12.03.2018

Politikunterricht in Zeiten von Hate Speech

Von Robert Benkens

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Foto: NeONBRAND via Unsplash / CC0

In Deutschland besteht Politikunterricht häufig immer noch aus Auswendiglernen oder moralisierenden Appellen. Die aktuelle politische Situation erfordert jedoch kontroverse Debatten.

Tagtäglich hören Schülerinnen und Schüler in den alten und neuen Medien von den politischen Umwälzungen, Ereignissen und Problemen der Welt. Besonders in den letzten Jahren haben sich viele Ereignisse geradezu überschlagen, mediale Auseinandersetzungen und politische Debatten zugespitzt. Von der Finanz- und Eurokrise über die Flüchtlingskrise bis hin zum Brexit und der Wahl Trumps, vom Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen à la Pegida, von der akuten Bedrohung durch Terroranschläge und der zunehmenden Radikalisierung muslimischer Jugendlicher auch in Europa bis hin zu den massiven Ausschreitungen linksextremer Autonomer rund um den G20 Gipfel in Hamburg: Mit all diesen Herausforderungen einer zunehmend unübersichtlicher erscheinenden Welt werden junge Menschen heute konfrontiert.

Gleichzeitig mit dieser zunehmenden Komplexität hat in den letzten Jahrzehnten aber das Angebot klarer politischer Überzeugungen, fester traditioneller Milieus wie Kirchengemeinden oder Gewerkschaftsvereine abgenommen und das parteipolitische Angebot sich weitgehend in die Mitte, hin zu einer Konsens-Demokratie, bewegt – die GroKo ist nur das offensichtlichste Zeichen hierfür. Somit entstand eine Kluft zwischen einem weitgehenden parteipolitischen Konsens in den Parteizentralen und -ausschüssen und unterdrückten, aber sich aufbauenden politischen Problemen und hitzigen Debatten in der Gesellschaft – an den Stammtischen, in Fußballvereinen, auf den Straßen, in den Hinterhofmoscheen und vor allem: im Internet.

Angesichts dieser Situation müsste es gerade Aufgabe der Schule, genauer: des Politikunterrichts, sein, diese Kluft zu überbrücken, Orientierung zu bieten und vor allem Ort der offenen Auseinandersetzung und differenzierten sowie fundierten Meinungsbildung zu sein. Leider sieht die Realität häufig aber ganz anders aus: Nicht wenige muslimische Schüler kommen mit ihrem im Internet aufgeschnappten Halbwissen zum Nahost-Konflikt, viele sich bedroht fühlende „autochthon“ deutsche Schüler mit dem gleichen Halbwissen zur Flüchtlingskrise und alle zusammen mit Verschwörungstheorien zu Kapitalismus und Globalisierung in die Schule und treffen dort immer noch auf Lehrer, die vor allem das „institutionelle Gefüge der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich zur EU“ „durchnehmen“ oder die Schüler die Bundespräsidenten „aufzählen lassen“. Sicher: Die Vermittlung von Wissen ist ein zentraler Bildungsinhalt und es ist die Aufgabe von Lehrern, gerade auch abstrakte Wissensinhalte auf eine Art und Weise zu vermitteln, dass sie bei den Schülern ankommen. Allerdings sollte dabei gerade auch der Politikunterricht die gesellschaftliche Realität im Blick haben. Und hier muss man bei vielen Inhalten des Lehrplans konstatieren: Trockener und wirklichkeitsfremder geht’s kaum.

„Trockener und wirklichkeitsfremder geht’s kaum.“

Dieser Zustand kann allerdings nicht den Lehrern allein angekreidet werden: Allzu oft dominieren in den Lehrplänen oder im Schulalltag aufgrund der knappen Zeit immer noch (das wichtige) Faktenwissen und Institutionenlernen. Hinzu kommen Planspiele, die heute als innovative Lehr- und Lernmethoden des Politikunterrichts gelten. Aber auch hier geht es nicht darum zu lernen, was echte Politik ist, sondern um die Simulation politischer Prozesse. Dabei sollen sich die Schüler in die verschiedenen Positionen – etwa von Arbeitnehmern, Unternehmern oder auch von Flüchtlingen oder Politikern – selbst hineinversetzen, um so spielerisch politische Aushandlungsprozesse, das Konsensfinden und das Abstimmen zu erlernen.

