24.03.2022

Peinliche Bewunderung für den Mut der Anderen

Von Matthias Heitmann

Titelbild

Foto: Dmitrij Prozenko via Flickr

Marina Ovsyannikova wusste, welches Risiko sie in Russland eingeht. Dass sie aber hierzulande als Ikone der westlich-verlogenen Mutlosigkeit herhalten muss, war ihr sicherlich nicht bewusst.

Seit sie im russischen Fernsehen ein Anti-Kriegs-Plakat hochgehalten hat, wird die Journalistin Marina Ovsyannikova von unserer emotional aufgewühlten Medienlandschaft verehrt – als verzweifelte Kämpferin für Freiheit und Demokratie. Die Öffentlichkeit liebt es, wenn in Krisenzeiten und in anderen Ländern einzelne machtlose, aber mutige Menschen gegen den dortigen Mainstream aufstehen und protestieren. Wir brauchen offenbar solche Ikonen, und wir ergehen uns in Solidaritäts- und mitfühlenden Ohnmachtsbekundungen und vergießen ernstgemeinte Tränen angesichts der Ungerechtigkeit und Unfreiheit in der großen weiten Welt.

Nichts tun wir lieber als weit entfernten Unterdrückten oder Benachteiligten eine Stimme zu geben. Immerhin kostet es uns ja fast nichts, und obendrein färbt es positiv auf die eigene Gefühlslage ab. Und ich bin mir sicher: So manch Journalist*in fühlt sich wieder ein wenig wie damals, als man*frau selbst noch irgendwie oppositionell und „dagegen“ war.

Aber die Zeiten sind ja vorbei. Mittlerweile dominiert die einst so kritische Zeitgeist-Elite die Medienlandschaft. Welchen Zweck soll da „Opposition“ haben? Oppositionell gilt heute als das Gegenteil von progressiv. Leute, die heute dagegen sind, werden tendenziell eher als „rechts“ eingestuft.

„Nichts tun wir lieber als weit entfernten Unterdrückten oder Benachteiligten eine Stimme zu geben.“

Schlimm genug, dass es überhaupt noch Abweichler gibt. Doch wehe, einer von denen wagt hierzulande lautstark gegen die kosmopolitische und aufgeklärt-kultursensible Medienelite zu protestieren! Da wird in wenigen Sekunden aus dem lauen Rückenwind der zur Schau getragenen Toleranz ein eiskalter Sturm der Entrüstung. Und aus dem Vertreter einer Minderheit wird im Handumdrehen ein Querulant, ein gewissenloser und demokratiefeindlicher Querdenker.

Stellen Sie sich einmal vor, Marina Ovsyannikova hätte nicht beim russischen Fernsehen gearbeitet, sondern beim ZDF, und sie hätte vor sechs Monaten die öffentlich-rechtlichen Medien in Deutschland wegen ihrer einseitigen, angstmachenden und autoritätshörigen Corona-Berichterstattung kritisiert. Ich bin mir sicher, sie wäre nicht als Kämpferin für die Meinungsfreiheit umjubelt worden. Im Gegenteil, man hätte ihr vorgeworfen, „rechte“ Narrative zu bedienen, ja, sogar ein Menschen- und Demokratiefeind zu sein.

Es scheint, als interessiert man sich in Deutschland hauptsächlich für das Leid der Anderen. Denn wir können ja dank HDTV so richtig mitfühlen. Was sind dagegen schon verwackelte Handyvideos vom letzten Montagspaziergang? Lieber beobachten wir das Elend aus der Ferne, behalten den Überblick – und den zur Untätigkeit verdammenden Sicherheitsabstand. Das Leid der Welt ist bequemer zu ertragen als die eigene Mitschuld daran.

„Oppositionell gilt heute als das Gegenteil von progressiv. Leute, die heute dagegen sind, werden tendenziell eher als ‚rechts‘ eingestuft.“

Eigene Widersprüche und Versäumnisse anzusprechen, wird hingegen ganz schnell als Nestbeschmutzung empfunden – vor allem, wenn dabei vermeintlich progressive Standpunkte in die Kritik geraten und darauf hingewiesen wird, dass gerade die eigene liebgewonnene Haltung eventuell für das Unheil der Anderen mitverantwortlich sein könnte.

Wenn sich Vladimir Putin heute als Verteidiger des Selbstbestimmungsrechts der Ostukrainer präsentiert, dann sollte man sich bei uns nicht damit begnügen, dies als verlogen darzustellen. Denn tatsächlich hat Deutschland vor 30 Jahren im Umgang mit Slowenien und Kroatien sehr ähnlich argumentiert.

Wenn Putin die Herauslösung der Krim aus der Ukraine damit rechtfertigt, dass dies der Mehrheitswille der dortigen Bevölkerung gewesen sei, dann sollte man sich nicht damit begnügen, diese Aussage zu bezweifeln. Man sollte sich daran erinnern, dass westliche Staaten genau mit diesem Argument – und ebenfalls ohne den „Segen“ der UN – ihre Einmischung im ehemaligen Jugoslawien legitimiert haben.

„Wir sollten endlich damit aufhören, unsere Freiheit als weltweiten Exportschlager zu betrachten. In Wirklichkeit ist sie ein echter Sanierungsfall.“

Wenn Joe Biden Putin jetzt als Kriegsverbrecher bezeichnet, dann sollte man sich die Frage stellen, warum eigentlich US-Präsidenten oder andere westliche Führer nie öffentlich mit diesem Vorwurf konfrontiert werden. Anlässe dafür gab es in den letzten 30 Jahren genug. Fragen Sie mal nach, bei den Menschen in Afghanistan, Irak, Jemen, Libyen, Serbien, Somalia, Syrien.

Anstatt unangenehme, aber wichtige Fragen wie diese zu stellen, feiert man in der deutschen Öffentlichkeit lieber den verzweifelten und ohnmächtigen Protest einzelner Menschen wie Marina Ovsyannikova. So läuft man nicht Gefahr, sich auf die falsche Seite zu stellen. Marina wusste, welches Risiko sie in Russland eingeht. Dass sie aber hierzulande als Ikone der westlich-verlogenen Ohnmacht herhalten muss, war ihr sicherlich nicht bewusst.

Unsere Freiheit wird derzeit in erster Linie von den Menschen in der Ukraine verteidigt. Das bedeutet nicht, dass wir uns nun alle den internationalen Einheiten anschließen müssten, um in der Ukraine Krieg zu führen. Wir sollten aber endlich damit aufhören, unsere Freiheit als weltweiten Exportschlager zu betrachten. In Wirklichkeit ist sie ein echter Sanierungsfall. Lasst uns zumindest ehrlich mit uns sein und uns so der Idee der Freiheit als würdig erweisen, wenn schon andere sie für uns verteidigen.

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