11.03.2010

Der Schatten des Sieges

Essay von Bernd Muggenthaler

Angesichts der erdrückenden Dominanz von Athleten wie dem achtfachen Goldmedaillengewinner Michael Phelps sowie dem jamaikanischen Sprinter Usain Bolt bestimmte, wie schon im Vorfeld der Olympiade, eine omnipräsente Dopingdebatte die Medien – und führte sich dabei selbst ad absurdum.

Als im Jahr 1922 der amerikanische Leistungsschwimmer und spätere Tarzan-Darsteller Jonny Weissmüller als erster Mensch die 100-Meter Freistil in weniger als einer Minute schwamm, galt dies als Sensation. Heute gewinnt man mit dieser Zeit nicht einmal mehr die Kreismeisterschaft bei den unter 17-Jährigen. Zum Vergleich: Der Frauen-Weltrekord über dieselbe Distanz, gehalten von der Doppelolympiasiegerin Britta Steffen, liegt heute bei 53,20 Sekunden, und es ist gerade einmal 20 Jahre her, dass der damalige Deutsche Meister über 200 Meter Lagen, Michael Hahn, ein Allround-Hochleistungsathlet, sich mächtig ins Zeug legen musste, um über diese Distanz annähernd so schnell zu sein – als Mann wohlgemerkt. 20 Jahre, möchte man meinen, sind keine allzu lange Zeit, und doch sind in diesem Zeitraum Quantensprünge passiert. Vom „Tarzan-Schwimmer“ spricht heute kaum noch einer.

Hochtechnisierte Trainingsmethoden, bessere Kenntnisse über biodynamische Prozesse, Fortschritte in der Ernährungswissenschaft sowie in der Sportmedizin machten es möglich, dass auf ganz „natürlichem“ Wege schier unglaubliche sportliche Meilensteine gesetzt worden sind – sofern man annehmen mag, dass Leistungssport etwas Natürliches ist. Als bestes Beispiel hierfür aus der jüngeren Zeit gilt wohl der deutsche Brustschwimmer Mark Warnecke, der es dank selbst entwickelter Trainingsmethoden in Kombination mit einer ebenfalls eigenständig zusammengestellten Aminosäurendiät noch einmal schaffte, Weltmeister über 50 Meter Brust zu werden, und das in einem Alter, in dem die meisten das Handtuch schon längst an den Haken gehängt haben – mit 35 Jahren. In einer Ausdauerdisziplin wäre das schon eine grandiose Leistung, medizinisch aber noch am ehesten nachvollziehbar, über eine Sprintstrecke aber ist es eine Sensation und veranschaulicht, was mit legalen Methoden alles möglich ist. Legal ja – aber natürlich?

Genau an diesem Punkt setzt die Argumentationsschiene der erbitterten Dopingrichter an, und sie ist ebenso nachvollziehbar wie falsch. Was zählen soll, ist die reine, unverfälschte Körperkraft, der Wille, die Konzentration und das Geschick. Das ist schön, edel und gut, nur wird dabei leider gerne vergessen, dass Leistungssport alles andere als natürlich ist, schon gar nicht gesund. Der Body-Mass-Index von Langstreckenläufern entspricht schon längst dem von Magersüchtigen, der von Gewichthebern liegt oft jenseits der Fettleibigkeit. Leistungssport, so könnte man einwenden, ist per se widernatürlich, ebenso wie die gesamte menschlich-kulturelle Evolutionsgeschichte, die seit jeher mit allen denkbaren (und undenkbaren) Mitteln vorhandene Grenzen immer weiter verschiebt, sich beständig neue individuelle Freiräume erkämpft und sich nie dauerhaft mit dem Vorhandenen zufrieden gibt.

Es war und ist dieses Streben nach mehr, das überhaupt die kulturellen Freiräume dafür schuf, dass wir uns so etwas wie Sportveranstaltungen heutzutage wie selbstverständlich leisten können. Wenn also das Argument der Natürlichkeit schon nicht richtig zieht, worum geht es dann bei der ganzen Aufgeregtheit, mit der die Dopingdiskussion immer wieder geführt wird? Der olympische Anti-Doping-Code spiegelt letztendlich genau dieses Dilemma wider. Doping wird hier definiert als „die Verwendung von Hilfsmitteln in Form von Substanzen und Methoden, welche potenziell gesundheitsschädigend sind und/oder die körperliche Leistungsfähigkeit steigern können ...“ Eine klare Definition sieht anders aus. Warum zum Beispiel ist das Asthmamedikament erlaubt, der Genuss von Cannabis zur regenerativen Entspannung dagegen verboten?

