19.05.2025
Neue Hoffnung für die deutsche Energiewende
Von Thilo Spahl
Skandinavien ist mustergültig, Belgien kriegt die Kurve, Osteuropa bleibt stabil. Deutschland kann gerettet werden.
Es sieht so aus, als könnte es mit der deutschen Energiewende doch noch klappen. Unser Ziel ist es bekanntlich, ein möglichst ineffizientes und instabiles Energieversorgungssystem auf Basis von Wind und Sonne aufzubauen – koste es, was es wolle.
Unsere Nachbarn zeigen sich zunehmend entschlossen, uns dabei zu unterstützen. Sie haben sich daran gewöhnt, dass sie uns immer häufiger aushelfen müssen und dass das recht lukrativ sein kann. Da wir immer weniger Kontrolle darüber haben, wann bei uns die himmlischen Kinder wieviel Strom produzieren, wir also mal zu viel haben, den wir dringend loswerden müssen und dafür zu zahlen bereit sind, oft aber auch zu wenig, sodass wir dringend welchen importieren müssen und dafür ordentlich zu zahlen bereit sind, denken sich unsere Nachbarn: Wir bauen unser Energiesystem so aus, dass wir stabil, effizient und kontrolliert Energie zur Verfügung haben. Wir machen einfach das, was die Deutschen nicht auf die Reihe bekommen. Wir bauen die Kernkraft aus.
Skandinavien zeigt, wie es geht.
Einen recht hübschen Strommix haben die Finnen. Fünf Kernreaktoren steuern 33-35 Prozent der Elektrizität bei, Wasserkraft 15-18, Windenergie 12-15 Prozent, Biomasse und Holz 15-20 Prozent. Die fossilen Energieträger spielen mit 5-7 Prozent Kohle und 3-5 Prozent Gas eine untergeordnete Rolle. Außerdem verfeuern die Finnen noch etwas Torf und schließlich kommen auch noch ein bis zwei Prozent Sonnenenergie an den Steckdosen an.
Die Norweger leben bekanntlich im Energieschlaraffenland. Sie erzeugen rund 90 Prozent des Stroms aus Wasserkraft, den Rest hauptsächlich aus Wind. Obwohl schon überall Elektroautos herumfahren, wird rund ein Viertel des Stroms im eigenen Land nicht gebraucht und fließt nach Schweden, nach Großbritannien und zu uns, wo er dreimal so teuer ist wie in seinem Herkunftsland. Nebenbei fördert Norwegen noch so viel Öl und Gas, dass es damit zehnmal so viel Strom erzeugen könnte, wie es selbst benötigt. Da dies nicht erforderlich ist, verwandelt es das ganze Öl und Gas in Geld. So hat das kleine, ökostromversorgte Volk ein schönes Auskommen.
„Seit 2022 hat Schweden seine Kernenergiepolitik radikal verändert: Der Atomausstieg wurde gestoppt, die Laufzeiten bestehender Reaktoren wurden verlängert, und der Bau neuer Reaktoren im großen Stil wurde beschlossen.“
Auch Schweden hat einen Super-Mix: 40-45 Prozent Wasserkraft, 30-35 Prozent Kernenergie, 15-20 Prozent Wind, 5-8 Prozent Biomasse, 1 bis 2 Prozent fossil und etwa 1 Prozent solar. Damit erzeugt das Land ebenfalls einen stabilen Überschuss, der bedarfsgerecht an Finnland, Dänemark und Polen abgegeben wird. Schweden befand sich zunächst auch auf Ausstiegskurs. Zwischen 2015 und 2020 wurden vier Reaktoren stillgelegt, wodurch sich die Kernkraftkapazität um etwa 30 Prozent reduzierte. Der Bau neuer Reaktoren war politisch tabu, und erneuerbare Energien wurden priorisiert. Seit 2022 hat Schweden seine Kernenergiepolitik jedoch radikal verändert: Der Atomausstieg wurde gestoppt, die Laufzeiten bestehender Reaktoren wurden verlängert, und der Bau neuer Reaktoren – inklusive kleiner modularer Reaktoren – im großen Stil beschlossen. Bis 2035 sollen zu den sechs laufenden Reaktoren zwei bis drei hinzukommen, bis 2045 zehn bis zwölf, sofern man von Reaktoren konventioneller Bauart ausgeht. Wenn kleine modulare Reaktoren gebaut werden, entsprechend mehr. Laut Umfragen sind inzwischen mehr als zwei Drittel der Schweden Befürworter der Kernenergie. Schweden strebt eine zügige Elektrifizierung von Industrie, Verkehr und Heizung an und weiß, dass Kernenergie hierfür die beste Option ist.
