04.09.2019

Plädoyer für die Freiheit des Genusses

Von Ulrike Ackermann

Titelbild

Foto: PALOMA Aviles via Pexels / CC0

Lebenslust und Genusskultur gelten zunehmend als gefährlich und werden immer weiter reguliert. Dagegen sollten wir unsere Mündigkeit verteidigen

„Freiheit ist die Gesundheit der Seele“, gab uns Mitte des 18. Jahrhunderts Diderot, der französische Aufklärer, mit auf den Weg. Von diesem Motto scheinen wir uns heute weit entfernt zu haben.

Stellen wir uns eine Szene im Jahr 2020 vor: Sie gehen an einen Bahnhof, um Ihre Liebste oder Ihren Liebsten vom Zug abzuholen. Sie führen einen kleinen Korb mit sich, bestückt mit einer Flasche Champagner, die Sie gleich öffnen werden, sobald Sie die ersehnte Person in den Armen halten. Im Korb außerdem eine Schachtel Pralinés, bereits geöffnet. Bis der Zug einfährt, erlauben Sie sich, noch ein Zigarillo zu entzünden. Glauben Sie mir, innerhalb von Sekunden rufen umstehende Reisende die Bahnpolizei und Sie werden umgehend wegen Drogenkonsums in der Öffentlichkeit verhaftet: Alkohol, Tabak und obendrein noch verwerflicher Zucker! Dass muss natürlich bestraft werden! Nach dem flächendeckenden Rauchverbot wird, so vermute ich, der Alkoholkonsum auf dem Verbotsindex stehen, der Werbung für das Teufelszeug steht ja schon die Abschaffung bevor. Schon seit 2006 tüftelt der für Verbraucherschutz zuständige EU-Kommissar an seiner Anti-Alkoholstrategie. In seinem Gesetzesentwurf, den die Mitgliedsstaaten auf nationaler Ebene umsetzen sollen, werden Bier und Wein als „Rauschdrogen“ gegeißelt. Bisher ist es Brauern, Winzern und Wirtschaftspolitikern noch gelungen, den Entwurf zu entschärfen. Aber auch die Drogenbeauftragten in Deutschland verfolgen weiterhin beharrlich die angestrebte Prohibition.

Dem Gesundheitsministerium wird es, in trauter Einheit mit Verbraucherverbänden und Krankenkassen, womöglich noch gelingen, alte Filme oder Talkshows, in denen ungeniert geraucht und getrunken wurde, aus dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu verbannen, weil sie der Volksgesundheit schadeten. Auch die Sorge um übergewichtige Kinder ist längst umgeschlagen in einen Gesundheitswahn, der keinerlei Respekt mehr hat vor der privaten Lebensführung. Irgendwann wird es den Bäckereien an den Kragen gehen, weil sie mit dem Zuckergehalt ihrer feilgebotenen Waren in skandalöser Weise das dann gesetzlich vorgeschriebene Höchstmaß, das der Volksgesundheit zuträglich sein soll, überschreiten. Das Diktat des gesunden Lebens wird in volkspädagogischer Manier inzwischen gnadenlos exerziert. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Vater Staat seine Bürger wirklich für Kinder, bar jeder Eigenverantwortung, hält. Was früher harmlos Genussmittel hieß, wird heute als Droge bezeichnet, verteufelt und geahndet. Und umgekehrt steigt der Verbrauch von sogenanntem „functional food“, das weniger als Lebensmittel, erst recht nicht zur Freude und zum Genuss, sondern vielmehr als eine Art lebensverlängerndes „Medikament“ goutiert wird. Die besonders angereicherte Margarine für den Menschen ab 60, Cholesterin senkend und gedächtnisfördernd, das Trinkjoghurt für die werdende Mutter, mit wichtigen Mineralien und Spurenelementen versehen: So wird der Supermarkt allmählich zur Apotheke. Genießen ist out und stattdessen Askese angesagt: also auf ins tabakfreie, alkoholfreie und zuckerfrei gesunde Zeitalter.