Ein anderes Argument, das besonders Sportler selbst gerne ins Feld führen, ist das der Fairness. Selbstverständlich braucht jeder Wettkampf und jede Sportart klare Reglements, die für alle Teilnehmer gleichermaßen verbindlich sind. In Sportarten wie dem Boxen oder dem Ringen ist dies seit jeher in Form der verschiedenen Gewichtsklassen klar definiert. Niemand würde auf die Idee kommen, einen Nikolai Walujew auf einen Weltergewichtler loszulassen. Das Problem ist, in den meisten anderen Disziplinen ist es schlichtweg nicht so einfach, Kategorien allein am Körpergewicht festzumachen, und es wäre auch widersinnig. Ein gutes Beispiel hierfür liefern afrikanische Läufer, die seit je her die Mittel- und Langstrecken dominieren, und es ist noch nicht so lange her, dass das Geheimnis darum gelüftet wurde. Erst in den 90er-Jahren fand der schwedische Physiologe Bengt Saltin in einer Langzeitstudie heraus, womit die auffällige Fähigkeit afrikanischer Läufer, Erschöpfung zu widerstehen, zu tun hat. In ihrem Blut sammelt sich Milchsäure, die in ermüdeten, unterversorgten Muskeln entsteht, langsamer als bei Weißen. Ostafrikaner besitzen mehr von einem Enzym, das die Milchsäureproduktion bremst und den Abbau beschleunigt. Sie sind somit ungewöhnlich gut in der Lage, Fettsäuren zu verbrennen und so mehr Energie aus den biochemischen Reaktionen ihrer Muskeln herauszuholen. Daher können sie mit der gleichen Sauerstoffmenge zehn Prozent weiter laufen als Europäer. Hinzu kommt der Körperbau: Ostafrikaner haben im Schnitt 400 Gramm weniger Fleisch auf den Waden als nordeuropäische Läufer, was sich ebenfalls beim Sauerstoffverbrauch bemerkbar macht, Kilometer für Kilometer. Kleine Unterschiede, möchte man meinen, in der Welt des Hochleistungssports entscheiden sie über Gold oder Blech, und mit einem sechsten Platz, da sind sich Athleten aller Nationen einig, kann man keine Rechnungen bezahlen, selbst wenn diese Platzierung mit einer persönlichen Bestzeit oder gar einem nationalen Rekord einhergeht.

Wäre es jetzt also von vornherein unfair, einen Skandinavier oder einen Japaner gegen einen Äthiopier über 10.000 Meter laufen zu lassen, wenn Letzterer ohnehin die besseren „natürlichen Voraussetzungen“ mitbringt? Ähnliches kann man sich auch bei jener Disziplin fragen, die gemeinhin als am stärksten dopingverseucht gilt: dem Radsport. Es ist noch nicht lange her, dass Mediziner herausfanden, dass in unseren Genen Genome auch vervielfacht auftreten können. Falls dies das „Epo-Gen“ betrifft, wird jemand mit dieser „natürlichen“ Mutation im Fahrradsattel eine ziemlich gute Figur machen. Wer über eben diesen Vorteil nicht verfügt, wird entweder hinterherfahren oder eben versuchen, entsprechend nachzuhelfen. Wollte man sämtliche dieser Unterschiede, die letztendlich nicht weniger als unser spezifisches, einzigartiges Menschsein ausmachen, berücksichtigen, so hieße das übertragen auf den Boxsport: Zusätzlich zu den Gewichtsklassen müsste noch separat festgelegt werden, wie groß Bizeps, Bauchumfang, Schnellkraft, Anzahl der Blutkörperchen usw. sein dürfen. Selbst wenn dies möglich wäre, was es nicht ist, welchen Sinn würde dann noch ein Wettkampf machen, bei dem Gleiche gegen Gleiche antreten? Sport lebt ja gerade davon, den Besten zu ermitteln, und das impliziert nun einmal Ungleichheit.