In Dänemark sieht die Situation etwas anders aus. Man ist hier schon näher an Deutschland. Während der Rest Skandinaviens einen nicht steuerbaren Anteil von unter 20 Prozent hat, der fast ausschließlich aus Windkraft besteht, liegt dieser Anteil bei den Dänen, denen sowohl die Wasserkraft als auch die Kernenergie fehlen, bei 50 bis 55 Prozent. Der Rest stammt aus Biomasse sowie aus Kohle und Gas. Rein zahlenmäßig haben sie damit ein ähnliches Problem wie wir. Allerdings ist Dänemark ein kleines Land mit weniger als acht Prozent des deutschen Strombedarfs. Es kann also darauf zählen, dass seine Nachbarn mit ihrem gut steuerbaren System und ihren Überkapazitäten gut einspringen können, wenn Flaute herrscht.
„Die Dänen sind offenbar lernfähig und inzwischen auf den Trichter gekommen, dass Kernenergie ihr System deutlich stabiler und steuerbarer machen könnte.“
Die Dänen sind unser wichtigster Konkurrent im Kampf um den Spitzenplatz bei den Strompreisen. Mit ihrem kleinen, industriearmen und windreichen Land sind sie seit langem ein Symbol für den Glauben an die Machbarkeit einer Energieversorgung auf Basis von Windrädern. Seit 1985 ist Atomkraft hier verboten.
Aber die Dänen sind offenbar lernfähig und inzwischen auf den Trichter gekommen, dass Kernenergie ihr System deutlich stabiler und steuerbarer machen könnte. Zwar hat das Kopenhagener Parlament kürzlich die von der Rechts-Opposition geforderte sofortige Aufhebung des Atomkraftverbots noch abgelehnt. Aber die Regierungsmehrheit stimmte der „Prüfung von Potentialen, Möglichkeiten und Risiken“ zu, was allgemein als Vorbereitung des Einstiegs in die Kernenergie gewertet wird. Die sozialdemokratische Regierungschefin Mette Frederiksen erklärt den Schwenk ihrer Partei so: „Wir sollten das mit offenen Augen angehen. Es ist besser, Atomkraft in Europa zu haben als von russischem Gas abhängig zu sein.“ Vizepremier Troels Lund Poulsen von Venstre, der liberalen Partei, freut sich auf „die neuen Reaktortypen, die uns billige, CO₂-neutrale Energie liefern können.“
Nebenbei gibt es sogar ambitionierte Nuklear-Startups in Dänemark. Saltfoss Energy aus Kopenhagen arbeitet mit koreanischen Partnern an einem schwimmenden Salzschmelzreaktor. Copenhagen Atomics will eine Gigafactory für kleine modulare Thorium-Reaktoren bauen, die einen Reaktor pro Tag fertigstellen soll.
Belgien kriegt die Kurve.
So viel zu unseren nördlichen Nachbarn. Blicken wir nach Westen, sieht es dort ähnlich aus.
