15.07.2014

Dschihadismus: Heiliger Krieg als cooles Abenteuer

Essay von Frank Furedi

Wenn sich ganz normale junge Muslime plötzlich dem radikalen Islamismus zuwenden, wird meist angenommen, sie seien von fremden Hasspredigern manipuliert worden. Der Soziologe Frank Furedi erkennt im Dschihadismus hingegen Merkmale typisch westlicher Jugendkulturen.

Überall im Westen hören wir Geschichten von jungen Muslimen, die plötzlich einen radikalen Wandel ihres Lebens vollziehen: Vom Partylöwen, nur auf Spaß und Zerstreuung aus, zum eifrigen heiligen Krieger auf der Mission, Syrien oder Irak in Theokratien zu verwandeln.

Dschihadisten biographisch

Vor nicht allzu langer Zeit tanzte Jejoen Bontinck aus Antwerpen noch in Musikvideos und feierte mit seinen Kumpels. Aber dann konvertierte der in Hip-Hop vernarrte junge Mann zum Islam. Er trug keine westliche Kleidung mehr, nahm die Verhaltensweisen eines streng Gläubigen an, und bevor seine Eltern wussten, was vor sich ging, hing er bereits mit dschihadistischen Kämpfern in den Ruinen Syriens herum.

Die Geschichte von Bontinck klingt wie die von vielen westlich sozialisierten und hier geborenen Teenagern, die nach einer kurzen Phase der Radikalisierung zu bitteren Feinden ihres Heimatlands werden. Als weiteres Beispiel dient die Lebensgeschichte von Hasib Hussain, einem der Selbstmordattentäter von London im Juli 2005. „Er spielte gern Cricket und Hockey. Eines Tages kam er dann in die Schule und hatte sich über Nacht komplett gewandelt. […] Er trug jetzt eine Gebetsmütze, ließ sich einen Bart wachsen und erschien in Gewändern. Vorher hatte er immer Jeans angehabt.“[1]

Ein junger Mann also, nicht anders als wir alle, dessen Persönlichkeit aber eine plötzliche und unbegreifliche Wandlung erfuhr und der daraufhin seine Nachbarn und sein Land zum Feind erklärte. Genau wie Michael Adebolajo, einer der beiden für den Mord an Soldat Lee Rigby[2] Verantwortlichen, war Hussain zuvor ein ganz gewöhnlicher Typ gewesen. Wer also sind diese hier aufgewachsenen und nun um die Welt reisenden Krieger? Was macht sie aus und wie ticken sie?

„Die neue Art von Dschihadisten weist keine einheitlichen sozialen, psychologischen oder charakterlichen Merkmale auf“

Aus soziologischer Perspektive ist es wahrhaft faszinierend, dass diese neue Art globaler Dschihadisten keine einheitlichen sozialen, psychologischen oder charakterlichen Merkmale aufweist. Mit anderen Worten: Es gibt keinen typischen westlichen muslimischen Rekruten für den radikalen Dschihad. In ihren früheren Leben waren einige von ihnen gut gelaunte junge Männer, mit dem Hauptziel, Spaß zu haben. Andere waren als idealistische Teenager sozial engagiert. Manche mochten Musik, andere Sport, andere wiederrum neigten zu Kleinkriminalität und pflegten Umgang mit örtlichen Gangs. Diese Rekruten waren keine Außenseiter vom Rand der Gesellschaft, sondern vielmehr repräsentative Beispiele für ganz normale junge Menschen. Manche waren regelrechte Musterschüler und -studenten mit guten Karriereaussichten, viele waren Nutznießer der wirtschaftlichen Sicherheit und der Möglichkeiten, die die westliche Gesellschaft bietet. Dass es nicht den einen typischen Rekruten für dschihadistische Zwecke gibt, führt zu größeren Fragen über die Mächte und Einflüsse, die junge Muslime dazu bringen, sich als heilige Krieger neu zu erfinden.

