28.04.2015

Geradewegs in die Gesundheitsdiktatur?

Analyse von Günter Ropohl

Heute wird der Mensch immer häufiger als krank, mangelbehaftet und lenkungsbedürftig beschrieben. Der Autor hebt hervor, dass vielfältige politische und gesellschaftliche Tendenzen wie Medikalisierung und Sanitarismus die Freiheit im Namen der Gesundheit beschränken

Eine gewaltige Gesundheitsbewegung ist aufgekommen, die man, weil übersteigert, ideologisch und paternalistisch, wohl als Sanitarismus bezeichnen muss. Der Sanitarismus äußert sich vor allem in drei Tendenzen. Da ist erstens die Medikalisierung der Gesellschaft, die Tendenz, die Menge behandlungsbedürftiger Krankheiten über die Massen zu erweitern. Zweitens gibt es eine zunehmende Diskussion über die medizintechnische Verbesserung der menschlichen Leistungsfähigkeit („human enhancement“). Drittens schließlich nimmt eine Gesundheitspolitik überhand, die darauf aus ist, alle nur denkbaren, besonders auch die lebensstilbedingten Gesundheitsrisiken mit mehr oder minder sanftem Zwang zu beseitigen („public health“).

Medikalisierung

Gesund ist, wer keine Beschwerden hat, hieß es früher. Gesund ist, wer noch nicht gründlich genug untersucht worden ist, sagen heute böse Zungen. Scherz beiseite: Dank der Fortschritte in der medizinischen Technik haben sich die Untersuchungsmöglichkeiten außerordentlich verbessert. Doch wie bei den meisten menschlichen Fortschritten kommt es, neben dem vermutlich überwiegend guten Gebrauch, auch hier zu missbräuchlichen Entartungen, deren Umfang nicht so ohne weiteres abzuschätzen ist. Beispielhaft will ich das an der Labordiagnostik zeigen. Da werden bestimmte Inhaltsstoffe im menschlichen Blut gemessen, die nur in sehr kleinen Anteilen vorkommen, so z.B. der Zuckergehalt oder der Anteil der beiden Cholesterinarten. Für jeden Messwert werden eine untere und eine obere Grenze festgelegt. Über- oder unterschreiten die gemessenen Werte diese Grenzen, sieht man darin das Symptom für eine Erkrankung oder zumindest für ein Erkrankungsrisiko. Diese Unterscheidung ist wichtig: Ein abnorm hoher Blutzuckerwert stellt wohl tatsächlich eine Erkrankung dar, während ungewöhnliche Cholesterinwerte lediglich auf ein Risiko hindeuten.

Bekannt ist das Auf und Ab der Cholesterindebatte. Cholesterin ist ein Bestandteil der Körperzellen und kann im Blut nachgewiesen werden. Cholesterin wird teils vom Körper selbst erzeugt und teils von bestimmten Nahrungsmitteln beeinflusst. Es steht immer noch in Verdacht, jenseits gewisser Grenzwerte Herzerkrankungen auszulösen. Der Pauschalverdacht wurde relativiert, als sich herausstellte, dass es zwei Arten von Cholesterin gibt, von denen nur die eine Art schädlich, die andere hingegen nützlich sein soll. Gleichwohl ist es für den Hausarzt immer noch ein Alarmzeichen, wenn beim Patienten das „schädliche“ Cholesterin einen Grenzwert deutlich überschreitet, der natürlich von der allmächtigen Weltgesundheitsorganisation (WHO) festgelegt worden ist.