Belgien macht den Atomausstieg rückgängig. Eigentlich sollten die vier verbleibenden Reaktoren in Belgien noch dieses Jahr abgeschaltet werden. Das Nationalparlament in Brüssel stimmte jedoch letzte Woche mit deutlicher Mehrheit für ein Gesetz der Regierung unter Bart De Wever, mit dem die Laufzeiten der bestehenden Atomreaktoren verlängert werden sollen. Zusätzlich soll der Staat weitere Reaktoren in Auftrag geben. Energieminister Bihet sagt dazu: „Die Anti-Atom-Ideologie ist an der Realität gescheitert.“
Derzeit sind vier Reaktoren in Belgien in Betrieb: zwei im Kraftwerk Doel an der niederländischen Grenze und zwei im AKW Tihange bei Lüttich, rund 50 Kilometer Luftlinie von der deutschen Grenze entfernt. Schon die Vorgängerregierung hatte eine Laufzeitverlängerung für die Reaktoren Tihange 3 und Doel 4 beschlossen, die beide seit 1985 in Betrieb sind. Der französische Energiekonzern Engie sagte im März zu, beide Reaktoren für die kommenden zehn Jahre weiter zu betreiben.
Die beiden übrigen Reaktoren Tihange 1 und Doel 2 sind seit knapp 50 Jahren in Betrieb und sollten eigentlich zum Jahresende abgeschaltet werden. Das nun verabschiedete Gesetz macht einen Weiterbetrieb rechtlich möglich.
Auch in den Niederlanden hat man umgedacht. Die Holländer haben bisher nur einen kommerziellen Kernreaktor, der von Siemens gebaut wurde und seit 1973 läuft. 2022 wurde eine Laufzeitverlängerung bis 2040 und ggf. darüber hinaus beschlossen. Laut Beschluss vom März 2024 sollen bis 2040 vier neue große Reaktoren hinzukommen. Zudem gibt es eine ganze Reihe von Projekten im Bereich kleiner Reaktoren.
Im Oktober 2024 vereinbarten die Niederlande und Frankreich eine enge Zusammenarbeit beim Ausbau der Kernenergie, die die Bereiche Forschung, Ausbildung, nukleare Entsorgung und Rückbau umfasst.
Womit wir bei Frankreich sind.
Frankreich ist bekanntlich das Musterland für Dekarbonisierung durch Kernenergie. In den 1970er und 1980er Jahren wurden zwei bis drei Reaktoren pro Jahr fertiggestellt und so innerhalb von 17 Jahren 54 der aktuell 57 Reaktoren in Betrieb genommen. Die Kernenergie ersetzte vor allem Kohle- und Ölkraftwerke, wodurch sich der CO₂-Ausstoß des Stromsektors um geschätzte 80 bis 90 Prozent reduzierte. Aktuell plant Frankreich den Zubau von sechs großen Reaktoren in den 2030er Jahren sowie einer unbestimmten Anzahl kleiner Reaktoren.
„Ähnlich wie in Dänemark wird in Italien der Ausstieg aus dem Ausstieg vorbereitet.“
Auch im Süden tut sich etwas. Ähnlich wie in Dänemark wird in Italien der Ausstieg aus dem Ausstieg vorbereitet. Das Land hatte schon vor 35 Jahren den letzten seiner vier Reaktoren stillgelegt. Nun sieht man die Zeit für den Wiedereinstieg gekommen. Am 14. Mai 2025 haben die drei Unternehmen Enel, Ansaldo Energia und Leonardo das Forschungsunternehmen Nuclitalia gegründet, um eine neue Generation von Technologien zu erforschen und deren Marktchancen analysieren.
