15.08.2016

Salafismus als Jugendkultur

Interview mit Aladin El-Mafaalani

Titelbild

Foto: Blogotron via WikiCommons ( CC0)

Salafismus scheint statistisch zunehmend junge Menschen in westlichen Gesellschaften zu begeistern. Was macht die salafistische Jugendbewegung aus?

Novo: Ihre These lautet, dass Salafismus eine Jugendkultur ist. Was macht Salafismus für Jugendliche so reizvoll?

Aladin El Mafaalani: Auf einer alltagspraktischen Ebene erfüllt der Salafismus bereits eine wichtige Funktion: Abgrenzung bis hin zur Provokation. Durch diese strenge Form der Religiosität können sich junge Menschen vom Mainstream, aber auch von ihren eigenen Eltern abgrenzen – selbst dann, wenn die Eltern auch Muslime sind. Also Abgrenzung in alle Richtungen. Und zudem ist es eine der ganz wenigen noch verbliebenen Möglichkeiten, zu provozieren und Rebellion gegen gefühlte Ungerechtigkeiten auszudrücken. Tätowierungen, Piercings und gefärbtes Haar sind hierfür überhaupt nicht mehr geeignet. Sex, Drugs and Rock ’n’ roll – das ist eine Ü40-Nummer. Konsumverzicht, ein sittliches Leben, strenge Regelwerke, muslimische Symbole und ein offensives kollektives Auftreten – das hat Provokationspotenzial. Auch für Konvertierte.

Jugendkulturen entstehen nicht im luftleeren Raum, sie speisen sich aus Tendenzen, die in der Gesellschaft vorhanden sind. Was sind die Wurzeln beim Salafismus?

Es gibt da auf der einen Seite die islamistischen Tendenzen innerhalb der islamisch geprägten Staaten in Asien und Afrika. Auf der anderen Seite eine seit Jahren wachsende Islamfeindlichkeit, die wir heute mit Pegida, AfD und anderen extremen Tendenzen benennen.

Beide Seiten arbeiten im Prinzip am gleichen Projekt. Dazwischen sind Jugendliche, die zum einen immer stärker auf ihre tatsächliche oder zugeschriebene Zugehörigkeit zur Gruppe der Muslime reduziert werden, und die zum anderen häufig Ablehnung und Ausgrenzung erfahren. Es ist überhaupt nicht außergewöhnlich, dass sich Menschen – Jugendliche im Besonderen – irgendwann einer Fremdzuschreibung hingeben. Allerdings mit einer eigenen Färbung. Da der Mainstream-Islam als angepasst, randständig und schwach wahrgenommen wird, gibt es den Trend zur Entschiedenheit und Klarheit. Jugendliche suchen positive Zugehörigkeit und wollen in keinem Fall schwach sein.

„Salafisten sind eine kleine Gruppe, die kontinuierlich wächst.“

Woher rührt die Attraktivität dieser Jugendkultur, die so extrem rückständig und schrecklich wirkt?

Abgesehen von Provokationspotenzial und den Ausgrenzungserfahrungen spielen die politischen und moralischen Argumente extremer Gruppierungen eine Rolle. Ungerechtigkeitsempfindungen sind ganz entscheidend. Die Muslime werden als globale Opfergemeinschaft verstanden. Egal wo auf der Welt, sie würden unterdrückt, unabhängig davon, ob sie die Mehrheit (wie in Syrien) oder die Minderheit (wie in Deutschland) darstellen. Werden Muslime getötet, wie in Bosnien, Tschetschenien oder Syrien, interessiere es den Westen nicht. Sterben Christen, Jesiden oder Franzosen, sei das anders. Auch der Nahostkonflikt spielt eine Rolle. Muslime, die Öl besitzen oder ein islamkritisches -Buch schreiben, würden akzeptiert – andere nicht. Über Muslime könne man derzeit herziehen – dies entspricht einer Mainstream-Position.

All das ist gar nicht vollständig falsch. Das entscheidende Problem ist die Auflösung dieser Darstellung. Die kann man folgendermaßen zusammenfassen: „Muslime sind schwach, weil sie ihre Religion nicht mehr ernst nehmen. Sie werden wieder stark, wenn sie sich der Religion vollständig hingeben“. Daher diese „Zurück zu den Wurzeln“-Mentalität – nichts anderes bedeutet das Wort „radikal“. Aus der Perspektive der betroffenen Jugendlichen erscheint die Bewegung als progressiv. Von den schrecklichen Auswüchsen der Ideologie distanzieren sich gleichzeitig viele. Selbst wenn sie ideologisch sympathisieren, akzeptieren sie nicht die Mittel von Dschihadisten. Vergleichbar mit dem Verhältnis zwischen Studentenbewegung und RAF.

Wie viele Jugendliche sind heute in der salafistischen Szene?