„Eine einseitige medizinische Lehrmeinung gewinnt die Deutungshoheit, obwohl ihr zahlreiche Kritiker mit begründeten Einwänden entgegentreten“

Für diesen nicht eben seltenen Fall hält die pharmazeutische Industrie Cholesterinsenker bereit, mit denen sie Milliardenumsätze macht, auch wenn der Nutzeffekt durchaus umstritten ist und wenn sogar zusätzliche Krebsrisiken vermutet werden. Dieses Geschäft würde zusammenbrechen, wenn sich solche Experten durchsetzen würden, die jene Grenzwerte für unerheblich halten. Die Betroffenen aber, die sich durchaus gesund fühlen, werden aufgrund eines problematischen Messwertes zu „Kranken“ erklärt, die ihre Ernährungsgewohnheiten umstellen und täglich ihre Pillen nehmen sollen. Die Cholesterindebatte ist ein herausragendes Beispiel dafür, wie eine einseitige medizinische Lehrmeinung die Deutungshoheit gewinnen kann, obwohl ihr zahlreiche Kritiker mit begründeten Einwänden entgegengetreten sind. [1] Die Parallele zur Hypothese der Tabakforschung, „Passivrauchen“ bedrohe die Gesundheit, [2] liegt auf der Hand.

In der Medizin ist ein mechanistisches Modell vorherrschend, das die Erkrankung mit einer einzelnen Ursache erklärt. [3] So verfährt man dann auch nicht selten in der Labordiagnostik, wenn eine bestimmte Blutwertabweichung kurzerhand als Krankheitsgrund angenommen wird, obwohl in Wirklichkeit eine Reihe anderer unerkannter Faktoren eine grössere Rolle spielen könnten. Blutanalysen werden regelmäßig bei den Vorsorgeuntersuchungen durchgeführt, die allen Menschen ab dem mittleren Lebensalter empfohlen werden. Gewiss sind dadurch viele Erkrankungen in einem frühen Stadium entdeckt worden, in dem sie meist leicht zu kurieren sind. Andererseits sind aber Vorsorgeuntersuchungen auch ein Ausdruck der Medikalisierung. Ging man früher nur zum Arzt, wenn man Beschwerden hatte, drängt heute die Präventionsmedizin auch die Gesunden zum regelmäßigen Arztbesuch, anders gesagt, sie kennt überhaupt keine Gesunden mehr, sondern nur noch krankheitsbedrohte Patienten: Der zeitweilig noch Gesunde wird dann zur irritierenden Ausnahme.

So verbreitet sich eine Atmosphäre der fortwährenden Angst vor der Krankheit, die natürlich sanitaristische Tendenzen fördert – ganz zu schweigen von irrtümlichen Scheindiagnosen, die wohl auch immer wieder vorkommen und die Betroffenen völlig unnötigerweise beunruhigen. Das soll kein grundsätzliches Argument gegen Vorsorgeuntersuchungen sein, deutet aber doch ein gesundheitspolitisches Problem an. Dieses Problem würde sich noch verschärfen, wenn demnächst auch Gentests reihenweise ausgeführt würden, mit denen Menschen von erbbedingten Krankheitsrisiken erfahren müssten, die, wenn überhaupt, womöglich erst Jahrzehnte später akut werden. Es hat wohl gute Gründe, wenn bislang davon abgesehen wurde, derartige Untersuchungen zur Pflicht zu machen.

Heute neigen allerdings viele Menschen dazu, bereits vorübergehende leichte Unpässlichkeiten, sei es eine kleine Magenverstimmung, sei es momentane Erschöpfung aufgrund kurzfristiger Arbeitsüberlastung, gleich als behandlungsbedürftige Krankheit zu deuten. Auch Schwangerschaft und Geburt, von Komplikationen abgesehen eigentlich im Allgemeinen der natürlichste Vorgang der Welt, werden mehr und mehr in ärztliche Obhut gelegt, so als bedürfte eine normale Funktion des weiblichen Körpers unbedingt der medizinischen Intervention. Überdies bemächtigt sich die Medikalisierung mehr und mehr auch psychischer Unregelmässigkeiten. So gilt tiefe Traurigkeit, die nach einem schweren menschlichen Verlust auftreten kann, inzwischen bereits nach wenigen Wochen als therapiebedürftige „reaktive Depression“, während man früher darin ein durchaus normales Ringen mit verletzten Gefühlen gesehen hatte, das üblicherweise nach wenigen Monaten zu einem neuen psychischen Gleichgewicht führt.