Polen hat große Pläne
Auch in Osteuropa denkt man nicht an einen Ausstieg. Rumänien will das Kernkraftwerk Cernavodă um zwei neue Reaktoren erweitern. Die Slowakei hat einen Anteil von 62 Prozent Kernenergie und plant neue Reaktoren am Standort Mochovce. Slowenien kommt auf etwa 37 Prozent Kernenergie und wird einen zweiten Reaktor am Kraftwerk Krško bauen, das es gemeinsam mit Kroatien betreibt. Tschechien verfolgt seit 2019 eine klare Politik zur Stärkung der Kernenergie. Zu den sechs bestehenden Reaktoren sollen weitere hinzukommen, um den Kernkraftanteil auf über 50 Prozent zu erhöhen. In Ungarn liefern derzeit vier Reaktoren, deren Laufzeit jeweils um 20 Jahre verlängert wurde, 50 Prozent des Stroms. Um diese Quote bei wachsendem Strombedarf zu halten, sollen zwei weitere hinzukommen. Bulgarien hat einen Kernkraftanteil von rund 40 Prozent. Nach dem neuen Atomgesetz gibt es für die bestehenden Kraftwerke unbefristete Betriebsgenehmigungen mit regelmäßigen Sicherheitsüberprüfungen. Zudem plant das Land den Ausbau des Kernkraftwerks Kozloduy mit zwei neuen Reaktoren des Typs AP1000.
Ganz ohne Kernenergie ausgekommen ist bisher das Kohleland Polen. Doch das soll sich nun zügig ändern. Der Startschuss erfolgte, als Ende 2022 die polnische Regierung bekanntgab, das US-Unternehmen Westinghouse für den Bau von sechs AP1000-Druckwasserreaktoren der Generation III+ mit einer Gesamtkapazität von 6 bis 9 GW ausgewählt zu haben. Hinzukommen sollen bis zu sechs der noch größeren koreanischen APR-1400-Reaktoren. Zudem gibt es eine Vielzahl von Projekten im Bereich kleiner modularer Reaktoren sowie Mikroreaktoren.
Deutschland bleibt standhaft
Und wie sieht es bei uns aus? Vor zwei Jahren wurden die letzten Kernreaktoren in Deutschland vom Netz genommen. Am 15. April 2023 schalteten die Betreiber die AKWs Isar 2 in Bayern, Emsland in Niedersachsen und Neckarwestheim 2 in Baden-Württemberg ab.
Im Wahlkampf tönte die CDU noch, eine Reaktivierung der Meiler sei „jederzeit möglich”. „Wir halten an der Option Kernenergie fest”, hieß es im Wahlprogramm. Nach der Wahl blieb davon allerdings nichts übrig. Der Koalitionsvertrag erwähnt Kernenergie mit keinem Wort und enthält keine Pläne für einen Wiedereinstieg oder die Reaktivierung stillgelegter Kernkraftwerke. Es wird lediglich von Kernfusion geträumt.
Die neue Ministerin für Wirtschaft und Energie, Katherina Reiche, schließt eine Rückkehr zur Kernenergie aus: „Der Ausstieg ist vollzogen.“ Der Wiedereinstieg würde nicht nur Geld erfordern, sondern auch nicht mehr vorhandenes Vertrauen der Unternehmen, die das machen sollten. Hinzu komme, dass es nach wie vor schwierig sei, in Deutschland für die Kernenergie einen gesellschaftlichen Konsens hinzubekommen. Die Chance für eine Rückkehr zur Atomkraft sei in der Energiekrise vertan worden. „Wir müssen mit der Situation jetzt leben“, so Reiche.
Aber hurra, wir sind Vorbild. Auch Spanien bleibt auf Blackout-Kurs. Das Land ist aktuell noch der zweitgrößte Produzent von Kernenergie in der EU, will aber bis 2035 aus der Atomkraft aussteigen.
Na ja, es bleiben immerhin noch zehn Jahre, sich eines Besseren zu besinnen. Beim Blick auf die Landkarte und auf das Ereignis am 28. April müsste selbst die dümmste Regierung leicht erkennen, dass die iberische Halbinsel nicht wie Deutschland von anderen Ländern umgeben ist, die den Zusammenbruch des Stromnetzes im Notfall verhindern können.