05.08.2016

Das muslimische Radikalisierungsproblem

Interview mit Cigdem Toprak

Titelbild

Foto: rudolf_langer via Pixabay (CC0)

Was sind die Hintergründe der Radikalisierung junger Muslime in Europa? Welche Rolle spielt die Mehrheitsgesellschaft? Welche Schuld trägt die islamische Community?

Novo: Wie haben Sie die Reaktion der medialen Öffentlichkeit auf die Ereignisse in Köln wahrgenommen?

Cigdem Toprak: Besorgt und überrascht. Zum einen wurden die Ereignisse „heruntergespielt“, sprich bewusst nur als allgegenwärtiger Sexismus abgetan, statt sich Gedanken über das Ausmaß und die Dimension der sexuellen Übergriffe zu machen. Überrascht und geärgert hat mich aber, dass mit simplen Erklärungsmustern erneut negative Stereotypen wie „der arabische Mann“ oder „der Nordafrikaner“ erschaffen wurden und die Frage aufgeworfen wurde, ob der Islam frauenfeindlich sei. Ich dachte, das hätten wir bereits hinter uns.

Als ob man in Deutschland bisher keine Erfahrungen mit dem Islam gemacht hätte, als ob unsere Mitmenschen mit arabischen Wurzeln noch fremde Barbaren seien. Gewalt gegen Frauen ist ein viel komplexeres Problem, in dem natürlich auch religiöse Normen und Werte eine Rolle spielen. Aber nicht nur. In der Debatte beschränken sich die einen nur auf die Rolle der Religion, die anderen halten die Rolle der Religion komplett heraus.

Die Religion an sich scheint also nicht entscheidend zu sein, aber auch nicht ganz unwichtig. Was können Sie aufgrund ihrer Sozialisation in der muslimischen Community zum Frauenbild im Islam sagen?

Der Fokus sollte nicht auf dem „Frauenbild im Islam“ liegen – sondern auf den herrschenden sozialen Normen, die sich positiv oder negativ auf die Rechte und Freiheiten der Frauen in der muslimischen Welt auswirken. Leider leben aber zu viele muslimische Familien konservativ und in patriarchalischen Strukturen, die nur schwer durchbrochen werden können – sowohl von den Frauen als auch von den Männern. Die längst überholten Erwartungen an die Musliminnen in den eigenen Communities stimmen nicht mit jenen einer freien, modernen und aufgeklärten Gesellschaft überein. Frauen werden zu oft und zu schwer bestraft, wenn sie traditionelle Geschlechterrollen ablegen möchten – und sich für ein individuelles Verhältnis zu Familie und Sexualität entscheiden. „Ehrenmorde“ sind nur der Gipfel des Eisbergs.

„Die längst überholten Erwartungen an die Musliminnen in den eigenen Communities stimmen nicht mit jenen einer freien, modernen und aufgeklärten Gesellschaft überein“

Kommen wir auf Paris zu sprechen. Wie ordnen Sie die Reaktion der muslimischen Community auf die Terroranschläge in der europäischen Metropole ein?

Öffentliche Stimmen verurteilen den Anschlag, was wichtig ist – aber nicht ausreichend. Die muslimische Community muss tabulos über Radikalisierung sprechen und begreifen, was sie mit den jungen Muslimen anrichtet.

Gerade hierzu gibt es sehr unterschiedliche Positionen. Viele, wie auch der Sozialwissenschaftler Aladin El Mafaalani in dieser Ausgabe, behaupten beispielsweise, die wesentlichen Ursachen seien soziale Ausgrenzung und Benachteiligung von Muslimen in Europa – nicht so sehr ihre islamische Prägung selbst. Wie stehen Sie dazu?

Sprechen wir nur von der sozialen Ausgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft? Die ist da, ja. Aber nicht nur. Es sind vielmehr die Gegenkräfte von den muslimischen Communities und den Mehrheitsgesellschaften in Europa, die an den jungen Menschen zerren und die Lösung ihrer Identitätskonflikte kollektiv für sich beanspruchen. Viel zu selten schlagen die muslimischen Communities ihren Mitgliedern vor, einen individuellen Weg zu gehen und trotzdem Teil ihrer Community und der Gesellschaft zu sein. Bei der Analyse der Ursachen sollten wir uns nicht nur auf theologische Grundlagen stürzen – ohne uns mit den tatsächlichen Lebenswelten, Haltungen, Einstellungen und Normen der Muslime in Europa auseinandersetzen. Das Problem ist nicht, dass Muslime religiöser werden, sondern reaktionärer.

„Das Problem ist nicht, dass Muslime religiöser werden, sondern reaktionärer.“

 Nach Mafaalani ist der Salafismus als eine neue rebellische Jugendkultur und nicht als logische Folge des islamischen Glaubens zu verstehen.