Mentalitätswandel

Was waren das noch für Zeiten, als z.B. die „Kultur-Pflanze“ Tabak aus der „neuen Welt“ als „All-Heilmittel“ gepriesen wurde. So fasste Gotthold Ephraim Lessing, einer der bekanntesten deutschsprachigen Philosophen und Dichter der Aufklärungszeit, die zeitgenössische Bedeutung des Tabaks in folgende Verse: „Dich Tabak, lobt der Medikus, / Weil uns dein fleißiger Genuß / An Zahn und Augen wohl kurieret / und Schleim und Kloster von uns führet.“1

„Verzicht, Abstinenz und Mäßigung sind die neuen Tugenden, die heute gepriesen werden.“

Über die Jahrhunderte waren Genussmittel immer wieder Gegenstand des Streits in den öffentlichen Debatten über Prävention, Prohibition und Mäßigung. Gestritten wird bis heute, wie das gesunde und gute Leben auszusehen hat. Es ist im Übrigen ein hoch interessantes Forschungsfeld, welche Rolle Genussmittel als soziale und kulturelle Faktoren spielen, wie sie Lebensstile und Lebensumstände charakterisieren, welche symbolischen Bedeutungen sie haben. Genussmittel können soziale Zugehörigkeit oder Abgrenzung markieren, identitätsstiftendes Element und Bestandteil unterschiedlicher sozialer, kultureller und individueller Praxen sein. Die Diskussionen in den letzten Jahren haben sich allerdings völlig auf die Kategorien Risiko und Sucht verengt. Sie zeigen, dass wir inzwischen von einer weitreichenden Medikalisierung der Gesellschaft sprechen können.

Beunruhigend ist darüber hinaus ein schleichender Mentalitätswandel. War die Vorstellung davon, was das gute Leben ausmacht, früher stärker geprägt vom Genuss und einem positiv besetzten Hedonismus, so sind inzwischen die Ideale der Askese auf dem Vormarsch: Verzicht, Abstinenz und Mäßigung sind die neuen Tugenden, die heute gepriesen werden. Sie sollen die Verbesserung des Weltklimas, des ökologischen Gleichgewichts und natürlich die Volksgesundheit fördern.

Mit immer neuen Verordnungen, Richtlinien und Verboten wird aus Berlin und Brüssel eine Moralpolitik betrieben, die die Bürger erziehen und auf den richtigen Weg bringen will. Der ideale und glückliche Bürger hat dann sein Auto zugunsten des Klimas abgeschafft. Er verabscheut Tabak und Alkohol, Glücks- und Gewinnspiel und Zucker – all dies Teufelszeug der westlichen Dekadenz. Er verzichtet auf Fleisch, ernährt sich biodynamisch oder vegan, treibt täglich Sport, fährt naturgemäß mit dem Fahrrad zur Arbeit – und überprüft mit seinem Plastikbändchen („wearable device“) rund um die Uhr Herzfrequenz, Kalorienverbrauch und Schlaftiefe.

„Stärker als Männer sind Frauen im Rahmen der Repräsentativbefragungen dazu geneigt, ein staatliches Verbot zu fordern.“

Genussmittel werden zum gefährlichen Stoff umgedeutet und dann verteufelt und geahndet – von Tabak, über Wein und Bier bis hin zum Zucker. Drogen machen bekanntlich süchtig und müssen bekämpft werden. So geraten interessanterweise auch immer mehr nichtstoffliche Genussmittel in den Fokus: Internet, Fernsehen, Glücks-, Gewinn- und Computerspiele. Vater Staat ist nun emsig darum bemüht, die Bürger vor sich selbst zu schützen und mittels Verboten die potenziellen Selbstgefährdungen zu bekämpfen. Untergräbt er aber damit nicht gerade die Selbstverantwortung seiner Bürger und macht sie zu Kindern, die nicht selbst für sich sorgen können?