„Der Mensch als ‚Mängelwesen‘ soll in seinen Fähigkeiten mit biotechnischen Eingriffen körperlich und geistig entscheidend verbessert werden“

Die „Helfer“ sind eben immer und überall, und sie erfinden stets neue Anlässe, um ihre scheinbare Unentbehrlichkeit ins Feld führen zu können. War Gesundheit früher eine Angelegenheit alltagsweltlichen Erlebens, wird sie mehr und mehr zum Vorwand für expertokratische Betreuung und Bevormundung.

Mängelwesen Mensch?

In der Anthropologie gibt es die Vorstellung, der Mensch sei ein „Mängelwesen“, das von Natur aus nur unzureichend ausgestattet sei und sich darum in Form der Technik eine „zweite Natur“ schaffen müsse. [4] Diese Auffassung ist zwar immer wieder mit der Gegenthese kritisiert worden, in Wirklichkeit sei der Mensch das vielseitigste Lebewesen, das es gibt. [5] Doch seit einiger Zeit feiert sie fröhliche Urständ‘ in einer „transhumanistischen“ Bewegung, die das Programm des „human enhancement“ verfolgt, der „Steigerung des Menschen“. Das „Mängelwesen“ soll in seinen Fähigkeiten mit biotechnischen Eingriffen körperlich und geistig entscheidend verbessert werden. [6] Vorbild sind in gewisser Weise die im Leistungssport zwar formell geächteten, informell aber verbreiteten Methoden des Doping, mit denen Athleten durch Einnahme bestimmter Substanzen ihre körperlichen Fähigkeiten künstlich steigern und sonst kaum denkbare Rekorde erzielen.

Dieses Prinzip soll nun nach den Zukunftsvisionen der Transhumanisten auf alle Dimensionen des menschlichen Lebens übertragen werden und dafür die verschiedensten, teilweise schon vorhandenen, teilweise aber mit kühner Fantasie in die Zukunft projizierten technischen Eingriffsmöglichkeiten nutzen. Durch gentechnische Veränderungen und pharmazeutische Mittel sollen organische Schwächen von Körper und Gehirn behoben und natürliche Alterungsvorgänge verlangsamt oder gar aufgehalten werden. Mit kosmetischer Chirurgie soll jeder ein Aussehen nach Wunsch erhalten. Psychopharmaka sollen für maximale Gedächtnis- und Denkleistungen, für fortgesetzte Wohlgestimmtheit und Spannungslosigkeit sowie für aggressionsfreie Anpassung an die Erwartungen der gesellschaftlichen Umgebung sorgen. Ins Gehirn implantierte mikroelektronische Speicher und Prozessoren sollen Wissen und Denken unterstützen und in direkter Kopplung mit externen Datenverarbeitungsgeräten potenzieren. Manche Utopisten erwarten gar, diese „künstliche Intelligenz“ werde den „unvollkommenen“ Menschen derart überbieten, dass sie sich als höherstufige „Lebensform“ erweise, die den Homo sapiens schliesslich zu einer überholten Zwischenform der Evolution degradiere.

Ganz gleich, wie unrealistisch derartige Fiktionen tatsächlich sein mögen, sie werden vor allem im „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ mit grossem Eifer diskutiert. Ob man darin die grössere Zukunftsfähigkeit oder die grössere Naivität der Amerikaner sehen will, lasse ich hier offen. Eines jedoch ist gewiss: In den transhumanistischen Visionen findet das utopische Gesundheitsbild der Weltgesundheitsorganisation ihre endgültige Erfüllung. Dann wäre „der Zustand des vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens“ [7] in der Tat erreicht. Ob wir, die wir einer „alteuropäisch“-humanistischen Tradition anhängen, in solchen Gesundheitsmaschinen noch wirkliche Menschen sehen könnten, steht auf einem anderen Blatt. Doch es besteht die Gefahr, dass die transhumanistische Gesundheitsvorstellung zur herrschenden Norm werden könnte, der sich alle zu unterwerfen haben, die nicht als Außenseiter gelten wollen. Das wäre dann eine besonders intrikate Form der Gesundheitsdiktatur.