Nicht oder kaum im Fokus hingegen steht die hinter jeder politischen Partei und politischen Institution, jedem demokratischen Prozess stehende wirkliche politische Bildung: die Politisierung, das Auseinandersetzen und Aufeinandertreffen unterschiedlicher Weltbilder, Grundüberzeugungen und Initiativen. So sollen die Schüler etwa durchaus viel über die Aufgabe und Stellung politischer Parteien in der Demokratie erfahren, aber recht wenig über die ideellen oder bisweilen auch ideologischen Hintergründe, Menschenbilder und Weltverständnisse der Parteien. Gerade junge Schüler suchen aber nach den ideellen Angeboten und Halt in dieser für sie unübersichtlichen Welt und sind interessiert an den Fragen, die sich alle politischen Denker seit jeher gestellt haben: Woher kommen wir? Wie wollen wir zusammenleben? Wie können wir die Zukunft gestalten?

Neben den eher auf demokratischen (Gesetzgebungs-)Prozessen und politischen (EU-/UN-) Institutionen statt auf die „großen Fragen“ fokussierten Inhalte des Unterrichts ist auch die Form des Unterrichts häufig wenig ansprechend. Das führt dazu, dass das Fach Politik in der Bevölkerung häufig als eines der sogenannten „Laberfächer“ belächelt wird. Angesichts des zentralen Bildungsauftrages zur Mündigkeit ein fatales Urteil. Allerdings bietet der reale Unterricht heute nur allzu oft durchaus Gründe für eine solche Abwertung: Ein Unterricht, in dem alles und nichts behauptet werden kann, alles gleichermaßen irgendwie richtig ist und sich Schüler ja nicht inhaltlich streiten sollten, um ihre Einstellungen oder ihre Persönlichkeit nicht zu verletzen. Aber auch hier sind die Lehrer nicht allein schuld, denn der Schulunterricht repräsentiert immer das jeweilige gesellschaftlich dominierende Klima. Das unserer Tage ist leider allzu häufig das der postmodernen Beliebigkeit. Die westlichen Gesellschaften und ihre Politiker trauen sich jenseits politischer Lippenbekenntnisse kaum noch, die Werte der Aufklärung und des Humanismus, vor allem die Meinungs- und Redefreiheit, hochzuhalten und konsequent zu verteidigen. Da glauben Politiker beispielsweise, mit dem bloßen Löschen von Hate Speech und Fake News die häufig dahinterstehenden verschwörungstheoretischen Ideologien gleichermaßen mitlöschen zu können, anstatt „Trolle“ inhaltlich zu stellen.

„In der Schule werden heftige Debatten über den Islam oder die Einwanderung meist vermieden.“

Dementsprechend werden auch in der Schule heftige Debatten über den Islam oder die Einwanderung meist vermieden, da man einerseits rassistische Einstellungen von „deutschen“ Schülern im Keim ersticken will und andererseits religiöse Gefühle von ihren Mitschülern aus muslimischen Familien nicht verletzen will. In beiden Motiven drückt sich ein pessimistisches und geradezu bevormundendes Menschen- und Gesellschaftsbild aus: Einerseits wird implizit vorausgesetzt, dass „deutsche“ Schüler qua Herkunft latent anfällig sind für die Verführungen populistischer oder gar rassistischer Ideologien, wenn sie die „falschen“ Meinungen hören oder austauschen. Andererseits wird bei Schülern aus muslimischen Familien ebenso implizit vorausgesetzt, dass Menschen aus diesem Kulturkreis ständig anfällig sind für das Beleidigtsein, wenn sie auf offene Kritik an ihrer Religion stoßen. Darüber hinaus wird mit einem solchen Zurückweichen vor den „wirklich wichtigen“ Themen der grundlegende Bildungsauftrag des Faches Politik langsam, aber stetig ausgehöhlt: Statt offene Meinungskonfrontation und Meinungsbildung zuzulassen, dafür aber auch das Verarbeiten anderer Argumente und Positionen von den Schülern einzufordern, werden die Themen, die die Schüler wirklich interessieren, oft entweder gar nicht behandelt, weil sie „zu heiße Eisen“ darstellen oder die jeweiligen „guten“ und „bösen“ Positionen werden zur Schau gestellt und anschließend moralisierend durch den Lehrer bewertet.