Empirie der Verbotsneigung

Doch auch die Bürger rufen nach staatlichen Verboten, die ihren Alltag regeln sollen – wie der alljährlich vom John-Stuart-Mill-Institut erhobene „Freiheitsindex“ zeigt. Unsere Frage lautete: „Einmal unabhängig davon, ob das tatsächlich verboten ist oder nicht: Was meinen Sie, was sollte der Staat in jedem Fall verbieten, wo muss der Staat die Menschen vor sich selbst schützen?“ 65 Prozent verlangen heute z.B. ein Verbot gesundheitsgefährdender, ungesunder Lebensmittel. Vor zehn Jahren forderten dies nur 54 Prozent der Bürger.

Auch die empirischen Daten zur Verbotsneigung der Deutschen im Hinblick auf den Verkauf von Tabak sind interessant. Sie stammen aus mehreren repräsentativen Bevölkerungsbefragungen, die im Rahmen des „Freiheitsindexes Deutschland“ durchgeführt wurden. Die Befragungsresultate geben empirische Anhaltspunkte für eine interessante Binnendifferenzierung der Verbotsforderung in der Bevölkerung. So antworten im Rahmen verschiedener Umfragen, bei denen in den Jahren 2011 bis 2015 jährlich ca. 1600 Personen nach einem statistisch repräsentativen Verfahren befragt wurden, zwischen 11,3 und 15,5 Prozent der Befragten, der Staat solle den Verkauf von Tabak auf jeden Fall verbieten, um die Menschen vor sich selbst zu schützen.2 Auffällig ist der für alle Untersuchungsjahrgänge feststellbare Unterschied an Zustimmung zwischen Ost- und Westdeutschland. Durchgängig tendieren die Ostdeutschen weniger zu einem Tabakverkaufsverbot, was eine höhere Akzeptanz des Tabaks vermuten lässt. Ähnliche Unterschiede sind für die Differenzierung nach dem Geschlecht zu erkennen. Stärker als Männer sind Frauen im Rahmen der Repräsentativbefragungen dazu geneigt, ein staatliches Verbot zu fordern. Auch gibt es geringfügige Unterschiede zwischen Protestanten und Katholiken. Erstere tendieren alles in allem über die fünf Erhebungszeitpunkte hinweg betrachtet eher zu einem staatlichen Verbot des Tabakverkaufs. Diejenigen Befragten übrigens, die keiner der beiden christlichen Konfessionen angehören, rufen im Vergleich dazu weniger nach einem staatlichen Verbot.

„Im relativen Vergleich fordert die Gruppe der angelernten Arbeiter am wenigsten staatliche Eingriffe beim Rauchen im Automobil.“

Die hier zur empirischen Fundierung des Themas eröffnete Liste ließe sich noch um Elemente wie die Parteipräferenz und weitere sozialstatistische Kriterien, z.B. Altersgruppen, Einkommenssituation, Berufskreise oder Schulbildung erweitern. Vergleichbare Resultate erbringt die Frage, ob der Staat das Rauchen im Auto verbieten solle, die seit 2012 zusätzlich zur Frage nach einem Verkaufsverbot von Tabak gestellt wird. Mit Blick auf dieses Szenario neigen die Westdeutschen ebenfalls stärker zum Rauchverbot als ihre ostdeutschen Landsleute – wie dies analog für die dazu interviewten Frauen im Vergleich mit den befragten Männern der Fall ist. Und mit zunehmendem Alter der Befragten wird das Rauchen im Auto, wie unsere Ergebnisse zeigen, immer weniger akzeptiert. Im relativen Vergleich fordert die Gruppe der angelernten Arbeiter am wenigsten staatliche Eingriffe beim Rauchen im Automobil. In gewisser Weise ist das auch in ähnlichen Resultaten für die nach Gehaltshöhe gestaffelten Einkunftsgruppen zu erkennen. Und Anhänger der FDP sind, zumindest was das Rauchen in einem fahrbaren Untersatz anbetrifft, signifikant liberaler als Anhänger anderer zur Auswahl gestellter Parteien. Deren Anhänger rufen bei der aufgeworfenen Frage häufiger nach einem staatlichen Eingriff in die private Lebensgestaltung bzw. können sich eine staatliche Lenkung des Sozialverhaltens mit Verboten eher vorstellen.