Gesundheitspolizey

Schliesslich muss ich auf eine Strömung eingehen, die unter dem, natürlich englischsprachigen, Etikett „Public Health“ firmiert. Sinngemäss müsste man das mit „Gesundheit der Bevölkerung (bzw. Allgemeinheit)“ übersetzen, denn wer „Volksgesundheit“ sagt, vergisst, dass dafür im Nationalsozialismus wenig menschenwürdige Auslegungen verbreitet waren. So betrachtete man behinderte Menschen als „unwertes Leben“ und als Gefahr für die „Volksgesundheit“. Auch schloss die „Volksgesundheit“ die so genannte „Rassenhygiene“ ein, die den „arischen“ Deutschen vor den Einflüssen „fremder Rassen“ schützen sollte. Man sieht: Wer sich ein wenig Geschichtsbewusstsein bewahrt hat, sollte schon darum mit dem Wort „Volksgesundheit“ sehr zurückhaltend umgehen, zumal gewisse neuere Tendenzen von „Public Health“ totalitären Übergriffen bedenklich nahekommen. Darum könnte man das Wort, in Anlehnung an eine Redeweise aus dem 18. Jahrhundert, fast schon als „Gesundheitspolizey“ übersetzen. [8]

Ungenau, wie der angelsächsische Sprachgebrauch häufig ist, bedeutet „Public Health“ aber nicht nur die wirkliche Erscheinung, also die Gesundheit der Bevölkerung, sondern auch deren wissenschaftliche Erforschung, also das, was im Deutschen „Epidemiologie und Sozialmedizin“ heißt. Eigentlich sollten die wissenschaftlichen Schwierigkeiten der Epidemiologie inzwischen allgemein bekannt sein. [9] Hier geht es mir nun darum, dass die Verbindung von Theorie und Praxis, die in der Medizin verbreitet und meist auch sinnvoll ist, die Epidemiologie besonders belasten kann, wenn Gesundheitsforschung unter der Hand in Gesundheitspolitik umschlägt, eine Gesundheitspolitik, die sich häufig auch als Gesellschaftspolitik erweist und dabei die gesellschaftlichen Grundwerte der Freiheit und Gerechtigkeit zu reflektieren hätte.

Ein einfaches Beispiel: Epidemiologisch wird festgestellt, dass sich jeden Winter die Grippeerkrankungen häufen und dass Personen, die sich rechtzeitig dagegen haben impfen lassen, deutlich seltener daran erkranken als andere. Der erste Teil dieser Feststellung ist beschreibende Statistik, die, zuverlässige Datenerhebung vorausgesetzt, als wissenschaftlicher Befund gelten kann. Beim zweiten Teil wird es dagegen schwieriger, da dieser Aussage keine Gesamterhebung, sondern lediglich die Untersuchung von Stichproben zugrunde liegt, in die sich etliche Fehlerquellen einschleichen können. Aber selbst wenn solche Fehlerquellen auszuschließen wären, könnte man lediglich sagen, dass der Verzicht auf eine Impfung mit einem zusätzlichen Erkrankungsrisiko verbunden wäre. Es hieße aber natürlich nicht, dass die Erkrankung ohne Impfung grundsätzlich eintreten und mit Impfung immer zu vermeiden wäre. Das Einzige, was man dem Publikum sagen darf, ist die Wahrheit, dass Menschen aufgrund der Impfung mit etwas größerer Wahrscheinlichkeit von der Grippe verschont blieben.

„Dem Einzelnen muss grundsätzlich die Freiheit eingeräumt werden, sich ‚risikoscheu‘ oder ‚risikofreudig‘ zu entscheiden“