Das kann man nicht seriös beantworten. Der Verfassungsschutz präsentiert regelmäßig wachsende Zahlen, die sich immer noch bei unter 10.000 Personen bewegen. Ein kleiner Teil dieser Gruppe gilt als gewaltbereit. Allerdings wird die Grundlage dieser Daten überhaupt nicht transparent gemacht. Und offenbar wird in jedem Bundesland anders definiert und berechnet. Es ist auch überhaupt nicht leicht, das zu erheben, denn erstens bezeichnen sich die wenigsten Personen selbst als Salafisten – es ist eher eine Fremdbezeichnung. Zweitens ist es insgesamt ein Flickenteppich von Netzwerkstrukturen ohne Mitgliedschaft und Hierarchie. Daher kann man eigentlich nur festhalten: Es ist eine kleine Gruppe, die kontinuierlich wächst.

„In Europa ist der Salafismus eine Jugendbewegung.“

Ist Salafismus nur in Europa eine Jugendkultur? Woher rührt die Attraktivität in der islamischen Welt? Wie unterscheiden sich die salafistischen Szenen im arabischen Raum und in Europa?

In Europa ist es eine Jugendbewegung. Das kann man alleine schon daran festmachen, dass es sich bei den Salafisten hier zu großen Teilen um Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene handelt. Im arabischen Raum gibt es etablierte Strukturen. Dort ist es eine generationenübergreifende Strömung.

Die Unterschiede sind klar benennbar: In Deutschland und Europa ist es eine Bewegung der Minderheit. Im arabischen Raum ist es eine Bewegung innerhalb der sunnitischen Mehrheit. Die soziale Lage und die Konfliktkonstellationen sind zudem im arabischen Raum dramatisch schlimmer. Die zentrale Gemeinsamkeit ist auch klar benennbar: Es ist in beiden Regionen eine quantitativ kleine, aber wachsende Bewegung, die es insbesondere durch ihre Öffentlichkeitsarbeit schafft, verschiedene „Zielgruppen“ anzusprechen und öffentliche Diskussionen geschickt zu beeinflussen.

Was wächst aus der Erkenntnis, dass Salafismus eine Jugendkultur ist?

Das ist eine wichtige Frage: Wir müssen erkennen, dass die Extremisten die Anfälligkeit demokratischer Gesellschaften durchschaut haben. Ein strategisches Ziel war es nämlich, die säkularen Muslime innerhalb Europas von den Mehrheitsgesellschaften zu isolieren, um sie dann radikalisieren zu können. Die Erzeugung von Angst ist hierfür zentral. Etwas scharf ausgedrückt: Aus einer Höhle in Afghanistan ist dieses Ziel offenbar erreicht worden – das hätte kein Militär und kein Geheimdienst der Welt besser hinbekommen. Eine systematische Auseinandersetzung damit, dass offene Gesellschaften auf diese Strategien hereinfallen, hat bisher nicht stattgefunden. Auf der anderen Seite gilt es natürlich auch im innerislamischen Diskurs, über die offenkundige Anfälligkeit der Muslime – und vielleicht auch des Islams – für Radikalisierung und politische Instrumentalisierung offen zu sprechen. In vielerlei Hinsicht bedarf es der Reflexion.

„Im Augenblick wird jedem Gehör geschenkt, der Brücken abreißt.“

Was kann die islamische Community tun, um dem Extremismus den Boden zu entziehen?

Für Reflexion bedarf es einer gewissen Ruhe. In einer defensiven Position ist Selbstkritik nur schwer möglich. Das liegt insbesondere daran, dass der Diskurs durch die extremen Positionen bestimmt wird. Das schwächt die besonnenen Akteure, die es zuhauf gäbe. Im Augenblick wird jedem Gehör geschenkt, der Brücken abreißt. Brückenbauer haben es schwer. Darunter leider insbesondere junge Menschen.

Wie sehen Sie die Islamkritik in Deutschland? Das Spektrum ist ja sehr weit gefasst.

Das Spektrum reicht von Brückenbauern bis zu Brückenzerstörern. Ich kenne einige Brückenzerstörer persönlich gut und weiß, dass sie sich im Geiste der Aufklärung sehen und eigentlich etwas Gutes bewirken wollen. Aber sie verkennen den zentralen Unterschied: Muslime sind in Deutschland eine Minderheit. Während man vor einigen hundert Jahren um die Deutungshoheit gegen einen der stärksten Akteure überhaupt kämpfte, handelt es sich heute um eine nicht organisierte und tendenziell benachteiligte Gruppe. Fundamentalkritik bewirkt in diesem Kontext etwas ganz Anderes: Sie begünstigt eine undifferenzierte Kategorisierung, Abwertungen und Ausgrenzungen von Muslimen – kurz: Rassismus. Und damit wären wir bei dem größten Problem, das ich derzeit sehe: Die rassistischen Einstellungen in Deutschland nehmen zu, insbesondere bei Jugendlichen.

Diese jungen Menschen haben in ihrer Kindheit den Diskurs um den 11. September, die Sarrazin-Debatte und den nicht sanktionierten Hass gegen Muslime und andere Minderheiten im Internet als Normalität erlebt. Und sie haben über Jahre erlebt, wie die islamistischen und rassistischen Positionen den öffentlichen Diskurs bestimmen – nicht zuletzt auch durch AfD und Pegida. Wenn sich diese Tendenz so etabliert, dann haben wir für Jahrzehnte gesellschaftliche Probleme, die die aktuelle Flüchtlingssituation und den religiösen Fundamentalismus in den Schatten stellen.

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