So verkommen Debatten zu aktuellen und hitzig diskutierten Themen, sofern sie überhaupt in der Schule stattfinden, meist zu vordergründigen Lippenbekenntnissen an die Toleranz und Beliebigkeit. Zu oft steht dann bereits am Anfang eines Themas beim Lehrer schon fest, welche Meinung und Position die richtige ist. Die Schüler merken dies und könnten nun unterschiedlich reagieren: Viele könnten bewusst oder unbewusst das sozial Erwartete nachreden, ohne wirkliche Grundüberzeugung. Aber gerade die „gefährdeten“ Schüler könnten im Unterricht erst recht absichtlich durch Gepöbel polarisieren und damit jede Debatte erschweren. Schließlich könnte eine weitere Schülergruppe – und das ist besonders heikel – ihre eigentliche Überzeugung verschweigen und sich dann „ideologisches Rüstzeug“ im Internet holen.

Eine fatale Entwicklung. Die Lehrer werden mit einer zunehmenden Radikalisierung – egal ob von links, rechts oder aus der islamistischen Ecke – zunehmend allein gelassen, der Rückhalt von Politik, Behörden und Gesellschaft für eine offene Auseinandersetzung fehlt leider allzu oft. Ahmad Mansour, seit Jahren engagiert in der Deradikalisierungsarbeit mit muslimischen Jugendlichen an Schulen, beklagt immer wieder die Ignoranz der Bildungspolitik und fehlende pädagogische Konzepte. Passend dazu heißt es in einer der mittlerweile durchaus vielen Broschüren gegen Radikalisierung an Schulen, dass Lehrer angesichts von Schülern, die sich das archaische Frauenbild des Salafismus zum Vorbild nehmen, „auf die vom Grundgesetz garantierte Gleichberechtigung von Mann und Frau verweisen sollen“. Es ist allerdings fraglich, ob ein so einfaches Abbügeln ausreicht und die betreffenden Schüler, derart belehrt, erleuchtet und aufgeklärt aus dem Unterricht gehen. Ähnlich unbeholfen sieht der Umgang mit Schülern aus, die sich rechtsradikale Parolen im WhatsApp-Chats geschickt haben. Nachdem ein entsprechender Fall bei einem Schüler bekannt wurde, dominierten Sanktionen: „Ein Jugendgericht verdonnerte den Buben dazu, 25 Stunden historische Literatur über die NS-Zeit zu lesen.“ Wow.

„Auch und gerade Verschwörungstheorien und Fake News müssen im Unterricht thematisiert werden.“

Aber bei auch ganz unabhängig von Radikalisierung betroffenen Schülern hat eine solche Diskussionskultur, die Verletzungen vermeiden will und offene Debatten nur sehr eingeschränkt zulässt und stattdessen auf oberflächliche Moralappelle setzt, zu dem Phänomen geführt, das heute an vielen amerikanischen, aber auch zunehmend an deutschen Universitäten als „Generation Snowflake“ (Generation Schneeflocke) bekannt ist: junge Studierende, die sich stets im Recht und auf der Seite des Guten fühlen und andere Meinungen verbieten wollen.