Der islamische Glaube, so wie er in den muslimischen Communities in Europa gelebt wird, bietet sehr wohl eine Grundlage für Radikalisierungen. Als kulturelle und traditionelle Verbote und Gebote aus der muslimischen Region bei den jungen Menschen keine Wirkung gezeigt haben, wurde religiös argumentiert. Man begann also, jegliches Verhalten im Alltag dahingehend zu hinterfragen, ob es islamkonform sei. Junge Menschen haben aber nicht dagegen und für mehr Freiheiten rebelliert, sondern haben begonnen, konform zu leben – nicht unbedingt nur gegenüber ihren Eltern, aber gegenüber ihren Freunden, Predigern und der Gemeinschaft. Es ist richtig, dass nicht der islamische Glaube per se radikal ist, aber dass der islamische Glaube, so wie er momentan mehrheitlich gelebt wird, ein Radikalisierungsproblem hat.

Junge Menschen werden reaktionärer. Auch wenn die Eltern ab einem gewissen Grad damit nicht einverstanden sind, finden sie in Moscheegemeinden und auf dem Pausenhof genügend Glaubensbrüder, die genauso denken und fühlen.

Inwiefern aber junge Menschen gewalttätig werden, da spielen sicherlich noch weitere Faktoren eine Rolle, die vom Psychologen Ahmad Mansour in seinem Buch „Generation Allah“ sehr gut veranschaulicht werden. Zudem aber sehe ich ein weiteres Problem darin, dass junge Muslime mit ihren Lebenswelten überfordert sind. Sie verstehen oft nicht, wie eine moderne Gesellschaft funktioniert, empfinden Ungerechtigkeiten, Doppelmoral und Verrat deshalb so stark, weil sie nicht verstehen, welche Werte gelebt und verteidigt werden und werden sollen. Aber man bietet ihnen kaum Raum, sich mit diesen Sinnfragen und Identitätskonflikten zu beschäftigen – jedoch sehr wohl in den radikal-islamischen Kreisen.

„Man bietet jungen Muslimen kaum Raum, sich mit Sinnfragen und Identitätskonflikten zu beschäftigen“

Viele Salafisten, unter denen auch nicht wenige Konvertiten sind, waren vorher aber kaum religiös. Missbrauchen sie den eigentlich friedlichen Islam also nicht nur für ihre Zwecke?

Das sind zu einfache Erklärungen. Dass der Islam friedlich sein kann, sehen wir darin, dass die Mehrheit der Muslime friedlich lebt. Aber dass islamische Inhalte, Gebote und Verbote kritisch zu betrachten sind, das sollte die Pflicht eines jeden freiheitsliebenden, lebensbejahenden, demokratischen Menschen sein. Dass das nicht immer geschieht und Menschen für ihre Religion töten, zeigt, dass die muslimische Welt ein Radikalisierungsproblem hat. Und da kann man sich nicht einfach schulterzuckend herausreden und meinen, die friedliche Religion werde missbraucht.

Eine wesentliche Ursache für die Radikalisierung scheint auch in der Orientierungslosigkeit des Westens selbst zu liegen. Sprechverbote aus Rücksicht auf Gefühle von Gruppen, die sich meist als Opfer verstehen, haben ja nicht die Islamisten erfunden.

Ich würde sagen: Ignoranz des Westens. Wie kann man klare Regeln für jene aufstellen, die man überhaupt nicht kennt? Jahrzehntelang hat man sich in Deutschland für muslimische Migranten nicht wirklich interessiert. Im Türkischen gibt es das Sprichwort: Die Schlange, die mich nicht beißt, soll tausend Jahre leben.

Vielen Kritikern, auch liberalen Muslimen wie Hamed Abdel-Samad, wird Islamophobie vorgeworfen. Sind Bedenken davor, dass Kritik am Islam Wasser auf die Mühlen der extremen Rechten ist, aber nicht auch berechtigt?

Hamed Abdel-Samad ist eines der wichtigsten Beispiele dafür, was Meinungsfreiheit in diesem Land bedeutet. Er hat scharfe Thesen, aber er ist differenziert und kritisch. Man kann sich daran stören, aber man kann nicht sagen, dass Kritik am Islam zu feindlichen Haltungen gegenüber dem Islam führt. Denn dann blenden wir die Intention völlig aus: Abdel-Samad kritisiert, weil er bemüht um die Muslime ist, während Rassisten hetzen, weil sie gegen Muslime sind. Abdel-Samad streitet sich friedlich, beispielsweise in Diskussionen mit dem Theologen Mouhanad Khorchide.

„Jahrzehntelang hat man sich in Deutschland für muslimische Migranten nicht wirklich interessiert.“

Wie kann angesichts der aufgeheizten und polarisierenden Debatten eine humanistische Kritik am Islam aussehen?

Indem man nicht pauschalisiert und polarisiert. Vor allem kommt es auf die Absicht an; man kritisiert, damit es bessergeht. Man kritisiert für die Muslime – und nicht gegen sie. Vor allem sucht man den Dialog und schottet sich nicht mit Hassreden und Hetzen ab.