Nehmen wir noch Abdul Raqib Amin aus Aberdeen. In seinem vorigen Leben war er ein begeisterter Fußballer, der gerne in die Disko ging. In seinem neuen Leben ist er dschihadistischer Propagandist und Kämpfer in Syrien. Man findet Videos von ihm im Internet, wo er den Dschihad als „Heilung für Depression“ empfiehlt. Vor der schwarzen ISIS-Flagge sitzend lädt er andere britische Muslime ein, sich dem Kampf in Syrien anzuschließen. Vor ein paar Jahren hätten seine Empfehlungen darum gekreist, welche Turnschuhe man tragen und welche Bands man hören sollte. Jetzt ist die ISIS-Gruppe sozusagen seine Lieblingsband.

Abdul Raqib Amin ist nicht allein. In einem ISIS-Rekrutierungsvideo sitzt Nasser Mauthana neben ihm. Früher ein äußerst erfolgreicher Student aus Cardiff, hat Mauthana nun sein ambitioniertes Medizinstudium aufgegeben, um den Heiligen Krieg zu unterstützen. So wie schätzungsweise 500 bis 2000 andere junge Muslime entschied er sich, sein früheres Leben hinter sich zu lassen und im Nahen Osten den bewaffneten Kampf aufzunehmen. Andere haben ihre Energie und ihren Hass auf die Gesellschaft gerichtet, in der sie aufgewachsen sind, wie der Mord an Lee Rigby beweist. Dies zeigt, dass der einheimische Terrorismus auch eine Bedrohung für den Westen darstellt.

„Die Kultur des radikalen Islamismus hat Einfluss auf einen wesentlichen Teil der muslimischen Jugend“

Der heutige einheimische Terrorist hat wenig mit seinen europäischen Pendants aus den 1970ern, den italienischen Roten Brigaden oder der deutschen Baader-Meinhof-Gruppe, gemeinsam. Das waren winzige extremistische Cliquen, ähnlich der Tierbefreiungsfront, die sich aus einer Handvoll fanatischer Individuen zusammensetzten, und die wenig Einfluss auf andere ausübten. Im Gegensatz dazu hat die Kultur des radikalen Islamismus Einfluss auf einen wesentlichen Teil der muslimischen Jugend in westlichen Gesellschaften – man braucht nur ins Internet zu gehen, um die Präsenz und Unterstützung zu erkennen, die der Dschihadismus genießt. Dessen Online-Community ist nicht auf einen harten Kern von ein paar Hundert Militanten begrenzt. Sie umfasst ein viel größeres Publikum von passiven Unterstützern, die sich zumindest emotional mit ihren aktiven Brüdern identifizieren können.

Die wahre Bedeutung der Radikalisierung

Für die Radikalisierung junger westlicher Muslime wird oft die anscheinend starke Anziehungskraft radikaler Prediger verantwortlich gemacht. Diese Interpretation folgt der jahrhundertelangen Tradition, mit dem Finger auf den mysteriösen Außenseiter zu zeigen, der sich die Verletzbaren und leicht Beeinflussbaren als Opfer aussucht und für seine Zwecke missbraucht. Die heutige Version dieser Denkschule manifestiert sich in der sogenannten Theorie der Radikalisierung. Diese Theorie besagt, dass junge Leute – oft als verletzbar beschriebene Menschen – radikalisiert werden, weil sie von diesen eindrucksvollen, charismatischen Persönlichkeiten gehirngewaschen und manipuliert werden. Die Wirklichkeit sieht allerdings ganz anders aus. Es gibt beachtliche Belege dafür, dass diejenigen, die sich dem Radikalismus zuwenden, nur selten von manipulativen Kräften gehirngewaschen wurden. Oft haben sie selbstständig nach dschihadistischen Webseiten und Online-Netzwerken gesucht. Sie haben also eine bewusste und aktive Entscheidung getroffen.[3]

Ohne Zweifel legen sich engagierte dschihadistische Führer ins Zeug, um die Vorzüge ihrer Ideologie anzupreisen und neue Anhänger zu rekrutieren. Doch obwohl sie ihren Teil zur Radikalisierung der muslimischen Jugend beitragen, spielen sie in diesem Drama nur eine Nebenrolle.