Eine weitere Realität, die den internationalen Spitzensport heute von dem vor 30 Jahren ganz erheblich unterscheidet, ist, dass die Athleten wesentlich mehr Wettkämpfe bestreiten. Kaum einer kann es sich leisten, bei internationalen Meetings, bei denen oft höhere Preisgelder bezahlt werden als für einen Europarekord, zu fehlen. In der Konsequenz fehlen wichtige Regenerationsphasen. Körper wie Psyche des Athleten befinden sich praktisch in einem permanentem Ausnahmezustand, und unter Sportmedizinern ist es längst ein offenes Geheimnis, dass sich eine solche „Tour de force“ ohnehin nur mit entsprechender Medikation bewältigen lässt, mit Mitteln, die im Idealfall nicht auf den einschlägigen Dopinglisten zu finden sind. Die Palette reicht von Schmerzmitteln bis zu den bereits erwähnten Asthmapräparaten, die zum Teil völlig gesunden Sportlern verabreicht werden, die alle möglichen Probleme haben mögen, nur kein Asthma. Was sich im Vergleich zu früheren Zeiten nicht geändert hat, ist die Tatsache, dass bei gestiegener Belastung dem Athleten ein vergleichsweise kleines Zeitfenster bleibt, um seine Schäfchen ins Trockene zu bringen. Athleten wie der eingangs zitierte Mark Warnecke werden auch in Zukunft eher die Ausnahme bleiben.

Es ist wahrscheinlich nicht zu weit gegriffen, das jahrelange körperliche wie psychische Stresspensum eines Spitzensportlers ähnlich zu verstehen wie das eines Frontsoldaten im Dauereinsatz, mit dem Unterschied, dass es bei Ersterem zumindest nicht so offenkundig um Leben und Tod geht. Bei Letzterem zeigt die Geschichte, dass längere, personalintensive Einsätze auf Dauer nie ohne das bewusste und kontrollierte Verabreichen von Drogen zu bewältigen waren. Angefangen bei Stechapfel und leistungssteigernden Kräutern in der Antike bis hin zur ärztlich überwachten Abgabe von Amphetaminen an amerikanische Piloten im Irakkrieg. Zu keiner Zeit in der Menschheitsgeschichte wurde wie selbstverständlich erwartet, dass außergewöhnliche Leistungen mehr oder weniger wie von selbst zustande kamen. Römische Legionäre hatten ein verbrieftes Anrecht auf eineinhalb Liter schweren Wein – pro Tag. Und damit war kein barriquegereifter Barolo mit maximal 14 Prozent Alkoholgehalt gemeint, sondern Tropfen, die 18 Prozent und mehr hatten. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts kommt auch wieder ein alter Bekannter der Drogenforschung zu trauriger Berühmtheit – Crystal Meth, ein Methamphetamin, das hochgradig süchtig macht und bei entsprechender Dosierung bis zu 70 Stunden wach hält. Was heute billig in zumeist osteuropäischen Labors für die Partyszene zusammengepanscht wird, ist nichts anderes als eben die Substanz, die Hitler seinen Kampfpiloten zusammen mit seinen Durchhalteparolen verabreichte.

Elementare Grenzüberschreitungen werden immer verbunden sein mit Schmerz, Angst und einem Maß an visionärer Kraft, wie es denn hinter dieser Grenze weitergehen mag. Zu glauben, dass so etwas auf Dauer im Sport wie anderswo allein mit Evian und Biomüsli möglich wäre, ist nichts weiter als eine naive Illusion, für die vor allem die Athleten einen hohen Preis zu zahlen haben: den der Illegalität und der Ächtung. All denen, die dennoch vehement für einen „sauberen“ Sport eintreten, macht eine Studie von australischen Wissenschaftlern Mut. Sie wiesen nach, dass bei 64 Versuchspersonen ein Scheinmedikament (Placebo) als Spritze verabreicht den gleichen Effekt erzielte wie Wachstumshormone. Einziger Wermutstropfen: Bei der Versuchsgruppe handelte es sich um Freizeitsportler, nicht um internationale Spitzenathleten.

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