Geschichte des Genusses

Es gab aber auch schon ganz andere Zeiten. Ein Blick in die Geschichte der Genussmittel lohnt sich deshalb. Nicht zuletzt aus dem einfachen Grund, weil Schmecken die erste sinnliche Erfahrung des Menschen ist. Daraus entwickelt sich die Fähigkeit zur Geschmacksbildung, zur Differenzierung und Beurteilung und à la longue zur Steigerung des Geschmacks. Das heißt also, der konkrete Geschmack ist unser ursprünglichstes Urteilsvermögen. Und im Verlauf jeder Biographie, aber ebenso in der Zivilisationsgeschichte, entwickeln und verändern sich der Geschmack und die menschliche Genusserfahrung – und natürlich die Bewertung dessen, was man genießen will oder eben gerade nicht.

Noch im 11. Jahrhundert war der Pfeffer der König unter den Gewürzen. Hinzu kamen dann Zimt, Nelken, Muskatblüte und Ingwer, begleitet von orientalischen Luxuswaren wie Samt, Seide, Damast, Sofas und Baldachine. Die Verknappung des Pfeffers war dann der Anlass für große kulturelle und ökonomische Umwälzungen. Die Suche nach neuen Handelswegen begann. Mit den Kolonien und den Kolonialwaren kamen im 17. Jahrhundert neue Geschmacks- und Genussstoffe auf: Kakao, Kaffee, Tee, und später Schokolade und Zucker. Im Osmanischen Reich war, schon lange bevor Kolumbus auf die Karibischen Inseln stieß, der Kaffee ein Volksgetränk. Ende des 16. Jahrhunderts lernten ihn die italienischen Konsumenten in Venedig kennen. Denn die Europäer hatten in ihren Kolonien begonnen, den Kaffee selbst anzubauen. In der medizinischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts wurde der Kaffee als Allheilmittel gepriesen. Im Zeitalter der Aufklärung und Vernunft wurde der Kaffee dann zum Getränk des Bürgers. Er sorgte für Nüchternheit und Ernüchterung gegenüber dem Rausch des Alkohols, der der Geschäftstüchtigkeit des Bürgers abträglich war. Noch im Mittelalter waren die Zecherei im Wirtschaftshaus, die Rituale des Wetttrinkens von Wein und Bier oder die Biersuppe zum Frühstück ganz alltäglich und allseits beliebt. Doch mit der Reformation entwickelte sich allmählich eine neue Mäßigungsbewegung gegen Völlerei und Trunkenheit. Mittelalterliche Lebensfreude und protestantische Ethik mischten sich noch. Man erinnere sich: Martin Luther wetterte gegen die „Saufteufel“ und lobpries zugleich „Wein, Weib und Gesang“. Nüchternheit, Vernunft und Selbstkontrolle setzten sich mit der beginnenden Aufklärung als zentrale gesellschaftliche Tugenden durch.

