02.05.2025
Nationalismus als Grundlage demokratischer Solidarität
Von Frank Furedi
Der Nationalstaat kehrt zurück, aber der Nationalismus wartet weiter auf seine Rehabilitierung.
Zumindest vordergründig scheint die Demontage der Globalisierungsideologie mit der Rückkehr des Nationalstaates einherzugehen. Das unverhohlene Bekenntnis zu MAGA in den USA verdeutlicht die Verschiebung des Gleichgewichts von einer globalisierten und kosmopolitischen Vorstellung der Weltordnung hin zu einer selbstbewussten Verfolgung nationaler Interessen.
Die Rückkehr des Nationalstaates als Hauptakteur bei der Regelung globaler Angelegenheiten – zumindest im Westen – ging jedoch nicht mit der Entstehung eines starken Nationalbewusstseins einher. Der Nationalismus als treibende Kraft ist nach wie vor relativ schwach und wartet als Ideologie noch auf seine Rehabilitierung. In den meisten Teilen Westeuropas zögern beispielsweise selbst Konservative, sich als Nationalisten zu bezeichnen. In ihren Augen hat Nationalismus einen so schlechten Beigeschmack, dass sie fürchten, diskreditiert zu werden, wenn sie sich mit ihm identifizieren.
Obwohl in vielen Kommentaren immer wieder vor der Rückkehr eines fremdenfeindlichen Nationalismus gewarnt wird, ist das Verhältnis der Menschen zu ihrem Heimatland in der Realität eher von einer pragmatischen, selbstverständlichen Identität geprägt. Meinungsumfragen zeigen, dass ein großer Teil der europäischen Gesellschaft nicht bereit wäre, zur Verteidigung der eigenen Nation gegen einen Angriff einer fremden Macht zu kämpfen.
Es ist verständlich, dass der heutige Nationalismus im Vergleich zu seinen historischen Vorläufern bis zur Bedeutungslosigkeit verblasst. Er wurde lange Zeit systematisch als eine Kraft des Bösen dämonisiert. Seit der Zwischenkriegszeit und insbesondere seit dem Zweiten Weltkrieg ist Nationalismus zutiefst negativ besetzt. In der wissenschaftlichen Literatur wurde der Nationalismus häufig in die Rolle einer säkularen Erbsünde gedrängt. Bis heute spielt die Pathologisierung des Nationalismus eine zentrale Rolle im vorherrschenden antipopulistischen Diskurs. In diesem Narrativ gilt Nationalgefühl als veraltetes, gefährliches und irrationales Vorurteil. Diese Darstellung des Nationalbewusstseins ist in der Kultur der Eliten weit verbreitet und wird dort als Bigotterie des einfachen Volkes verspottet. Die antipopulistische Ideologie weist immer wieder darauf hin, dass diese engstirnige Sensibilität, wenn sie geweckt wird, unweigerlich schädliche Folgen haben werde. Im zeitgenössischen westlichen politischen Diskurs haben der Nationalismus und die mit ihm verbundenen Begriffe – nationale Zugehörigkeit, nationale Identität, nationale Gefühle – die Art von negativen Eigenschaften angenommen, die normalerweise zu einer moralischen Verurteilung führen.
„Bis heute spielt die Pathologisierung des Nationalismus eine zentrale Rolle im vorherrschenden antipopulistischen Diskurs.“
Der Aufstieg des Nationalsozialismus, die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und der Holocaust werden oft als unvermeidliche Folge nationalistischer Rivalitäten und Ideologien gesehen. Aus dieser Perspektive wird die nationale Zugehörigkeit als kulturelle Ressource interpretiert, die gefährlich ist, weil sie für ausgrenzende und rassistische Ziele mobilisiert werden kann. Aus diesem Grund verlor die klassische Unterscheidung zwischen Patriotismus, Identifikation mit der Nation, republikanischem, bürgerlichem, kulturellem, religiösem und rassischem Nationalismus in der Praxis an Bedeutung. Nach diesem teleologischen Verständnis von Nationalismus kristallisierte sich das, was im 19. Jahrhundert zunächst als unschuldiger Ausdruck nationaler Identität und Loyalität erschien, unweigerlich zu einer bedrohlichen politischen Ideologie heraus, deren barbarischste Ausprägung der Nationalsozialismus war.
