russlands mit bis zu 3 Millionen Rubel belohnt. Zum Vergleich: Der Durchschnittslohn im ganzen Land liegt bei 80.000 Rubel im Monat, in der teuersten Stadt Moskau bei 160.000 und die offizielle Armutsgrenze bei 16.000 im Monat. Eine russische Frau, deren Mann an die Front geht, kann auf eine Geldsumme hoffen, von der sie vorher nicht einmal geträumt hat.
Der russische Ökonom Wladislaw L. Inosemzew hat vor einigen Wochen in der NZZ geschrieben, dass das bestehende System der Weltordnung ernsthaft erschüttert würde, sollte der Krieg zu Gunsten Russlands ausgehen. Welche Folgen hätte es Ihrer Meinung nach, wenn Russland sich als Sieger des Krieges sehen könnte?
Kein anderes Land der Welt hat oder hatte bessere internationale Garantien für seine Unabhängigkeit und Unverletzlichkeit als die Ukraine. Die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen wurde 1994 im Budapester Vertrag von den drei größten Atommächten garantiert. Wenn selbst solche Garantien nichts wert sind, dann bedeutet das, dass internationale Verträge überhaupt keinen Sinn mehr haben und man lieber Papier spart. Das bedeutet, dass ab morgen alle Völkerrechtler in den Ruhestand geschickt werden sollten, weil es kein Völkerrecht mehr gibt, sondern nur noch das Recht des Stärkeren.
„Eine Niederlage der Ukraine wäre für jeden Staatsmann auf der Welt eine klare Lektion, dass die einzige wirksame Existenzgarantie seines Landes der Besitz von Atomwaffen ist.“
Natürlich wissen wir alle und auch Inosemzew, dass das Recht immer wieder gebrochen wurde und wird. Aber man könnte hoffen, dass das Recht trotz der vielen Verstöße, wenn schon nicht als aktuelle Realität, so doch wenigstens als Prinzip, als platonische Idee existiert. Schließlich erhielt die Ukraine 1994 ihre Unverletzlichkeitsgarantien nicht umsonst, sondern als Gegenleistung für den Verzicht auf Atomwaffen. Deshalb wäre eine Niederlage der Ukraine für jeden Staatsmann auf der Welt eine klare Lektion, dass die einzige wirksame Existenzgarantie seines Landes der Besitz von Atomwaffen ist. Das ist sehr gefährlich.
Verständlicherweise wünschten sich die meisten Deutschen ein baldiges Ende des Krieges. Aber hat eine Regierung von ‚außen‘ überhaupt die Möglichkeit, etwas beeinflussen?
Wie gesagt, technisch hat der Westen genügend Möglichkeiten, ein schnelles Kriegsende zu erzwingen. Aber je nachdem, wie dieses Ende aussehen soll, ergeben sich unterschiedliche politische Konsequenzen, die niemand kalkulieren kann.
Viele stellen sich den Moment, in dem sich die Führer der Kriegsparteien treffen und ihre Unterschrift unter ein Stück Papier setzen, als Triumph der Vernunft und quasi als Ende der Geschichte vor. In Wirklichkeit bedeutet ein solcher Moment bestenfalls eine Pause im Morden, mehr nicht. Wenn, wie wir oben gesehen haben, das Recht als regulative Idee prinzipiell abgeschafft ist, dann kann der Politiker, der sich stärker wähnt, schon am nächsten Tag das nutzlose Papier zerreißen.
Als Neville Chamberlain am 30. September 1938 in London aus dem Flugzeug stieg, mit dem er aus München gekommen war, begrüßte er das versammelte britische Volk mit den Worten: „I brought peace to you!“ Es waren nur elf Monate bis zum Beginn der größten Katastrophe.
Das Gespräch führte Sabine Beppler-Spahl.