„Die Demokraten waren erfolgreich: Mit der Revolution von 1848 fiel in Preußen das Rauchverbot in der Öffentlichkeit.“

Im Zeitalter der Protestantischen Ethik, der Vernunft und der bürgerlichen Emanzipation wurde der Kaffee gleichsam zur Produktivkraft. Man trank ihn vor allem in den entstehenden Kaffeehäusern. Zug um Zug entwickelten sie sich zu kommerziellen und journalistischen Kommunikationszentren, in denen beim Kaffeegenuss die Ideen für die Gründung von Zeitungen entstanden. Das Kaffeehaus wurde der Ort der bürgerlichen Öffentlichkeit, an dem sich das aufgeklärte, nach Freiheit strebende Bürgertum versammelte. Die öffentlich-heroische Phase des Kaffees ging einher mit dem Aufbruch in die Freiheit. Die Verfeinerung des Kaffee-, Tee- und Kakaogenusses verdankte sich einer immensen Steigerung der Produktion des raffinierten Zuckers in den Kolonien Haiti, Guadeloupe und Martinique. Im 18. Jahrhundert explodierte der Zuckerkonsum. Vom Luxusgewürz wandelte sich der Zucker in ein alltägliches Lebensmittel für breitere Bevölkerungsschichten und versüßte die heißen Genussgetränke. Die Konfekt- und Süßigkeitsherstellung hatte dann Ende des 18. Jahrhunderts ihren ersten Höhepunkt. Während sich der Kaffee eher zum protestantisch-nördlichen Getränk mauserte, war dafür der Kakao in katholisch-südlichen Gefilden beliebter. Schokolade wurde mit Erotik in Verbindung gebracht und Kaffee galt eher als antierotisches Getränk.

Ähnlich wie der Kaffee wurde übrigens auch der Tabak, als er in Europa Einzug hielt, als ein die Lebensqualität bereicherndes medizinisches Produkt gehandelt. Kolumbus war auf seiner ersten Amerikareise auf den Tabak gestoßen. Ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde er auch in Europa angebaut. Rauchen, so damals die allgemeine Einschätzung, unterstütze die geistige Arbeit, fördere die Konzentration und Besinnlichkeit, ganz im Dienste der Vernunft. Gerade in Verbindung mit dem Kaffeegenuss, der stimulierend den Geist anrege, sorge der Tabak ergänzend für Beruhigung und Entspannung. Und beide Genussmittel wurden fortan als überaus förderlich für die zunehmende geistige Arbeit in der bürgerlichen Gesellschaft angesehen.

Im 17. und 18. Jahrhundert genoss man den Tabak in der Pfeife, am Beginn des 19. Jahrhunderts kam die Zigarre hinzu und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die ersten Zigaretten geraucht. Das Rauchen in der Öffentlichkeit zählte übrigens zu den ausdrücklichen Forderungen der Demokraten des Vormärz. Bis dahin witterte die Obrigkeit in jedem öffentlich rauchenden Bürger einen aufmüpfigen Freiheitskämpfer, der die alte Ordnung untergraben wolle. Die Demokraten waren erfolgreich: Mit der Revolution von 1848 fiel in Preußen das Rauchverbot in der Öffentlichkeit. Dass auch einige Frauen sich erlaubten zu rauchen, empörte die Zeitgenossen allerdings gewaltig. In einem Zeitungsartikel hieß es damals:

„Die Frauen-Emanzipation schreitet in Deutschland, vorzüglich aber in Berlin, der intelligentesten Stadt Deutschlands, auf eine merkwürdige Weise vorwärts. Sie hat die überraschendsten Resultate. In den dortigen glänzenden Zirkeln sprechen Mädchen von 19 und 20 Jahren mit einer Sicherheit über Philosophen und Kammer- und Durchsuchungsgesetze, die ans Fabelhafte grenzt. Viele dieser Miniatur-George-Sands [George Sand war die Geliebte von Frederik Chopin, U.A.] verschmähen schon jetzt die Zigarre nicht; neulich kam es sogar vor, dass eine elegante Dame einen Herren mit brennender Zigarre auf offener Straße anhielt, um die ihrige anzuzünden. […] Wie lange wird’s noch dauern, so legen sie Hosen an, treiben die Männer mit der Reitpeitsche durch die Küche und säugen ihre Kinder zu Pferde! Kleinigkeit für Emanzipierte! Ein öffentliches Damen-Kaffeehaus wird schon eingerichtet, dort sollen zugleich Debatten über das Verhältnis der Frauen losgelassen, dabei Zigarrchen geraucht, die neuesten Journale gelesen, genug – ein Herrenleben geführt werden. Wie sich die Berliner Ehemänner freuen werden, wenn sie ihre liebenden Weiber mit brennender Zigarre an die Brust drücken! Auf jeden Fall – pfui Teufel!“3