Für den einzelnen Menschen aber ist eine solche Wahrscheinlichkeitsaussage kaum verbindlich, da er nicht wissen kann, ob sie ihn persönlich betreffen wird. Dem Einzelnen muss grundsätzlich die Freiheit eingeräumt werden, sich „risikoscheu“ oder „risikofreudig“ zu entscheiden; Einschränkungen kommen allenfalls bei dramatischen Epidemien mit der Gefahr sehr vieler Todesopfer in Betracht. Manche Gesundheitspolitiker sehen das allerdings anders: Eine Verringerung der Erkrankungszahlen ist grundsätzlich ein Wert, sagen sie, und darum muss man die Impfung von Staats wegen durchsetzen. Da zeigt sich der Wertkonflikt zwischen Freiheit und Gesundheit. Aber dürfen Gesundheitspolitiker wirklich um der Gesundheit willen den Wert der persönlichen Freiheit hintanstellen? Das ist die Kernfrage, der man in einem liberalen Rechtsstaat nicht ausweichen darf. Bejaht man sie, begibt man sich im Grunde auf den Weg zur Gesundheitsdiktatur.

Dieser Tendenz folgen beispielsweise die Rauchverbote. Entgegen der öffentlichen Propaganda sind sie nämlich nicht eingeführt worden, um Nichtraucher vor dem angeblich so gefährlichen Tabakrauch zu schützen, sondern, wie es im deutschen „Gesetz zu dem Rahmenübereinkommen der Weltgesundheitsorganisation“ ausdrücklich heißt, „zur Eindämmung des Tabakgebrauchs“. [10] Die Weltgesundheitsorganisation hat den Tabakgebrauch als „Epidemie“, also als Krankheit, definiert und verpflichtet die Gesundheitspolitik aller Staaten darauf, mit Zwangsmitteln diese „krankhafte“ Gewohnheit weitestmöglich zu unterdrücken. Die Freiheit eines persönlichen Lebensstils wird damit drastisch beschränkt.

Die Rauchverbote sollen den Tabakgenuss so ungemütlich und beschwerlich machen, dass die rauchenden Menschen die Freude daran verlieren und schließlich nolens volens davon ablassen. Man nötigt damit überdies ein Heer von Menschen zum eigentlich ungewollten Verzicht, und deren Unzufriedenheit wird dann zum fruchtbaren Nährboden für weitere Tabakbekämpfung: Was ich mir versagen muss, gönne ich den anderen auch nicht mehr. Nicht um das Wohlbefinden von nichtrauchenden Menschen geht es also, sondern um die gezielte Ausrottung des Rauchens, weil daran ein kleiner Teil der Raucher erkranken und möglicherweise früher sterben kann. Statt den Menschen die Freiheit zu lassen, ob sie dieses allgemein bekannte Risiko eingehen wollen oder nicht, soll eine Jahrhunderte alte Alltagskultur einfach ausradiert werden. Die Gesundheitspolitiker der WHO wollen die „Suchtabhängigen“ zu ihrem eigenen Heil zwingen, [11] und landauf landab haben sie dafür willige Helfer gefunden. Das ist nichts anderes als Diktatur im Namen der Gesundheit!

Prävention als Bevormundung

Epidemiologen hingegen haben dafür ein theoretisches Konzept entwickelt, dass zunächst recht unschuldig klingt. Sie unterscheiden in der präventiven Gesundheitspolitik zwischen einem „Hochrisiko-Ansatz“ und einem „Bevölkerungs-Ansatz“; [12] im Deutschen spricht man auch von „Verhaltensprävention“ beziehungsweise „Verhältnisprävention“. [13] Der erstgenannte herkömmliche Ansatz zielt auf einzelne Menschen, die erkennbar unter einem besonders hohen Erkrankungsrisiko leiden. Man konzentriert sich im Tabakbeispiel auf Raucher, die bereits deutliche Symptome einer „tabakassoziierten“ Krankheit aufweisen und bemüht sich, diese Personen von ihrer Gewohnheit abzubringen, die für sie offenbar mit einem besonderen Risiko verbunden ist.