Immer wieder wird auch der kulturelle Dialog angemahnt. Inwiefern spielen kulturelle Gruppenidentitäten in Deutschland aber noch eine Rolle und inwieweit sollten sie dies in Zukunft tun?

Kulturelle Identitäten sind wichtig, gerade wenn es um ein vielfältiges Zusammenleben geht. Aber es sollte sowohl von der Mehrheitsgesellschaft als auch von den kulturellen Communities selbst akzeptiert werden, dass Menschen mehrere Identitäten haben und somit auch unterschiedliche Loyalitäten. Daher ist es wichtig für mich, dass ich auch eine Loyalität gegenüber meiner deutschen Heimat entwickle – allen voran gilt meine höchste Loyalität dem deutschen Grundgesetz und seinen Werten. Aber gerade Menschen mit Migrationshintergrund sind nicht eindimensional, ihre Identitäten sind komplex. Wir sollten bemüht sein, diese Identitäten miteinander zu vereinbaren.

„Die Fehler, die man mit den Gastarbeitern gemacht hat, dürfen nicht wiederholt werden“

Gerade diese Fragen der Integration und der kulturellen Unterschiede spielen in der aktuellen Flüchtlingsdebatte eine große Rolle. Immer wieder werden dabei die Herausforderungen der Integration betont. Welche Fehler dürfen wir jetzt nicht wiederholen, damit sich auch Chancen ergeben?

Wir dürfen die Flüchtlinge nicht als Objekte unserer Gesellschaft, sondern sollten sie als Subjekte, als Menschen wahrnehmen. Momentan nehmen wir sie als ein Kollektiv wahr, weil sie zunächst abgeschottet sind, wir kaum Berührungen mit ihnen in unserem Alltag haben, weil wir sie noch nicht kennen. Aber die Fehler, die man mit den nachfolgenden Generationen der Gastarbeiter gemacht hat, dürfen nicht wiederholt werden. Man darf sie nicht ignorieren, man darf auch nicht hinnehmen, dass Menschenrechtsverletzungen mit kulturellen und religiösen Geboten und Traditionen gerechtfertigt und abgetan werden. Wir müssen aber ihren kulturellen und religiösen Identitäten genügend Raum geben – im Rahmen unserer demokratischen Werte.

Was können Aufnahmegesellschaft, Staat und was die Zuwanderer selbst für ein besseres Zusammenleben oder gar eine gemeinsame Identität in einem vielfältiger werdenden Deutschland leisten?

Der Rapper Haftbefehl hat in einem Interview etwas sehr Beeindruckendes gesagt: Das Leben in einer multikulturellen Stadt wie Frankfurt wäre langweilig, wenn man gegen Deutsche, gegen Kurden, gegen Türken sei. Man hätte als Rassist wenig Spaß im Leben. Und genau darum geht es: Wir sollten verstehen, dass Zuwanderer sich nicht für die deutsche Mehrheitsgesellschaft integrieren, sondern für sich selbst. Es ist zunächst für sie selbst nachteilig, wenn sie die deutsche Sprache nicht lernen, wenn sie sich abschotten. Und wir müssen begreifen, dass wir zunächst uns selbst schaden, wenn wir fremdenfeindlich sind. Wir alle müssen für uns selbst, für die Zukunft dieses Landes, unseren Beitrag für das vielfältige Zusammenleben leisten. Dafür brauchen wir einen tiefen gesellschaftlichen Wandel, in dem wir uns bewusstwerden, was es bedeutet, in einem kulturell und religiös vielfältigen Land zu leben.

Ein Ausblick: Die antidemokratischen Ränder der Gesellschaft werden stärker, egal ob islamischer Fundamentalismus oder deutschnationaler Extremismus. Die Werte des Humanismus und der Aufklärung, wie etwa Toleranz und Offenheit, werden von beiden Seiten als Schwächen angesehen. Wie können wir Humanismus und Aufklärung öffentlich gegen diese Kräfte verteidigen?

Indem wir uns vehement gegen viel zu einfache Pauschalisierungen und Polarisierungen wehren. Formulierungen wie „die Muslime“, „die Deutschen“, „die Flüchtlinge“ – seien „gut oder böse“ – so können wir uns nicht die Welt erklären. Und indem wir uns weiterhin für unsere freiheitlichen und demokratischen Werte einsetzen und diese standhaft verteidigen. Erst dann wird man Menschen für Toleranz und Offenheit gewinnen können, wenn sie nachvollziehen können, in welchem demokratischen Rahmen Toleranz gezeigt und Offenheit gelebt wird. Erst durch dieses Selbstbewusstsein zeigt sich, was für ein Gewinn das nicht nur für unsere Gesellschaft, sondern für jeden Einzelnen von uns ist.

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