Geschmack und Lebenslust verteidigen

Wie dieser kleine Ritt durch die Geschichte gezeigt hat, haben sich die Ess-, Trink- und Rauchgewohnheiten und die Geschmäcker über die Jahrhunderte immer wieder verändert. Sie unterlagen wechselnden gesellschaftlichen Normen und sozialen Regelwerken. Markt und Wettbewerb haben das Angebot der Lebens- und Genussmittel erweitert und demokratisiert – indem Genussmittel, die vormals nur von den Oberschichten goutiert wurden, in immer breitere Bevölkerungskreise Eingang fanden. Diese Entwicklung ging einher mit einer Individualisierung des Geschmacks und der Ess- und Trinkgewohnheiten und zugleich einer Pluralisierung und Verfeinerung des Geschmacks. Wir können auf eine erfolgreiche Geschichte der Kultivierung des Appetits zurückschauen, aus der eine weitverzweigte Geschmackshierarchie entstanden ist. Doch immer sind mit den Objekten des Geschmacks und des Genusses soziale Wertungen verbunden, die sich im Verlauf unserer Geschichte wandeln: ob ein Genussmittel als Speise, als Getränk, als Medikament, als Gift, Droge oder Diät bezeichnet wird.

„Für die Herausbildung des Geschmacks ist die Freiheit die grundlegende Voraussetzung.“

Als die Genussmittel im 17. Jahrhundert ihren Einzug in Europa hielten, waren sie neu und unbekannt, zuweilen auch kontrovers. Im Laufe des 18. Jahrhunderts setzten sie sich durch und immer breitere Kreise hatten ihren Lustgewinn daran. Die Gewöhnung setzte ein. Doch schon bald folgte die Domestizierung in Gestalt der Besteuerung. Der Staat schickte sich nun wie ein Vater an, die Genüsse seiner Bürger fortan lenken zu wollen – zu ihrem Besten, versteht sich. Gegenüber diesem staatlichen Paternalismus hat der englische Ökonom und Philosoph John Stuart Mill in seinem Meisterwerk „On Liberty“ 1859 die individuelle Freiheit und Selbstbestimmung der Bürger stark gemacht. Das eigentliche Gebiet der menschlichen Freiheit umfasst für Mill „erstens das innerliche Reich des Bewusstseins und begründet so die Forderung nach Gewissensfreiheit im umfassendsten Sinne, Freiheit des Denkens und des Fühlens, unbedingte Freiheit der Gesinnung und des Urteils in allen Angelegenheiten praktischer, philosophischer, wissenschaftlicher, sittlicher und theologischer Art. […] Zweitens verlangt dieser Grundsatz die Freiheit des Geschmacks und der Beschäftigungen; das Recht, den Lebensplan so zu gestalten, dass er unserem Charakter entspricht, und zu tun, was wir wollen – in Erwartung der Folgen, die uns treffen mögen, ohne hierbei irgendwelche Behinderung von unseren Mitmenschen zu erfahren, solange unser Tun ihnen keinen Schaden zufügt, auch wenn sie unser Benehmen für töricht, pervers oder falsch halten sollten.“4