In der vereinfachten Version der Tragödie, die in den 1930er und 1940er Jahren über die Welt hereinbrach, wird der Nationalismus fast allein für die Katastrophe verantwortlich gemacht, die die Welt zwischen 1939 und 1945 erschütterte. Die Tendenz, nationale Bindungen nicht nur als potenziell gefährlich, sondern als inhärente Bedrohung der globalen Sicherheit darzustellen, gewann in den 1930er Jahren an Dynamik und wurde in den 1940er Jahren zu einer unumstößlichen Wahrheit. Diese Stimmung wurde 1943 in einem Kommentar in Foreign Affairs aufgegriffen, in dem es hieß, dass „das Wort [...] [Nationalismus] [...] heute als Synonym für den vulgärsten Rassismus stegt“. Und weiter: „Das Werk dieses Ungeheuers hatte seinen Höhepunkt in zwei Weltkriegen und dreißig Millionen Toten.“1
In den 1940er Jahren erkannten einige Kritiker des Nationalismus noch an, dass nationale Gefühle und Loyalitäten an sich nicht schädlich sind. 1944 schrieb Frederick Herz in seinem Buch „Nationality in History and Politics", dass „nur wenige den Nationalismus in Bausch und Bogen verdammen würden“. Er fügte hinzu, dass „der englische Sprachgebrauch den Nationalismus mit dem Nationalgefühl identifiziert, und dass die vollständige Beseitigung dieses Gefühls weithin beklagt und bekämpft würde“2. Herz war zutiefst beunruhigt über das Phänomen des Nationalismus und bemerkte, dass es „nicht mehr möglich“ sei, „die Grenze zwischen nützlichem und schädlichem Nationalismus zu bestimmen“3. Seine Verwendung des Wortes „nützlich“ deutet jedoch darauf hin, dass er immer noch die Möglichkeit in Betracht zog, dass Nationalismus nicht immer schädlich sein muss. Die Bereitschaft eines Herz, das Nationalgefühl zumindest als neutrale, wenn nicht sogar positive Kraft darzustellen, wich jedoch allmählich einer eher negativen Bewertung dieses Gefühls.
In den 1960er Jahren wurde der Nationalismus in vielen Darstellungen als unerwünschte irrationale Pathologie behandelt. Einige Theoretiker stellten das Wesen des Nationalismus und nationaler Gefühle in Frage und bezeichneten diejenigen, die an solchen Vorurteilen festhielten, als minderwertige Menschen. Der tschechisch-amerikanische politische Theoretiker Karl Deutsch konnte in seinem Buch „Der Nationalismus und seine Alternativen" seine Verachtung für diejenigen, die an Nationalgefühl festhielten, kaum verbergen. „Eine Nation, so ein europäisches Sprichwort, ist eine Gruppe von Menschen, die durch einen gemeinsamen Irrtum hinsichtlich ihrer Abstammung und eine gemeinsame Abneigung gegen ihre Nachbarn geeint ist"4, schrieb er.
„Heute wird sogar die Legitimität des Nationalstaates in Frage gestellt. Grenzen werden oft als etwas von vornherein Ausgrenzendes und Böses angeprangert.“
Heute wird sogar die Legitimität des Nationalstaates in Frage gestellt. Grenzen werden oft als etwas von vornherein Ausgrenzendes und Böses angeprangert. Dieses Gefühl hat nach dem Zweiten Weltkrieg einen dominierenden Einfluss auf die westliche Intelligenz gewonnen. Wie Johanna Möhring und Gwythian Prins feststellen, hat sich seit 1945 über zwei Generationen von Intellektuellen hinweg ein Narrativ in den internationalen Angelegenheiten durchgesetzt, in dem der Nationalstaat als etwas von Natur aus Pathologisches gilt"5. Solche Ansichten haben viele Befürworter der Europäischen Union dazu verleitet, nationale Gefühle als Ausdruck primitiver Bindungen zu betrachten, die in einer modernen Gesellschaft per definitionem keine positive Rolle spielen können.