Der Bevölkerungsansatz beziehungsweise die Verhältnisprävention dagegen ist genau das, was die Tabakbekämpfung inzwischen betreibt: Um für alle Menschen das Risiko einer „tabakassoziierten“ Erkrankung zu beseitigen, krempelt man die gesellschaftlichen Verhältnisse derart um, dass die Raucher von der Bildfläche verschwinden. Nur die naivsten Zeitgenossen, ob Raucher oder Nichtraucher, können doch noch daran glauben, Rauchverbote auf Straßen, in Parks oder am Strand wären dazu da, die Nichtraucher vor dem „Passivrauchen“ zu schützen. Es geht vielmehr darum, den Tabakgenuss vollends auszumerzen, auf dass wir die „Endlösung“ der WHO, die „tabaklose Welt“, erreichen. Da wird es dann natürlich immer noch die üblichen Krankheiten geben, aber die sind dann wenigstens nicht mehr „tabakassoziiert“.

„Jeder, der einen in irgendeiner Hinsicht ‚gefährlichen‘ Lebensstil pflegt, muss damit rechnen, demnächst zum Opfer einer ‚Verhältnisprävention‘ zu werden“

Nun sollten aber auch Menschen, die mit dem Tabak gar nichts zu tun haben, diese Tendenz in der Gesundheitspolitik sehr ernst nehmen. Jeder, der einen in irgendeiner Hinsicht „gefährlichen“ Lebensstil pflegt, muss damit rechnen, demnächst zum Opfer einer „Verhältnisprävention“ zu werden. Längst sind die Freunde alkoholischer Getränke ins Visier geraten, und die sollen von den „Suchtexperten“ mit derselben Logik traktiert werden. Bloß gut 2 Prozent der Bevölkerung sind alkoholabhängig, weiteren 3 Prozent wird Alkoholmissbrauch zugeschrieben. [14] Die Verhaltensprävention würde sich darauf beschränken, diesen knapp 6 Prozent der Menschen dabei zu helfen, ihre Alkoholabhängigkeit zu überwinden. Die Anhänger der Verhältnisprävention hingegen wollen der gesamten Bevölkerung den Zugang zu alkoholischen Getränken drastisch erschweren. Im Englischen hat man dafür die hübsche Devise erfunden, „to denormalize drinking“, also den Alkoholkonsum zu „denormalisieren“, d.h. als normwidrig anzuprangern.

Die Maßnahmen, die man dafür ins Auge fasst, sind aus der Tabakbekämpfung bekannt (die übrigens nicht selten als Vorbild genannt wird): Ausschankverbote, Verkaufsverbote, Trinkverbote an öffentlichen Orten, Werbeverbote, Entstellung der Flaschenetiketten, soziale Ächtung trinkfreudiger Menschen usw. Weil eine kleine Minderheit durch Alkoholkonsum ernsthaft gefährdet ist, soll die gesamte Bevölkerung zu weitgehendem Verzicht gezwungen werden. „Alle effektiven alkoholpolitischen Massnahmen erfordern die Einschränkung des Freiheitsspielraums der Mehrheit der Bevölkerung zugunsten einer Minderheit“, sagen die Suchtbekämpfer mit provokanter Offenheit. [15] Warum wiederholen sie nicht gleich den Spruch, der im „Dritten Reich“ geläufig war: „Du bist nichts, dein Volk ist alles“? Denn was wollen sie anderes als eine totalitäre Gesundheitsdiktatur?

Als dritte gefährdete Bevölkerungsgruppe stehen die Dickleibigen auf der Tagesordnung der Sanitaristen. [16] Leibesfülle wird, im Gegensatz zu seriösen physiologischen Befunden, allein als Folge eines undisziplinierten Lebensstils angesehen. Da sie mit gewissen gesundheitlichen Zusatzrisiken einhergeht, wird sie von der WHO nach bewährter Manier schon in sich selbst als Krankheit eingestuft. Auch diese „Krankheit“ wird man demnächst mit Mitteln der Verhältnisprävention zu bekämpfen versuchen. Ein offiziöser Maßnahmenkatalog steht wohl noch aus, doch man kann sich leicht vorstellen, was sich manche Obesitätsbekämpfer längst ausgedacht haben: Verbot fettreicher Nahrungsmittel, Verbot kalorienreicher Speisen, Verbot von Süssigkeiten, Pflichtübungen in körperlicher Bewegung, verbindliche Diätgebote (wie etwa den erzwungenen „Vegetariertag“, den die Grünen unlängst vorgeschlagen haben), spürbare Beförderungszuschläge bei Verkehrsmitteln, Abweisung „übergewichtiger“ Stellenbewerber usw.