Für die Herausbildung des Geschmacks – das hat unsere Zivilisationsgeschichte gezeigt – ist die Freiheit die grundlegende Voraussetzung, ebenso wie für die Bildung zur Persönlichkeit. Mit seiner sinnlichen Wahrnehmung, angetrieben von Neugierde, Entdeckungslust und Erfahrungshunger, erwirbt das Individuum die Fähigkeit zu genießen, seine Genussfähigkeit sukzessive zu steigern und zu kultivieren. Die Freiheit der Wahl, sich zwischen verschiedenen Optionen und der Vielfalt der Angebote entscheiden zu können, ist dafür ebenso unabdingbare Voraussetzung. Damit erst können sich Urteilskraft und die Unterscheidung von Geschmacksnuancen entwickeln. Genussfähigkeit, Lust und ihre Befriedigung und damit Wohlbefinden sind die Voraussetzungen für ein glückliches Leben und zugleich Antriebskräfte unseres zivilisatorischen Fortschritts. Es sind alles Elemente des Eros der Freiheit. Niemand ist im Übrigen gezwungen zu genießen, aber jeder hat die Freiheit, es zu tun. Sinnlichkeit ist eine zentrale Komponente unserer Person – nicht nur die Vernunft, das Maßhalten und die Selbstkontrolle. Und die Balance zwischen der Hingabe an den Genuss und der Kontrolle des Genusses liegt in der Hand und in der Verantwortung jedes Einzelnen. Das macht gerade die individuelle Freiheit aus. Sie auszuschöpfen, setzt ein Vorstellungsvermögen und ein Bewusstsein von Freiheit voraus. Das heißt letztlich Lebenskunst, das heißt „savoir vivre“.

„Freiheit heißt auch Lebenslust und das wiederum ist zugleich die Lust auf Freiheit!“

Der größte Schatz unserer Zivilisationsgeschichte ist die individuelle Freiheit. Jeder und jede kann sie auf ureigenste Weise nutzen und den unterschiedlichsten Genüssen frönen. Ob als Foie-gras-Liebhaber oder Currywurst-Fan, Darjeeling-Liebhaberin oder Espresso-Süchtiger, Gummibärchen-Spezialist oder Gemüse-Freak, Pfeifen- oder Zigarettenraucher oder Zigarillo-Genießerin. Der Pluralismus der Geschmäcker diskriminiert heute den Pils-Liebhaber nicht mehr gegenüber der Riesling-Trinkerin. Jeder kann auf seine Weise glücklich werden. Die westliche Zivilisation hat in Gestalt der offenen Gesellschaft im Prinzip die Freiheit dafür geschaffen. Und die sollten wir uns eigentlich von keinem nehmen lassen. Die Wertschätzung und Zulässigkeit des Tabakkonsums ist dabei leider Zug um Zug zumindest im öffentlichen Raum unter die Räder geraten. Mit dem Hinweis auf mögliche tödliche Folgen unterliegt dieser Genuss inzwischen fast einem Totalverbot. Was letztlich eine höchst gravierende Einschränkung der individuellen Freiheit eines jeden Einzelnen bedeutet.

Doch Maßhalten und Selbstkontrolle, eben die Balance zwischen der Hingabe an den Genuss und der Kontrolle des Genusses sind erstrebenswerte Fähigkeiten, die sich kaum über Verbote aneignen lassen. Sie können sich nur in Freiheit entfalten und sich als Kunst des guten Lebens allmählich entwickeln. Das Gegenteil von staatlichem Paternalismus ist Selbstverantwortung, Eigeninitiative und Selbstsorge, aus denen neues Selbstvertrauen und damit neue Lebensqualität der Bürger erwachsen können. Das ist genau der zuweilen mühselige Weg zur Mündigkeit. Um unsere Freiheiten zu schützen und auszubauen, muss man sich allerdings vehement für sie einsetzen, um sie streiten und sie immer wieder neu verteidigen. Und das, was wir einmal an Freiheitlichkeit und Freizügigkeit erreicht haben, sollten wir uns nicht nehmen lassen. Denn Freiheit heißt auch Lebenslust und das wiederum ist zugleich die Lust auf Freiheit!

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