Bis vor kurzem beherrschte die kosmopolitische Verachtung der Nation, die von der globalistischen Elite verbreitet wurde, das öffentliche Leben. Die Feindseligkeit der Globalisten gegenüber Grenzen und der Nation ging einher mit einer tiefen Verachtung für diejenigen, die ernsthaft an diesen Grenzen festhielten. Sie wurden ausnahmslos als engstirnige, bornierte Fremdenfeinde abgestempelt, deren Unsicherheit sie dazu zwinge, sich in ihre Nationalflagge zu hüllen. „Populisten, Nationalisten, dumme Nationalisten, sie sind in ihr eigenes Land verliebt", amüsierte sich Jean-Claude Juncker, der damalige Präsident der Europäischen Kommission, im Mai 2019. Junckers Unverständnis darüber, wie jemand sein Land lieben kann, war zweifellos die aufrichtige Reaktion von jemandem, der spontane Loyalitäten gegenüber einer Gemeinschaft und den sie umgebenden Grenzen für ein lästiges Merkmal des Lebens hält.
Rückblickend lässt sich feststellen, dass die Kriminalisierung des Nationalbewusstseins und des Nationalismus bei der Beeinflussung des Gesellschaftsbildes bemerkenswert erfolgreich war. Von Kindheit an wurde den Menschen beigebracht, sich vor der „nationalistischen Versuchung“ zu hüten, und die Bildungseinrichtungen förderten systematisch die Entnationalisierung der Identität. Das Ergebnis dieses Indoktrinationsprogramms war, dass die Identifikation der Menschen mit ihrer Nation geschwächt und viele der mit dem Nationalbewusstsein verbundenen Werte untergraben wurden.
„Nationalismus ist untrennbar mit Demokratie verbunden, und die Nation ist die einzige Grundlage, auf der Demokratie gedeihen kann.“
Nehmen wir als Beispiel die Vergangenheit einer Nation. Es ist allgemein bekannt, dass „der Nationalismus die Linse ist, durch die die Vergangenheit Sinn erhält“6. Wie ich an anderer Stelle geschrieben habe, ist die Vergangenheit, insbesondere die Geschichte der Nation, in eine Geschichte der Schande verwandelt worden. In meinem Buch „The War Against The Past: Why the West Must Fight For its History" („Der Krieg gegen die Vergangenheit. Warum der Westen um seine Geschichte kämpfen muss") erläutere ich, dass das Programm, die Gesellschaft von ihrer Vergangenheit zu trennen, die Bindung der Menschen an ihre Nation und ihr Zugehörigkeitsgefühl untergräbt.7
Der Krieg gegen die Vergangenheit spielt eine wichtige Rolle bei der Schwächung des nationalen Zusammengehörigkeitsgefühls und der Identifikation mit der eigenen Nation. Damit sind auch alle wichtigen Werte geschwächt worden, die den Nationalismus als starke Antriebskraft stützen – Loyalität, Pflichtbewusstsein, Mut. Ob der Nationalismus im Westen wieder zu einer starken mobilisierenden Kraft werden kann, hängt davon ab, ob es gelingt, an die Vergangenheit anzuknüpfen, damit die Werte Loyalität und Pflichtbewusstsein ihre Bedeutung für die heutige Gesellschaft behalten.
Wir müssen die Chance nutzen, die uns die Rückkehr des Nationalstaats bietet, um den Nationalismus zu rehabilitieren. Warum? Weil der Nationalismus den Menschen die Möglichkeit bietet, die Art von motivierender Solidarität zu begründen, die die fragmentierte Existenz, die eine Welt der Entfremdung bietet, zu überwinden vermag. Nationalismus ist untrennbar mit Demokratie verbunden, und die Nation ist die einzige Grundlage, auf der Demokratie gedeihen kann.