Gemeinwohl und Freiheit

Mit einem Wort: Wer gern raucht, gern trinkt und gern isst, der wird in der Besorgnisgesellschaft nur noch geringe Chancen für persönlichen Lebensstil finden. Die Gesundheitsbesessenen und ihre paternalistischen Bevormundungsexperten werden alle, die sich der „Gesundheitspflicht“ mutwillig widersetzen, als asoziale Störenfriede ausgrenzen. Dahinter steht wohl eine Strömung der utilitaristischen Philosophie, die besonders im angelsächsischen Denken ihre Anhänger hat. Geboten ist es dieser Auffassung zufolge, den Durchschnittsnutzen für die Allgemeinheit zu maximieren. Misst man diesen Nutzen allein an der Gesamtzahl vermiedener Erkrankungen, ist er natürlich umso höher, je weniger Menschen erkranken. Dass freilich Erkrankungen allein dadurch zu vermeiden wären, wenn man bestimmte äußere Risikofaktoren aus der Welt schafft, dieser simplen Unterstellung kann nur der anhängen, der noch immer im übervereinfachten mechanistischen Gesundheitsmodell der Schulmedizin befangen ist und nicht wahrhaben will, dass es neben externen Faktoren auch interne Erkrankungsbedingungen wie die genetische Veranlagung und das unvermeidliche Altern gibt.

„Ein paternalistisches Szenarium von verbindlichen und gesellschaftlich angeordneten Gesundheitszielen wäre letztlich gesundheitsschädlich“

Auch besteht das Gemeinwohl natürlich nicht nur darin, medizinisch definierte Krankheiten zu verringern, wie die „Gesundheitspolizey“ meint. Zum Gemeinwohl gehört auch die Garantie, dass die Menschen ihre eigenverantwortliche Urteilsfähigkeit wahrnehmen können. Da aber haben manche nachdenklichen Mitbürger andere Prioritäten als die Illusion ewiger Gesundheit, und ihre Nutzenvorstellungen weichen von der Idee des verordneten Durchschnittsnutzens ab. Wohin rigorose Präventionspolitik führen kann, dass die negativen Gesundheitsutopien von Aldous Huxley und Juli Zeh mit erschreckender Deutlichkeit an die Wand gemalt haben. [17] Die Besorgnisgesellschaft ist mithin auf dem schlimmsten Wege, die Grundsätze der freien demokratischen Gesellschaft auf dem Altar ihrer hysterischen Ängste zu opfern.

Wohl sagt die Medizinethik zu Recht: „Ein paternalistisches Szenarium von verbindlichen und gesellschaftlich angeordneten Gesundheitszielen wäre für eine offene Gesellschaft und einen mündigen Bürger unerträglich, letztlich auch gesundheitsschädlich“. [18] Doch der Besorgnisgesellschaft und ihren Gesundheitsfunktionären ist diese eigentlich selbstverständliche Einsicht offenbar abhandengekommen. Neben Sicherheit und Natur ist die Gesundheit zum überragenden Wert aufgestiegen, der alle anderen Qualitäten des menschlichen Daseins in den Hintergrund drängt. Lebensgenuss, Selbstentfaltung und Freiheit – Werte, um die meine Generation hartnäckig ringen musste – zählen nicht mehr viel. Heute suhlt sich die neue Gartenlaubengeneration in dumpfer Selbstgenügsamkeit, wenn sie sich behütet, naturnah und gesund wähnt. Wen kümmert es da noch, dass diese vermeintliche Idylle genauso trügerisch ist wie jede bürgerliche Ideologie! Um diese Besorgnisgesellschaft muss man in der Tat besorgt sein.


Dieser Artikel ist zuerst in der Novo-Printausgabe (#118 - II/2014) erschienen. Kaufen Sie ein Einzelheft oder werden Sie Abonnent, um die Herausgabe eines wegweisenden Zeitschriftenprojekts zu sichern.

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