Es muss die Frage gestellt werden, warum radikal-islamische Vorstellungen junge Menschen ansprechen, die oftmals vom Leben im Westen profitiert haben. Klar ist, dass ihre Hinwendung zum radikalen Islam mit einer Abwendung von der Lebensweise ihrer Eltern und Umgebung verbunden ist. Eine solche generationsgebundene Ablehnung gegen die althergebrachte Lebensart ist nicht auf die muslimische Jugend begrenzt. Wenn man mit jungen radikalen britischen Muslimen spricht, wird deutlich, dass sie von Impulsen motiviert werden, die sie mit vielen ihrer nichtmuslimischen Altersgenossen teilen. Da wäre die Ablehnung der westlichen Konsumgesellschaft: „Bist du bereit, deinen gutbezahlten Job, dein großes Auto und deine Familie aufzugeben?“, fragt Abdul Raqib Amin in seinem von ISIS unterstützten Video. Seine Sichtweise, die viel von der Anti-Konsum-Rhetorik des westlichen Radikalismus hat, wird von einem wesentlichen Teil der europäischen Jugend geteilt. Die Aussage könnte genauso gut von einem Occupy-Mitglied stammen. Aber Amin ist mehr als ein radikaler Demonstrant, und er erinnert sein Publikum daran, dass er außerdem zu einer ganz bestimmten Jugendsubkultur gehört, indem er hinzufügt: „Bist du bereit, all das zu opfern für Allah?“

„Manche Aussagen der Dschihadisten könnten genauso gut von einem Occupy-Mitglied stammen“

Was Sicherheitsexperten als Radikalisierung bezeichnen, sollte als Ausdruck der Entfremdung einer Generation verstanden werden. Die Entfremdung junger Muslime von der westlichen Gesellschaft und die Ablehnung ihr gegenüber findet logischerweise zeitlich vor der Verinnerlichung einer radikalisierenden Botschaft statt. Viele junge Menschen, die in ihrer Existenz in der westlichen Gesellschaft nur schwer einen Sinn erkennen, reagieren auf diese Gesellschaft mit Ablehnung. Ihre muslimischen Altersgenossen gehen manchmal einen Schritt weiter und drücken ihre Entfremdung durch das Medium der dschihadistischen Ideologie aus. Diese Ideologie ist so attraktiv, weil sie eine in sich schlüssige Identität bietet, mit der man dazu noch gesellschaftlich aneckt. Sie sorgt für die kulturellen Ressourcen, um eine islamische jugendliche Subkultur zu begründen. Anders als die typischen Erscheinungsformen des Generationskonfliktes kann die dschihadistische Jugendkultur jedoch einige zerstörerische Konsequenzen zeitigen.

Dschihadismus als Jugendkultur

Die meisten jungen Menschen, die sich auf dschihadistischen Websites umsehen, suchen nicht nach einer neuen religiösen Erfahrung oder einer damit verbundenen Weltsicht. Ihr Verhalten ist nicht viel anders als das der zahlreichen nicht-muslimischen westlichen Bürger, die sich nihilistische Webseiten anschauen und eine Faszination für destruktive Inhalte und Bilder entwickeln. Dschihadistische Social Media wirken, wie bestimmte konventionelle Internetseiten, als Ventil für junge Leute, um Dampf abzulassen. Adoleszente Menschen nutzen diese Seiten, um ihrer Frustration und Entfremdung Ausdruck zu verleihen. Sie bedienen sich ausschweifender Sprache, um mit ihrem Gebaren zu prahlen, oft mit Bildern des Nahen Ostens und aggressiver westlicher Rapmusik als Hintergrundkulisse. Der Dschihad wird nicht nur als religiöse Pflicht, sondern als aufregendes Abenteuer dargestellt. Für viele sind das „coole“ Webseiten, die es den Nutzern erlauben, ihren Fantasien freien Lauf zu lassen. Für andere – eine relativ kleine Minderheit – bieten diese Seiten noch mehr: ein Medium, durch das sie ihrem Leben Sinn verleihen können.