Wir brauchen deshalb eine politische Bildung in den Schulen, die weder Institutionenlernen noch „beliebiges Gelaber“ oder moralisierenden Unterricht in den Vordergrund stellt, sondern die offene Debatte über aktuelle politische Probleme und die hinter den jeweiligen Positionen stehenden ideellen Fundamente. Das ist keine revolutionäre Forderung, sondern sollte Grundlage aller politischen Bildung sein. So schreibt der Beutelsbacher Konsens als eine Art Grundsatzerklärung der politischen Bildung in Deutschland neben dem Überwältigungs- und Indoktrinationsverbot durch die Lehrkraft auch das Kontroversitätsgebot fest. Dieses besagt, dass alles, was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, auch im Unterricht als Kontroverse behandelt werden muss. Dieses Kontroversitätsgebot wird allerdings nicht wirklich zur Geltung gebracht, wenn bestimmte kontroverse Themen – etwa zu EU, Einwanderung, Energiepolitik – entweder gar nicht thematisiert oder aber den Schülerinnen und Schülern als eine Art „inszenierte“ Kontroverse vorgesetzt werden, bei der die richtige Position von vornherein feststeht. Erstens ist das langweilig für alle Beteiligten, zweitens kontraproduktiv gerade hinsichtlich der „problematischen“ Sichtweisen einiger Jugendlicher.

Schüler, die beispielsweise von verschwörungstheoretischem Denken – egal ob rechtsesoterisch oder neoislamistisch – im Internet beeinflusst worden sind, müssen wesentliche Thesen und Argumente auch im Unterricht vorbringen können – so weh dies auch manchmal der Lehrkraft tut. Dies bedeutet gewissermaßen sogar eine Erweiterung des Beutelsbacher Konsens insofern, als dass auch und gerade Verschwörungstheorien und Fake News im Unterricht thematisiert und nicht einfach unter Verweis auf „den“ wissenschaftlichen oder politischen Konsens abgebügelt und beiseitegeschoben werden.

„Schüler müssen mit anderen Meinungen und Argumenten konfrontiert werden.“

Das bedeutet allerdings nicht, dass der Lehrer sich nicht kritisch mit den Schülermeinungen auseinandersetzen sollte. Im Gegenteil: Aufklärung statt Relativismus muss hier die Devise lauten. Der Lehrer sollte klar mit seiner Autorität als Erwachsener, Pädagoge und Repräsentant seiner Bildungsinstitution gegen menschenverachtende Äußerungen, Falschbehauptungen, Verschwörungstheorien oder unseriöse Quellen vorgehen. Allerdings ist es klüger, dabei nicht nur auf Mahnungen und Strafen zu setzen, sondern beispielsweise diesen Schülern dann auch Rückfragen zu stellen, nachzuhaken, klare Argumentationen, überzeugende Beispiele und überprüfbare Fakten einzufordern. Der Lehrer sollte im Unterricht durchaus als politische Person wahrgenommen werden, schließlich sollte er das Politische authentisch leben und auch für die Schüler verkörpern und interessant machen. Dabei sollte er allerdings eher als eine Art Moderator und nicht Zuchtmeister des vermeintlich Richtigen verstanden werden. So merken die Schüler, vielleicht trotz bisweilen abstruser Äußerungen, dass sie grundsätzlich ernst genommen werden, dass der Lehrer an einem wirklichen Austausch interessiert ist. Dieselben Schüler müssen dann auch akzeptieren und annehmen, dass sie auch andere Texte und Autoren lesen, mit anderen Meinungen und Argumenten konfrontiert werden, andere Situationen und Positionen kennenlernen und bisweilen sogar fiktiv einnehmen müssen.

Nur so, in der argumentativen und offenen Auseinandersetzung und nicht im Tabuisieren und Unterdrücken bestimmter Meinungen, können die Stärken der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und dann auch die Funktionen sowie Mechanismen der auf dieser Grundordnung basierenden Institutionen verstanden und angenommen werden. Wer sich und anderen diese – zugegebenermaßen nicht immer leichte – Aufgabe der politischen Bildung nicht zutraut, nimmt in Kauf, dass viele Schüler im Tabuisieren bestimmter Themen oder im Zurückweichen der Schule vor bestimmten Debatten eine Schwäche sowie eine Bestätigung ihrer antiliberalen Ressentiments sehen und erst recht antidemokratischen Rattenfängern außerhalb der Schule auf den Leim gehen.

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