Ein wesentliches Merkmal von Hip-Hop-Musik ist ihre einfache Übertragbarkeit von einer Subkultur in eine andere. Dschihadistischer Hip-Hop bietet ein Medium, um ungefiltertem Hass und Wut Ausdruck zu verleihen, was bei der Jugend in den Städten schnell Anklang findet. Als Beispiel sei der englischsprachige dschihadistische Dancehall-Rap-Song „Dirty Kuffar“[4] („Dreckiger Ungläubiger“) genannt. Der Rap fordert zu Hass gegen bekannte politische Führer des Westens auf. Der Beat mag mitreißend sein, der Text ist jedoch banal und kommuniziert eine simple, wenn nicht simplifizierende, Botschaft:
 

„Ronald Reagan war ein dreckiger Ungläubiger
Mr. Tony Blair ist ein dreckiger Ungläubiger
Dieser Mr. Bush ist ein dreckiger Ungläubiger
Wirf sie ins Feuer“

 


ISIS-Rekrutierungsvideos sollen junge Nachwuchsmachos ansprechen. Deshalb sieht man in ihnen einen Haufen Kerle, die Liegestütze machen und auf Ziele schießen, und durch das Motiv der Mobilmachung die ISIS-Ideologie vermitteln. Das ISIS-Video „Day of Retribution“ („Tag der Vergeltung“) macht diese Gesinnung mehr als deutlich:
 

„Kampf der Unterdrückung! Greif zu den Waffen!
Stiehl ihre Weiber, töte die ungläubigen Affen
Schnapp dir nen Politiker während der Wahl
Bring ihm durch Giftspritzen tödliche Qual
Wenn die Revolution kommt, endet ihr Heucheln
Am Tag der Vergeltung werden wir sie meucheln“
[5]

„Dschihadistischer Rap ist Teil eines Projekts, das die Mittel der Jugendkultur für politische Propaganda nutzbar machen soll“

Dschihadistischer Rap ist Teil eines Projekts, das die Mittel der Jugendkultur für politische Propaganda nutzbar machen soll. Sogar sogenannte westliche Sicherheitsexperten ist mittlerweile klar geworden, dass sie ein besseres Verständnis für den sogenannten „coolen Dschihad“[6] entwickeln sollten, statt sich am mystischen Reiz der islamischen Theologie abzuarbeiten.

Der wahre Reiz einer dschihadistischen Jugendkultur basiert auf einer tiefgreifenden Ablehnung der kulturellen Werte der westlichen Gesellschaft. Was oft wie das plötzliche Konvertieren eines impulsiven oder verwirrten jungen Mannes zum radikalen Islam erscheint, erfolgt normalerweise nicht ohne vorausgehende Distanzierung von seinem Umfeld. Anders gesagt, die Anziehungskraft einer gemeinsamen Sache gründet auf der Ablehnung von allem anderen, an das man glauben könnte. Die wirklich wichtige Frage ist nicht, was einen jungen Mann aus Pforzheim in ein ISIS-Trainingscamp nach Syrien lockt, sondern vielmehr, warum so viele ihren vorigen Lebensstil so vehement abgelehnt haben. Theorien der Radikalisierung dienen nur dazu, dieser Frage aus dem Weg zu gehen. Die verrückten Mullahs zu beschuldigen, entlässt alle anderen aus ihrer Verantwortung.

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